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Slumdog Millionaire

Slumdog Millionaire

Geld und/oder Leben

| Daniel Wisser |
Danny Boyles Film „Slumdog Millionaire“ räumt vier Golden Globes und acht Oscars ab und erhitzt in Indien die Gemüter.

20 Millionen indische Rupien entsprechen etwas mehr als 300.000 Euro. Diese Summe gewinnt der junge Jamal Malik, der in den Slums von Mumbai aufgewachsen ist, in Danny Boyles neuem Film Slumdog Millionaire bei der Quizsendung Who Wants to Be a Millionaire. Diese Sendung gibt es tatsächlich: Sie heißt Kaun Banega Crorepati (übersetzt: Wer wird Millionär), und ihr erster Moderator war Bollywood-Legende Amitabh Bachchan; heute ist es der Film-Superstar Shah Rukh Khan.

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Aber Slumdog Millionaire – die Verfilmung des Romans Q & A des indischen Schriftstellers Vikas Swarup – dreht sich nicht etwa um die Frage, was der Gewinner mit der Geldsumme macht, sondern wie es einem jungen Mann, der in den Slums aufgewachsen ist, möglich ist, alle Fragen des Quiz korrekt zu beantworten. Bezeichnenderweise kümmert sich die indische Polizei um dieses Problem. Jamals lapidare Auskunft: Er habe eben alle Antworten gewusst. In vielen Rückblenden erzählt der Film nun nicht nur, wie Jamal Malik zu den anscheinend nutzlosen Informationen gekommen ist, die ihm später seinen Gewinn bescheren sollten, sondern auch seine Lebensgeschichte.

Dabei inszeniert Danny Boyle, wie man es von seinen früheren Filmen (Trainspotting u.a.) her kennt, das Elend der Slums und die Absurdität des sozialen Gefälles der indischen Metropole mit sehr drastischen und zum Teil zynischen (aber auch sehr konstruierten) Bildern. In einer Szene wird im Slum die Ankunft des Kino-Stars Amitabh Bachchan in einem Hubschrauber erwartet. Jamal hat aus einer Zeitschrift ein Bild von Amitabh ausgeschnitten, damit ihm der Star darauf ein Autogramm geben kann. Kurz vor der Ankunft des Hubschraubers wird Jamal von seinem Bruder Salim in einem Plumpsklo eingesperrt. Der Hubschrauber landet bereits, und es gibt nur noch einen Weg: Jamal springt in die Jauchengrube und verlässt das Klo von unten. Ein völlig mit menschlichem Kot bedeckter Jamal drängt sich nun mit Leichtigkeit durch die Menge und erhält sofort ein Autogramm vom Superstar.

Natürlich bleiben heftige Reaktionen nicht aus, wenn ein britischer Regisseur ein Indien porträtiert, in dem ein Kinostar (also ein Reicher) einem mit Scheiße bedeckten Slum-Jungen ein Autogramm gibt. Die Scheiße, der Dreck, das Elend der Slums wird als hausgemachtes, als genuin indisches Problem gesehen. Die globalisierte Welt hingegen wird als allgemeingültig hingestellt. Slumdog Millionaire regt auf – im positiven wie im negativen Sinne. Schon im September 2008 wurde der Film beim Toronto International Film Festival begeistert aufgenommen. Nachdem er vier Golden Globes erhalten hatte, wurde er mit einem Schlag weltbekannt. In Indien herrscht einerseits Aufregung darüber, dass ein indischer Film erstmals mit Oscars ausgezeichnet werden könnte, während andere behaupten, es handle sich bei Slumdog Millionaire nicht um einen indischen Film. In Europa und Amerika fragt man sich, ob es sich bei dem Film um ein Märchen oder eine Groteske mit realistischem Hintergrund handelt und wie die Darstellung Indiens als Entwicklungsland und gleichzeitig als Schwellenland zu bewerten ist.

Slumdog Millionaire kommt genau zur rechten Zeit – und der Film entfacht ganz ähnliche Diskussionen wie erst kürzlich der mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnete Roman The White Tiger (2008) von Aravind Adiga. Vor zwanzig Jahren sah man Indien im Westen ausschließlich als Land der Slums und der abgemagerten Kühe. Mira Nairs Regiedebüt Salaam Bombay! (1988) passte perfekt in dieses Bild und wurde zum einzigen indischen Film, der in den Achtziger Jahren außerhalb Indiens wahrgenommen wurde. Ende der Neunziger kam der Bollywood-Hype im Westen auf. Nachdem man das indische Kino über sechzig Jahre lang ignoriert hatte, galt das Interesse plötzlich ausschließlich dem kommerziellen Kino Indiens. Slumdog Millionaire lässt sich in keine dieser beiden Kategorien einordnen: Es ist ein Kommerzfilm in westlichem Format (eine Song-and-Dance-Scene gibt es eigentlich nur im Abspann), der soziale Probleme thematisiert und drastisch darstellt. Der Film ist aber durchwegs mit indischen Schauspielern gedreht, die Filmmusik wurde von A. R. Rahman – dem bekanntesten indischen Filmmusikkomponisten – geschrieben, und die Roman-Vorlage stammt ebenfalls von einem Inder. Auch spart der Film das globalisierte Indien keinewegs aus; Slumdog Millionaire zeigt auch das Indien der Entrepreneurs, der Call Centers, des boomenden Tourismus, der Massenmedien und der wachsenden Mittelschicht. Brutal stehen in der Gesellschaft des Überlebenskampfes die Gewissenlosigkeit und Geschichtslosigkeit der aufsteigenden Klasse im Mittelpunkt. Jamal und sein Bruder Salim schlagen sich etwa illegal als Fremdenführer im Taj Mahal (Indiens bedeutendster Sehenwürdigkeit) durch, ohne von seiner Geschichte die geringste Ahnung zu haben. Der Quizmaster von Who Wants to Be a Millionaire – dargestellt von Anil Kapoor – stammt ebenfalls aus den Slums und hat sich im Showbusiness an die Spitze gearbeitet. Und wie geht er damit um, dass ein Junge aus den Slums vor ihm auf dem Drehstuhl sitzt und nur noch zwei richtige Antworten braucht, um den Hauptgewinn zu kassieren? Er gibt Jamal bewusst einen falschen Antworthinweis, um seinen Gewinn zu verhindern.

Doch reale Probleme anzusprechen macht noch keinen realistischen Film. Gerade die Darstellung der Fernsehshow hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun: Der Schwierigkeitsgrad der Fragen und die Art, wie der Moderator Jamal vor dem Studio-Publikum geradezu lächerlich macht, zeigen das deutlich. Jedoch ist Boyle bei der Besetzung sehr konsequent vorgegangen: Die Rolle von Jamal Malik wird vom jungen Schauspieler Dev Patel gespielt, dessen Erscheinungsbild äußerst glaubhaft ist – und es ist nicht gerade eine indische Tugend, Filmhelden in Herkunft und Aussehen ihren Rollen gemäß auszuwählen.  Die gute Schauspielerwahl trifft auch auf die Darstellerinnen und Darsteller der anderen Rollen zu – mit Ausnahme der Schauspielerin Freida Pinto in der Rolle der erwachsenen Latika. Pinto passt als Model so gar nicht in den Film. Im gesamten Cast gibt es nur zwei indische Stars: Irfan Khan (in der Rolle eines Polizei-Inspektors) und Anil Kapoor als Moderator der Quizshow. Beide zeigen eindrucksvoll, dass Schauspieler, die ihr Geld mit Bollywood-Filmen verdienen, nicht ebensogut in andersartigen Filmen brillieren können.

In sprachlicher Hinsicht hat der Film ein Manko, dass in Indien sofort auffällt. Die Brüder Jamal und Salim werden im Film altersabhängig von je drei verschiedenen Schauspielern dargestellt. Während sie als Kinder und Pubertierende miteinander Hindi reden, sprechen sie als Erwachsene englisch – und zwar ein Englisch, wie es kein Slum-Bewohner in Indien spricht. Diese Vernachlässigung verdeutlicht, dass der Film für ein westliches Publikum gemacht ist. In Indien wird allerdings neben der Original-Version des Films auch eine Hindi-Version unter dem Titel Slumdog Crorepati vertrieben – letztere ist auch für indische Verhältnisse durchaus erfolgreich.

Aber solche Unstimmigkeiten werden vom Tempo des Films, von seiner Direktheit und Eindeutigkeit in den Schatten gestellt. Wer nicht andauernd Realismus sucht und überprüft, der lebt und leidet immer mit der zentralen Figur des Films und ihrem wechselhaften Schicksal mit. Dieser Jamal Malik ist ein Stehaufmännchen, das eine Kindheit im Slum, den Tod seiner Mutter bei Straßenschlachten zwischen Moslems und Hindus, das Abdriften seines Bruders in die Kriminalität und seiner Liebe Latika in die Prostitution und viele andere unvorstellbare Schrecklichkeiten erlebt und selbst in der Quizshow nicht in die ihm absichtlich gestellte Falle des bösartigen Moderators tappt. Diese tatsächlich grauenhafte Welt kann ihm anscheinend nichts anhaben.

Am 13. Jänner hat Amitabh Bachchan in seinem Blog mit einem Kommentar zu Slumdog Millionaire viel Staub aufgewirbelt. Tenor seiner Kritik ist, dass es auch in westlichen Ländern Armut und Elend gäbe, dass aber gerade diese Geschichte große mediale Aufmerksamkeit erhielte, weil ein Inder sie über Indien geschrieben hat – andernfalls würde eine derartige Story ignoriert. Scharfe Antworten auf Bachchans zugegebenermaßen provokantes Statement blieben nicht aus – und es wurde mit schärferer Munition zurückgeschossen. Vielerorts wurde unterstellt, Bachchan hätte die Rolle des Moderators von Who Wants to Be a Millionaire zu gerne selbst gespielt. Dass die Kritik Bachchans übermäßig heftig war, ist unbestritten. Aber liegt in seiner Aussage nicht auch ein wenig Wahrheit?

Der Film Slumdog Millionaire wird weiterhin viel Erfolg haben und bestimmt einen kleinen Beitrag zu einer differenzierteren Betrachtung der ökonomischen und sozialen Situation Indiens leisten. Andererseits muss man den Film auch danach bewerten, was er ist: Ein brillant inszeniertes Hochgeschwindigkeits-Märchen, in dem am Schluss der Held das Geld und die Frau kriegt – nicht mehr, aber auch nicht weniger.