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127 Hours

127 Hours – In der Klemme

In der Klemme

| Pamela Jahn |

Nach seinem mit Oscars überschütteten Publikumsliebling „Slumdog Millionaire“ konzentriert sich Danny Boyle in „127 Hours“ allein auf einen Mann – und einen Felsbrocken. Klingt wenig spannend? Ist es aber.

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Sexy. Erst mal wirkt das alles ziemlich sexy: Super catchiger Uptempo-Beat, zackige Schnitte, schicke Splitscreen-Einlagen, Menschenmengen im Zeitraffer und ein athletischer, gut aussehender junger Mann in Shorts. Mit anderen Worten: 127 Hours beginnt wie eine bessere Pepsi-Werbung. Dass das nicht automatisch etwas Schlechtes bedeuten muss, weiß man spätestens, wenn der Name Danny Boyle auf der Leinwand erscheint. Mit gewohnt furioser kinetischer Geschicklichkeit zieht der 54-jährige Regisseur den Zuschauer ins Geschehen seines neuen Films hinein, der sich, sobald der Vorspann abgelaufen ist, als packendes Kammerspiel im Freien entpuppt.

127 Hours erzählt die wahre Geschichte des damals 27-jährigen Aron Ralston (James Franco im Interview), der an einem Wochenende im April 2003 während einer Tour durch den Bluejohn Canyon in Utah einen fatalen Unfall hat. Er rutscht ab, und dabei wird sein Arm von einem gelösten Felsbrocken in einer 90 Zentimeter schmalen Felsschlucht eingeklemmt. Abenteurer und Einzelgänger, der er ist, hat Aron weder seiner Familie noch Freunden Bescheid gegeben, was genau er für diesen Trip geplant hatte. Fünf Tage hält er es in seiner hoffnungslosen Lage aus, doch mit einem bereits abgestorbenen Unterarm und gänzlich ohne Wasser und Nahrung greift Ralston in seiner Verzweiflung zum Taschenmesser: Er bricht sich selbst den Ellbogen und trennt Muskeln und Fleisch durch, bis er als freier Mann neben dem Gesteinsbrocken steht, in dem seine rechte Hand noch immer eingequetscht feststeckt.

Nun hat Danny Boyle bekanntlich ein Faible für Geschichten über spektakuläre Grenzerfahrungen, die er mit rigorosen, mitunter zynischen und nicht selten extrem konstruierten Bildern und entsprechender Musik mal mehr, mal weniger erfolgreich in Szene zu setzen weiß. Sei es Drogensucht (Trainspotting) oder Mord (Shallow Grave), Weltuntergang (28 Days Later) oder der existenzielle Kampf um die große Liebe (Slumdog Millionaire), Boyles Lust am extremen Leben kennt kein Limit. Auch 127 Hours macht da keine Ausnahme, wenngleich sich Boyle hier zum Teil allzu heftig der Vorschlaghammer-Methode bedient, um zu zeigen, worauf der Film jenseits seines Action-Potenzials hinaus will: „Jeder von uns ist Teil einer Gemeinschaft“, erklärt Boyle euphorisch. „Wir alle sind Teil einer Kette, die uns verbindet, und zu der Einsicht kommt auch Aron im Laufe seiner qualvollen unfreiwilligen Gefangenschaft im Canyon. Das hat viel mit Demut zu tun.“

Aber das kommerzielle Potenzial seines Schicksals hat Ralston selbst erkannt: Hierzulande mag sein Name bisher lediglich in Kennerkreisen bekannt sein, in den Vereinigten Staaten ist er längst ein Star. Nach unzähligen Gastauftritten in Fernsehshows betätigt er sich seither unter anderem als Motivationssprecher und Lebenscoach. Sein Buch „Im Canyon“ („Between a Rock and a Hard Place“), das Boyle neben Ralstons Erzählungen und den Originalvideoaufnahmen, die er in den fünf Tagen in der Schlucht aufzeichnete, als Vorlage für das Drehbuch zu 127 Hours diente, ist noch immer ein Bestseller. Denn auch Ralstons Memoiren spiegeln tatsächlich nur oberflächlich eine grausige Horrorvision wieder (die Armamputation dauerte in Wirklichkeit über 40 Minuten). Im Wesentlichen beschreibt er darin ausführlich jenen radikal subjektiven Selbstfindungstrip eines so egozentrischen wie lebensbejahenden Draufgängers – der sich in größter Not zu seiner Familie bekennt –, den Boyle in seinem Film als 90-minütigen Adrenalinkick inszeniert.

Das heißt, bis zum besagten Unfall geben der Regisseur und sein Held denn auch konstant Vollgas. Da brettert Aron auf seinem Mountainbike durch die Prärie, hetzt anschließend wie ein gejagter Bandit durch den Canyon, bis er zufällig auf Kristi (Kate Mara) und Megan (Amber Tamblyn) trifft, zwei Wandererinnen, mit denen er kurzzeitig in unterirdische Grotten abtaucht. Doch kaum hat man sich mental auf das vorgegebene Tempo eingestellt, passiert das Unvermeidliche. Und von dem Moment an, in dem sich der Felsbrocken über Arons Hand festsetzt, hat man als Zuschauer nur noch einen Gedanken: Man möchte jetzt auf keinen Fall an seiner Stelle sein.

So handelt 127 Hours nicht nur von der Macht der Selbstüberwindung, sondern auch von der Macht des Schauspiels, in diesem Fall der Darstellerleistung James Francos. Seine Rolle lässt ihm im wahrsten Sinn des Wortes über weiteste Strecken des Films nicht viel Spielraum, umso faszinierender ist es, wie er allein durch seine vollkommen entwaffnende Liebenswürdigkeit und Authentizität sein Publikum mitreißt und bei sich hält. Ein bisschen altklug, aber nicht aufgesetzt, witzig, aber nicht höhnisch; so hilflos sein Körper, so agil ist der Geist, der sich hier fast ausschließlich in Selbstgesprächen mit seiner Videokamera artikuliert. Je länger Aron gefangen ist in dieser auch für den überzeugten Optimisten zunehmend aussichtslos scheinenden Situation, erinnert er sich an Freunde, Geliebte, Familie und die beiden Frauen, die er kurz zuvor getroffen hat. Immer öfter verlässt der Film dabei die enge subjektive Perspektive und weitet den Blick auf die bizarre Landschaft, die Aron regelrecht verschlungen hat, sowie in Rückblenden auf seine Kindheit und  Jugend. Fantasie und Erinnerung werden ihm zur letzten Zuflucht, und zusammengenommen bilden sie auch die Antriebsfeder für den monströsen Befreiungsakt wider die Natur.

Boyles Kameramänner Anthony Dod Mantle und Enrique Chediak setzen Arons Halluzinationen mit mobilen HD-Digicams durchaus geschickt um, was dem Film trotz der räumlichen Begrenztheit durchgängig eine spannende Dynamik verleiht. Jedoch birgt der Einsatz von allzu extremen Bildern und maximalem Sounddesign für den Regisseur diesmal mitunter die Gefahr, als mangelndes Vertrauen in den Stoff ausgelegt zu werden. „Ich wollte dem Ganzen unbedingt einen urbanen Rhythmus verleihen“, verteidigt sich Boyle. „Einen Rhythmus, der dauerhaft ist und nicht zur Ruhe kommt.“

Gelungen ist ihm das allemal. Und es gibt wohl kaum einen anderen Regisseur, der seinen Figuren so selbstverständlich Kraft gibt, indem er sie in ihrer Zwangslage mit den Insignien der modernen Popkultur versieht. Was den Publikumserfolg seiner Methode angeht, gibt sich der Oscar-gekrönte Boyle dennoch lieber bescheiden: „Manchmal wachst du morgens auf und denkst, deine Arbeit, das ist doch alles Käse, das bringt doch alles nichts. Und dann gibt es wieder Tage, da denkst du, das alles ist ganz großartig. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.“