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Heidi Lackner

Heidi Lackner

Das Rucksack-Prinzip

| Roman Scheiber |

Das ORF-Format „Am Schauplatz“ stellt Welten vor, mit denen man sonst wenig in Berührung kommt. Redakteurin Heidi Lackner über das Spannende an der Sozialreportage.

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Heidi Lackner, geboren 1970 in Wels, stieß Ende 1999 zu Christian Schüllers Am Schauplatz-Team. Davor arbeitete sie neun Jahre als Innenpolitik-Printjournalistin, u. a. bei den Oberösterreichischen Nachrichten, bei Falter und Format. Sie studierte Philosophie und Politik (nicht fertig) und unterrichtet an der Donauuniversität Krems. Ihr großer Traum, den sie sich wahrscheinlich fürs nächste Leben aufhebt, ist, Malerin zu werden. Was sie sich noch für dieses Leben vorstellen könnte, ist, einmal einen kinotauglichen Film zu drehen, „drei Jahre Zeit und 50 Drehtage“ vorausgesetzt. Sich selbst bezeichnet sie als „große Freundin der Langzeitbeobachtung“. Lackner ist mit einem Software-Unternehmer liiert und derzeit wegen der gemeinsamen einjährigen Tochter Mattea (Rufname: Frau Direktor) in Karenz. Das Interview fand in ihrer Wohnung in der Nähe des Wiener Praters statt.

Man weiß, dass die Regierung immer wieder gern bei den Informationsformaten des ORF interveniert. Ist es der Redaktion von Am Schauplatz auch schon so gegangen?
Heidi Lackner:
Nein – was möglicherweise daran liegt, dass Politik bei uns selten vorkommt. Ein einziges Mal ist eine Sendung von mir verschoben worden, das hat der ORF beschlossen. Es ging dabei um kleine FPÖ-Funktionäre. Blauer Blues war vor der Nationalratswahl programmiert, wurde dann aber erst am Dienstag danach gesendet – aus dem berechtigten Grund, dass sonst alle anderen Parteien auch noch vor der Wahl im gleichen Maß Sendezeit verlangen hätten können. Der berühmte Äquidistanzgrundsatz.

Die Hauptfigur dieser Sendung war der Kurzzeit-FPÖ-Vize Max Walch.
Heidi Lackner: Das war ein Glücksfall, dass der im Lauf der Dreharbeiten, in Zeiten der häufig wechselnden FPÖ-Spitze, nach oben gespült wurde. Als ich ihn kennen gelernt hatte, war er ja noch ein kleiner Bezirksfunktionär und blauer Gewerkschafter, der gerade die AK-Wahlen verloren hatte.

Du hast früher als innenpolitische Print-Journalistin gearbeitet. Welche anderen Gesetze hat das Fernsehformat Sozial-reportage?
Heidi Lackner: Alles ist viel weniger verklausuliert und viel direkter. Nach neun Jahren im Politikjournalismus hatte ich eine komische Sehnsucht danach, dass die Menschen endlich das sagen, was sie denken. Nicht immer nur Message – Politikmarketing-sprech mit Kalkül dahinter –, sondern ehrliche Antworten. Das gefällt mir, und es kommt auch beim Publikum besser an, andererseits geht ein gewisser Schutz für dich selbst verloren.

Inwiefern?
Heidi Lackner: Du hast es bei so einer Reportage sehr oft mit Menschen zu tun, die sich des Mediums und seiner Wirkung nicht bewusst sind, und mit einsamen Menschen. Dann kommst du und interessierst dich für sie. Viele verwechseln mein professio-nelles Interesse an ihrer Person mit persönlichem Interesse. Da gibt es dann Menschen – wir nennen das intern den „Rucksack“ –, die dir nachhängen, die du hinterher betreust, denen du eine Wohnung beschaffst, die dich anrufen, und die glauben, dass du mit ihnen befreundet bist. Der Herr Vranitzky hat nach einem höflichen Interview mit mir halt nicht geglaubt, dass ich seine Freundin bin.

Hat sich das „Rucksack“-Prinzip bei dir in dauerhaften Kontakten niedergeschlagen?
Heidi Lackner: Es gibt Leute, mit denen man in Kontakt bleibt. Zum Beispiel: Der Schwarzenberg-Enkel – aus einer Sendung über Adelige, die ihre Schlösser in Tschechien zurück habenwollen –  hat mir unlängst eine Einladung zu seiner Fotoausstellung geschickt. Von einer sympathischen Familie aus der Sendung Ausgesiedelt höre ich immer wieder, da gibt es auch Briefkontakt. Ich mag ihre gerade Art und ihren Optimismus.

Was ist für dich das Spannende an der Sozialreportage?
Heidi Lackner: Es gibt diesen pathetischen Satz: In jedem Sandkorn steckt ein Universum. Ich habe das Gefühl, in jedem Menschen stecken alle Fragen drin, die alle beschäftigen. Ob in einem Sandler oder in Graf Waldstein, den ich übrigens trotz seiner traditionalistischen bis reaktionären Ansichten sehr nett fand. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, warum sind wir einsam, wer liebt mich, wie ist das mit dem Sterben und wie füllen wir unser Leben aus. Diese metaphysischen Grundfragen schwingen auch in der Kunst immer mit, bei uns sind sie halt „angreifbarer“. Wenn du der Bäuerin am Feld ihre Gedanken dazu herauskitzelst, wird das auch für andere interessant. In unserer Redaktion gibt es sehr unterschiedliche Schwerpunkte, mich persönlich interessiert am meisten die Psychologie.

Liegt nicht dennoch ein Fokus eurer Arbeit auf Menschen, die es über diese universellen Probleme hinaus noch extra schwer haben?
Heidi Lackner: Eine Grundlinie der Sendung ist das Vorstellen von Welten, mit denen man sonst wenig in Berührung kommt. Das müssen nicht immer Minoritäten oder Benachteiligte sein. Indem man den kleinsten gemeinsamen Nenner zeigt, weckt man auch Verständnis. Also zeigen wir nicht nur soziales Elend und Figuren, die Statistiken illustrieren, sondern lassen die Menschen über ihre Träume reden und schaffen Anknüpfungspunkte für das Publikum daheim.

Kannst du mit der Arbeit Toni Spiras oder mit der Ulrich Seidls mehr anfangen?
Heidi Lackner: Ulrich Seidl – das ist Kunst mit Darstellern aus dem richtigen Leben. Er verfolgt so ein Prinzip der inszenierten Eskalation. Was ich an seiner Arbeit großartig finde, sind die statischen Bilder, wo die Menschen wie Tiger im Käfig hin- und herlaufen. Eine Sendung wie die Alltagsgeschichten der Frau Spira hat wahrscheinlich auch ihre Berechtigung, aber ich würde sie nicht machen wollen, weil sie für mich von einer pessimistischen Einstellung getragen ist, wie die Österreicher so sind.

Letzteres wird Ulrich Seidl auch öfter nachgesagt.
Heidi Lackner: Der überhöht und spitzt zu, dadurch bekommen seine Filme ein reflexives Moment. Außerdem sind sie ja nicht Unterhaltung für die Massen, sondern spielen sich im Kino und damit in einem Zuschauerumfeld ab, wo eine ganz andere Wirkung erzeugt wird.

Würde es dich selbst reizen, Zeit und Geld vorausgesetzt, einen Kinofilm zu machen?
Heidi Lackner: Ich bin eine große Freundin der Langzeitbeobachtung. Davon träume ich schon, einmal unbegrenzt Zeit für einen Film zu haben. Zum Beispiel anlässlich einer Sendung über türkische Mädchen in Wien, die nach ziemlich patriarchaler Familien-tradition leben: zu schauen, was wird aus denen, was wird aus der Ehe der einen, wo ich den Eindruck hatte, da steckt von Anfang an der Hund drin. Fünfzig statt fünf Drehtage und drei Jahre Zeit, dann glaube ich schon, es könnte etwas Kinotaugliches dabei heraus schauen.

Gibt beim Schauplatz auch so etwas wie Quotendruck?
Heidi Lackner: Natürlich muss auch der Schauplatz Quoten bringen – dass wir dem öffentlich-rechtlichen Auftrag entsprechen, also vielleicht auch mitunter als Feigenblatt dienen, heißt nicht, dass für uns andere Messlatten gelten. Zum Glück gibt es mittlerweile eine große konstante Sehergemeinde, die sich das einfach gern anschaut. Natürlich gibt es auch Faustregeln, was die Seher interessiert: vor allem inländische Themen mit Entrüstungspotenzial. Zum Beispiel habe ich zwei Geschichten über Hauseigentümer gemacht, die an miserabel untergebrachten Flüchtlingen verdienen. Generell schockieren die Menschen in Österreich schlechte Wohnumstände, da schauen sie schon hin. Was mich eher überrascht hat, war, dass sich unglaublich viele eine Sendung über den Skihüttenwahnsinn in Ischgl angeschaut haben – eine Sendung, die mich gar nicht so interessiert hat.

Welche Art von Menschen sind dir, jetzt einmal vom Arbeitsprozess her betrachtet, sozusagen die liebsten Kunden?
Heidi Lackner: Einfache, ältere Menschen. Die alte tschechische Oma am Bauernhof, die sich als Sudetendeutsche entpuppt, erzählt nach fünf Minuten so aus ihrem Leben, dass du an ihren Lippen hängst. Viel schwieriger ist es mit jungen, medial gebildeten Leuten. Bei denen hast du oft das Problem, dass sie sich selbst beim Sprechen zuhören, sich für die Kamera verstellen und du an einem ganzen Drehtag einfach keine natürlichen Bilder zustande kriegst.

Anders Am Schauplatz Gericht, weil beim Streiten kann man sich nicht verstellen.
Heidi Lackner: Ja, es ist wirklich erstaunlich, wie schnell die Leute ins Streiten geraten. Und über welch nichtige Dinge sie streiten. Das Spannende daran ist, dass der Gang zum Anwalt oder die Androhung einer Klage eigentlich oft nichts anderes ist als „Ich sag‘s meiner Mama“ auf einem anderen Niveau. Nur dass die Anwaltskosten schon einmal ein halbes Haus ausmachen. Und gestritten hat man über einen Steinhaufen. Die Sendung zeigt sehr schön, wie weit einen Emotionen treiben können, das finde ich psychologisch interessant.

Was schaust du selbst gern im Fernsehen?
Heidi Lackner: Politisches, wie das ORF-Weltjournal, historische Dokumentationen auf arte. Und ich schau gern Fiction. Aber derzeit, wenn ich daheim bin und mich um meine Tochter kümmere, höre ich lieber Radio. Ö1 den ganzen Tag, rauf und runter.

Welchen Kinofilm hast du zuletzt gesehen?
Heidi Lackner: Capote, weil ich ein Fan von ihm bin. Im Grunde ist In Cold Blood so etwas wie ein großes Schauplatz-Projekt, zumindest von der Herangehensweise und Recherche. Aber so großartig das Buch ist, der Film war für mich ein Reinfall: Platt, langweilig, schrecklich einfallslose Kamera, schrecklich einfallsloser Schnitt.

Und welchen Kinofilm siehst du als nächsten?
Heidi Lackner: No Name City interessiert mich.

Florian Flickers Film über eine Westernstadt in Niederösterreich. Auch so ein Schauplatz.
Heidi Lackner: Habe ich auch gehört. Nur dass ich halt deutlich weniger Drehzeit hätte, weil ich als ORF-Journalistin nicht zu diesen bewunderungswürdigen Selbstausbeutern gehöre.