ray Filmmagazin » Interview » „24 Mal Lüge pro Sekunde“
Caché

Caché | Interview

„24 Mal Lüge pro Sekunde“

| Roman Scheiber |
Michael Haneke anlässlich seines komplex verwickelten Schuld-ohne-Sühne-Dramas „Caché“  im Gespräch über Vergewaltigung und Zerstreuung, Medien und Mainstream, und die Abwärtsbewegung der Manipulationsmaschine Fernsehen.

„Georges, Präsentator einer literarischen TV-Sendung, bekommt heimlich auf der Straße aufgenommene Videos von sich und seiner Familie, sowie beunruhigende, schwer zu deutende Zeichnungen zugeschickt. Er hat keine Ahnung, wer der Absender ist. Allmählich wird der Inhalt der Kassetten persönlicher, was den Verdacht erhärtet, dass der Absender Georges schon seit langem kennt. Georges fühlt sich und seine Familie bedroht.“

Werbung

Geht es nach Michael Haneke, dann ist das die Information, mit der Zeitungsleser für seinen neuen (mit bedeutenden Preisen bedachten) Film Caché interessiert werden und das Auslangen finden sollen. Das und nicht mehr. Denn: Hören und Sehen soll einem erst im Kino vergehen. Haneke ist nicht nur ein mittlerweile europaweit anerkannter Filmauteur, sondern war immer schon auch ein bildungsbeflissener Kino-Pädagoge (in einer neuen, bei Schüren erschienenen Monografie wird er als „Pathologe der Konsumgesellschaft“ bezeichnet). Weitere Erörterungen über die Handlung von Caché hält er für kontraproduktiv. Interviews mit Journalisten findet er in der Regel langweilig, weil er ohnehin schon hundert Mal erzählt habe, was er über das Kino und die Medien zu sagen hat.

Ray bat dennoch zum hundertundersten Mal, denn so viele international renommierte Regisseure hat dieses Land nicht aufzuweisen. Caché (laut Falter ein „mysteriöses Krimidrama“) zählt nach Ansicht der Redaktion zu den interessantesten Werken im mittlerweile neun Fernsehfilme und neun Kinospielfilme umfassenden Oeuvre des 1942 geborenen Wiener Neustädters. Das einstündige Gespräch fand am Nachmittag der Österreich-Premiere von Caché, bei der auch die Hauptdarsteller Juliette Binoche und Daniel Auteuil anwesend waren, statt.

Herr Haneke, Sie haben einmal gesagt, am Kino sei alles Täuschung, eine Lüge von A-Z.
Michael Haneke: Das war eine ironische Paraphrase zu einem Satz von Godard, der gesagt hat, Film ist 24 mal die Wahrheit pro Sekunde, wie das Maschinengewehr des Vietkong, das 24 mal pro Sekunde schießt. Und ich habe gesagt, Film ist 24 mal die Lüge pro Sekunde, aber vielleicht im Dienste der Wahrheit. Gemeint war, Film ist Manipulation.

Inwiefern manipuliert Ihr Film Caché die Zuschauer?
Michael Haneke: So wie jeder Film: ununterbrochen. Nur versuche ich die Manipulation selbstreflexiv zu gestalten, sodass sich der Zuschauer der Manipulation bewusst wird. Das habe ich in Funny Games gemacht, das habe ich in Benny’s Video gemacht, das kommt in meiner Arbeit immer wieder vor. Jeder Film vergewaltigt den Zuschauer, das ist unvermeidlich, aber ich hoffe, ihn wenigstens zur Selbständigkeit zu vergewaltigen.

Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Michael Haneke: Nein, ist es nicht. Lernen ist ja auch eine Vergewaltigung zur Selbständigkeit. Jede Form von Kommunikation ist auch eine Art Vergewaltigung, weil Beeinflussung. Aber es gibt eine Beeinflussung zur Verdummung hin, und eine zur Anreicherung des eigenen Spektrums. Beim Film handelt es sich grundsätzlich um eine Beeinflussung des Blicks. Der Unterschied zum Buch ist, das der Leser die Bilder selbst im Kopf schaffen kann. Der Film nimmt dem „Leser“ die Bilder weg, also muss ich ihm eine andere Freiheit der Auseinandersetzung einräumen. Aber das ist nicht so einfach: Wie konstruiere ich eine Geschichte, die funktioniert und gleichzeitig durchschaubar ist? Ich glaube, man sollte den Rezipienten auch im Kino als Dialogpartner ansehen, nicht bloß als Zerstreuungskonsument.

Ist Zerstreuung eines der größten Übel?
Michael Haneke: Überhaupt nicht, es kommt auf den Kontext an. Ein schwer arbeitender Mensch, der abends sein beschissenes Leben vergessen will, hat das Recht auf Abschalten, keine Frage. So ist auch das Fernsehprogramm: Damit man den Fernseher nicht abschaltet, muss das Programm so sein, dass man innerlich abschalten kann. Und je primitiver das Programm, desto größer die Zuschauermenge. Die Entwicklung des Fernsehens der letzten 15 Jahre ist, was das Niveau anlangt, eine kontinuierliche Bergab-Bewegung. Das ist ein Faktum.

Das allein wäre noch nicht das Problem, solange es nicht um Meinungsbildung geht …
Michael Haneke: Der Mensch wusste und weiß nie mehr als das, was er unmittelbar physisch und psychisch erlebt hat. Früher war er sich darüber im Klaren, aber heute bildet er sich ein, etwas zu wissen, weil ihm Information durch Bildchen vorgegaukelt wird. Unlängst haben mir zwei Journalisten einer berühmten deutschen Zeitung lachend gestanden, bei Ihren Redaktionssitzungen auch nicht mehr zu wissen als das, was sie aus dem Fernsehen erfahren. Das ist eine gefährliche Entwicklung, weil sie uns absolut manipulierbar und beruhigbar macht, im Dienste cleverer Leute, die davon einen Nutzen haben. Ähnlich ist die Entwicklung des Mainstreamkinos. Wenn Sie sich heute bestimmte amerikanische Actionfilme anschauen, dann sehen Sie, dass das pure politische Propaganda ist, aber so raffiniert verkauft, dass es die Leute gar nicht merken, sondern nur einen superspannenden Film gesehen haben.

Welche Gefahr meinen Sie, an Hand eines konkreten Beispiels aus dem Fernsehen?
Michael Haneke: Ein Beispiel? Die öfftentliche Meinung gegenüber dem Islam. Kaum einer weiß etwas über den Islam, kaum einer hat den Koran gelesen. Die meisten wissen nur das, was uns die Herrschaften aus dem Fernsehen vorkauen. In Amerika entwickelt sich selbst unter Intellektuellen diese Tendenz: nur keine Kritik im Innern, wir sind von außen attackiert, wir müssen zusammenhalten. Ich halte das für gefährlich, und diese Haltung ist natürlich Propaganda-Produkt.

Was wissen wir über die Vorgänge in Frankreichs Vororten?
Michael Haneke: Das werde ich dauernd gefragt. Aber ich fände es vorlaut, den Franzosen über die Presse Ratschläge zu geben. Ich habe mit Caché auch keinen Film über den Algerien-Konflikt gemacht, sondern einen über die Frage, wie gehen wir mit unserer Schuld um, privat und kollektiv. Ich insistiere, dass man sich in anderen Ländern, wo der Film läuft, nicht die bequeme Ausrede gönnt, zu sagen, das sei ein Film über ein französisches Problem. Jedes Land hat dunkle Flecken in seiner Vergangenheit, und gerade in Österreich hat man Grund, an die eigenen dunklen Flecken zu denken. So will ich den Film auch verstanden wissen. Ich habe auch schon vier Remake-Angebote aus Amerika, eben weil sich das Problem unglaublich leicht adaptieren lässt, da brauche ich nur eine schwarze Familie nehmen und ein entsprechendes Ereignis, das zum Alter des Hauptdarstellers passt.

Belügt sich eine Regierung, wenn sie glaubt, brennende Vororte mit Ausgangssperren und Repression löschen zu können?
Michael Haneke: Das ist leider überall so. Den Politikern geht es um Wählerstimmen, und die Wähler sind nicht anders zu beruhigen als durch scharfe Maßnahmen und restriktive Einwanderungsgesetze. Das ist natürlich der falsche Weg, aber so ist es. Der Herr Strache hat mit Ausländerhetzparolen 15 Prozent geschafft in Wien. Das hat mich zutiefst deprimiert, aber es ist die Realität.

Ist Ihre gesamte Arbeit denn eine einzige Don-Quichotterie?
Michael Haneke: Ich renne nicht gegen Windmühlen an. Kein Kunstwerk kann einverstanden sein mit dem herrschenden Status quo, es ist immer eine Rebellion gegen den maroden Zustand der Gesellschaft, aus der heraus es entsteht. Natürlich hat kein Kunstwerk die Welt verbessert oder verändert, aber ohne Kunst wäre diese Welt um einiges ärmer.

Ihre Kunst funktioniert unter anderem mittels dramaturgisch klug angewandter Schockwirkung. Haben Sie dabei stets Pasolini vor Augen?
Michael Haneke: Nein. Aber Pasolini, im Speziellen sein Film Salò, ist für mich ein Markstein der Filmgeschichte. Das war der unerträglichste Film, den ich je gesehen habe, ich habe ihn kaum ausgehalten. Weil er Gewalt als das dargestellt hat, was sie ist: als unerträgliches Leiden. Und nicht als Konsumprodukt. Salò ist jetzt auf DVD herausgekommen, und liegt seit einem halben Jahr bei mir zu Hause, weil ich Angst habe, ihn mir noch einmal anzuschauen.

Kein anderer Film hat bei Ihnen je eine ähnliche Wirkung erzielt?
Michael Haneke: Nein, definitiv nicht. Es ist unheimlich schwer, bei Gewaltdarstellungen nicht der Falle des Spektakulären zu erliegen. Sogar Kubrick, und das war einer der Großen, ist sich mit Clockwerk Orange selbst in die Falle gegangen. Als er mitgekriegt hat, dass die Leute dieses Ballett von virtuosen Nummern geil finden, war er geschockt und wollte den Film sogar wieder aus dem Verkehr ziehen.

Das Magazin profil hat ein Haneke-Porträt anlässlich der Cannes-Premiere von Wolfzeit „Sado-Humanist“ übertitelt. Was halten Sie von dieser Bezeichnung?
Michael Haneke: Alle Etiketten, die man mir auf die Stirn klebt, sind mir relativ wurscht. Ein Sadist ist einer, der aus der Zufügung von Schmerz Lust gewinnt. Ich aber empfinde keine Lust dabei, sondern ich bin der Überzeugung, dass man Schmerzempfindungen erreichen muss, um von der Wahrheit und von der Wirklichkeit zu sprechen. Außerdem kommt der Begriff „Sado“ aus der Neurosenecke. Ich halte meine Filme aber nicht für neurotisch, sondern für genau. Das ist ein Unterschied.

Sie betonen in Interviews immer wieder einmal, dass Sie Spaß bei den Dreharbeiten haben oder lustige Filme lieben.
Michael Haneke: Das betone ich nicht, sondern damit beantworte ich entsprechende Fragen. Ein Künstler, der ernsthafte Filme macht, muss ja deswegen nicht in den Keller lachen gehen.