ray Filmmagazin » Themen » Freiheit ist woanders

Joy

Freiheit ist woanders

| Pamela Jahn |
Sudabeh Mortezai erzählt in ihrem zweiten Flüchtlingsdrama „Joy“ über Frauenhandel und Prostitution auf den Straßen von Wien – eindringlich, aufwühlend, unsentimental. Die Wirkung ist nachhaltig.

Freiheit ist immer relativ. Und sie hat ihren Preis. Für Joy, die aus Nigeria nach Europa gekommen ist, um sich fern der Heimat die Chance auf ein besseres Leben zu erarbeiten, bedeutet das, den eigenen Körper als harte Währung einzusetzen. Denn viel mehr bleibt nicht, wenn man sonst nichts hat. Nach Wien hat es die junge Frau verschlagen, hier geht sie auf den Strich, um die Schulden für ihre illegale Einreise bei ihrer „Madame“ abzubezahlen und endlich unabhängig zu sein – und fast hat sie es geschafft. Einfach war es nicht, davon erzählt ihr harter, gedämpfter Blick, aber Joy hat sich arrangiert. Sie kennt die Regeln und weiß, was passiert, wenn am Zahltag die Rate nicht stimmt. Dann kennt Madame, eine ehemalige Prostituierte, die sich über die Jahre selbst zur Zuhälterin hochgearbeitet hat, kein Erbarmen. Die Konsequenzen bekommt schließlich auch die junge Precious zu spüren. Sie ist neu in der Gruppe, fast noch ein Mädchen und dementsprechend rebellisch, was Joy, die sich um die Kleine kümmern soll, vor keine leichte Aufgabe stellt.

Von der brutalen Realität des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, davon spricht das bestürzende zweite Drama von Sudabeh Mortezai in intimen, unaufdringlichen Bildern, die stets eine angemessene Distanz wahren und dabei umso mehr unter die Haut gehen. Einst geschult am Dokumentarfilm (Children of the Prophet, Im Bazar der Geschlechter) hatte die iranisch-österreichische Regisseurin und Drehbuchautorin bereits 2014 in ihrem Erstling Macondo ihr bemerkenswertes Feingefühl für die verschiedenen Dynamiken innerhalb der Milieus bewiesen, in denen sie sich bewegt. Damals folgte sie einem elfjährigen tschetschenischen Jungen auf seinem Weg des Erwachsenwerdens durch den Alltag in einer Flüchtlingssiedlung in Simmering. Auch Joy folgt zunächst ihrer bewährt naturalistischen Herangehensweise, ist jedoch in seiner leise schmerzhaften Wucht noch um einiges bestürzender, und die Wirkung, die der Film dadurch erzielt, umso größer.

 


 

Wie gelangt man zu der Entscheidung, ein Schicksal wie das von Joy zu verfilmen?

Sudabeh Mortezai: Der Weg war nicht ganz geradlinig. Ich bin da so ein bisschen hineingerutscht, könnte man sagen. Im Grunde hatte ich erstes Interesse an der nigerianischen Community in Wien entwickelt, als ich noch an Macondo gearbeitet habe, weil ich zu dem Zeitpunkt auch ein paar Menschen aus Nigeria kennenlernte. Ich habe also schon damals begonnen, mich in der Richtung ein bisschen einzulesen, und bin dann recht schnell auch auf das sogenannte trafficking business gestoßen. Was mich dabei extrem schockiert hat, war die Tatsache, dass diese sogenannten Madames, die selbst einmal Opfer von Frauenhandel waren, den Spieß letztlich umgedreht haben und zu Ausbeuterinnen geworden sind. Darüber war ich entsetzt, aber gleichzeitig hat es mich als Filmemacherin auch fasziniert, und ich dachte mir: Okay, das muss ich mir anschauen. Was genau geht da in einer Frau vor, die so eine Wandlung macht, aus einer Opferrolle heraus zur Täterin zu werden? Daraufhin habe ich angefangen, gezielter zu recherchieren, war auch in Nigeria, speziell in Benin City, wo die meisten der Frauen herkommen. Ich habe sehr viele Frauen getroffen und mit ihnen geredet, und irgendwann hat mich das alles einfach nicht mehr losgelassen. Wobei man auch dazu sagen muss, dass es letztlich nicht nur ein Schicksal ist, das im Film beschrieben wird. Die Geschichte von Joy steht für mich symbolisch für sehr viele Schicksale, die in den Film mit eingeflossen sind. Es ging mir darum, die unterschiedlichen Machtverhältnisse zu untersuchen, die da miteinander in Konflikt stehen. Und das ist für mich über die eine fiktionalisierte Geschichte hinaus auch universell interessant.

 

Spannend ist vor allem die Figurenkonstellation, die Sie gewählt haben: die Beziehung zwischen Joy und Precious, aber auch ihr jeweiliges Verhältnis zu Madame.

Sudabeh Mortezai: Die Dreiecksstruktur kam dadurch zustande, dass ich eben keine Geschichte über einen langen Zeitraum erzählen, sondern den Handlungsbogen möglichst knapp halten wollte. Ich wollte nicht die Lebensgeschichte von Joy verfilmen, sondern über die anderen beiden Frauen ihre mögliche Vergangenheit und Zukunft widerspiegeln. Im Grunde könnte Precious, die gerade angekommen ist, die jüngere und Madame, die Zuhälterin, die ältere Joy sein, und so schließt sich der Kreis.

 

Sie haben bereits in „Macondo“ enormes Fingerspitzengefühl bewiesen, wenn es darum geht, sich in fremde Welten einzufühlen. Wie schwer war es diesmal, sich in ein so geschlossenes und ja auch nicht ungefährliches System wie Frauenhandel und Prostitution einzuschleusen?

Sudabeh Mortezai: Das war viel schwieriger als bei Macondo. Macondo war ein Ort, wo man hingehen konnte, mit Leuten reden konnte, und wo dadurch auf ganz natürliche Weise Beziehungen entstanden. Ein offener Raum sozusagen, in dem sich die Dinge entwickeln konnten. Diesmal musste ich viel gezielter auf Leute zugehen und schauen, wer lässt überhaupt das Gespräch mit mir zu. Am Anfang war es sehr schwierig, an die Frauen heranzukommen, ihr Vertrauen zu gewinnen, aber mit der Zeit habe ich gelernt, mich auf die Gespräche einzustellen.
Dann haben wir relativ schnell mit dem Casting begonnen. Das heißt, ich bin mit so einem Grundvertrauen an die Sache herangegangen und habe mir gedacht, das Casting ist für mich so eine Art weiterführende Recherche. Schauen wir mal, was für Frauen kommen, ob überhaupt welche kommen, beziehungsweise ob sich aus dem, was sie erzählen, auch was machen lässt oder nicht. Und da war ich wirklich komplett überwältigt, wie offen die Frauen waren. Es war ein Geschenk. Sehr viele Frauen sind direkt dem ersten Casting-Aufruf gefolgt. Ich musste nur kurz erklären, worum es geht, und in vielen Fällen kam dann sofort: „Ja, das ist meine Geschichte, das und das ist passiert.“

 

Abgesehen von den betroffenen Frauen, wie offen ist man Ihnen zum Beispiel in Nigeria gegenübergetreten? Ich denke da etwa an die „native doctors“, denen eine entscheidende Rolle in diesen Systemen des Menschenhandels zukommt. Denn die Mädchen lassen ihre Heimat ja nur indirekt hinter sich, wenn sie nach Europa kommen. Sie leisten einen Schwur, den es zu erfüllen gilt.

Sudabeh Mortezai: Ja, den sogenannten Juju-Schwur. Das ist schon etwas Besonderes. Dieser Glaube an das Juju, diese magische Welt, die wir gemeinhin als Voodoo verstehen, das ist ein starkes Kontrollinstrument, um die Frauen auf Kurs zu halten, dass sie auch ja ihre Schulden abbezahlen. Aber auch das ist nicht tabuisiert. Wir haben uns bei der Recherche zum Beispiel einige dieser Priester angeschaut und am Anfang wurden uns mehr oder weniger Touristenattraktionen vorgeführt, die für uns da irgendein Spektakel inszeniert haben. Aber das hat sich einfach von vornherein falsch angefühlt. Ich kann gar nicht genau sagen warum, aber es kam mir so vor, als würden sie einen Zirkus speziell für die Ausländer veranstalten. Doch dann sind wir über mehrere Ecken schließlich an den Priester geraten, der auch im Film zu sehen ist. Und der war zunächst sehr skeptisch und hat uns über eine Minute lang einfach nur starr angeschaut, um sich erst einmal ein Bild zu machen von den Menschen, die da was von ihm wollten. Das war ganz spannend. Erst nach diesem Test hat er gesagt: „Okay, kommt rein. Mit euch rede ich.“

 

Wie gehen die Frauen mit dem enormen Druck um, der ihnen durch den Schwur auferlegt wird?

Sudabeh Mortezai: Die meisten Frauen haben wahnsinnige Angst. Sie müssen ja teilweise auch schwören: Wenn ich mein Wort nicht halte, soll ich getötet werden. Und sie glauben natürlich wirklich, dass sie dann sterben, oder zumindest, dass ihnen oder ihrer Familie ein großes Unglück widerfährt, dass sie krank werden. Das heißt, da ist eine ganz bestimmte Psychosomatik am Werk – obwohl, in Nigeria würde man sagen, es ist ein spirituelles Problem. Es kommt also immer auf die Perspektive an, je nachdem was man für richtig hält. Aber aus europäischer Sicht leiden viele der Frauen unter psychosomatischen Krankheiten, die zu schweren mentalen Problemen bis hin zum Selbstmord führen.

 

Was erwartet die Frauen, die es beispielsweise gar nicht erst bis nach Europa schaffen, oder die, noch bevor sie abbezahlt haben, wieder abgeschoben werden?

Sudabeh Mortezai: Ächtung durch ihre Familien. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Frau aus Nigeria, die nach Italien verschleppt wurde, dort gearbeitet und auch abbezahlt hatte. Sie hatte dann sogar auch schon angefangen zu sparen, um selber Madame zu werden. Nur dann hat ihre Madame sie als Konkurrenz wahrgenommen und hat sie schließlich bei der Polizei angezeigt, woraufhin die Frau abgeschoben wurde. Sie hat mir dann erzählt, dass ihre Familie nach all dem, was sie durchgemacht hat, jetzt trotzdem nichts mehr mit ihr zu tun haben will, weil sie ihrer Ansicht nach mit leeren Händen nach Hause gekommen ist. Sie sehen sie als eine Versagerin.

 

Inwieweit würden Sie Ihre Filme und sich selbst als Regisseurin als politisch bezeichnen?

Sudabeh Mortezai: Ich bin ein sehr politischer Mensch, schon immer gewesen. Wir haben auch zu Hause immer viel diskutiert. Aber ich würde einen Unterschied machen zwischen politisch und ideologisch. Was ich nämlich gar nicht mag, ist, wenn Künstler über ihre Arbeit versuchen, dem Ganzen eine bestimmte Ideologie aufzudrücken. Natürlich hat man eine Weltanschauung, und auch wenn man behauptet, man sei völlig unpolitisch, wird sich die jeweilige politische Einstellung automatisch irgendwie in der Kunst, die man macht, widerspiegeln. Sie wird in jedem Bild drin sein, in jedem Wort. Nur halte ich gar nichts davon, wenn es didaktisch wird, wenn man den Zuschauern keine Wahl lässt, selbst darüber zu entscheiden, was richtig oder falsch ist. Das finde ich schwierig. Mich interessieren die Menschen und deshalb ist es bei mir eigentlich so, dass ich, wann immer ich mich einem neuen Thema, einer neuen Welt annähere, versuche, das so vorurteilsfrei wie möglich zu tun, auch wenn sich das, was ich dabei entdecke, in keiner Weise mit meinen eigenen Vorstellungen und politischen Einstellungen deckt.

 

Sie arbeiten im Film erneut mit nichtprofessionellen Schauspielerinnen und Schauspielern. Es scheint, als sei das für Sie mittlerweile zu einem festen Bestandteil Ihrer persönlichen Arbeitsweise geworden.

Sudabeh Mortezai: Ich denke schon. Allmählich kommt eine gewisse Routine auf. Bei Macondo habe ich es zum ersten Mal ausprobiert, nicht zuletzt mit einer gewissen Naivität, die auch Spaß gemacht hat. Und bei Joy hatte ich jetzt das Gefühl, dass ich schon viel besser verstehe, was eigentlich meine Arbeitsweise ist. Allerdings muss man dazusagen, dass natürlich trotzdem jeder Film anders ist, weil eben auch die Menschen, mit denen man zu tun hat, ganz andere sind. Und das stellt mich als Regisseurin jedes Mal wieder vor neue Schwierigkeiten bei der Umsetzung, allein angesichts des Themas, aber auch konkret bei der Arbeit mit den Darstellern. In dem Sinn ist Joy auch ein viel persönlicherer Film geworden, finde ich. Dazu kommt, dass ich selber eine Frau bin und es hier eben konkret um das Körperliche von Frauen geht. Das habe ich natürlich beim Drehen auch viel mehr gespürt als bei Macondo. Damals habe ich den Leuten viel weniger Intimität abverlangt, das ist natürlich auch noch einmal eine ganz andere Voraussetzung, sodass mir Joy auf eine instinktive Art letztendlich viel näher kommt.     

 

Sind Sie mit den Frauen auch heute noch in Kontakt?

Sudabeh Mortezai: Ja. Es ist bei mir aber grundsätzlich so, dass ich mit ganz vielen Menschen aus meinen früheren Filmen noch in Kontakt stehe, nicht nur aus Macondo, auch aus den Dokumentarfilmen, und jetzt eben mit den Frauen aus Joy. Es kommt natürlich immer auf die jeweilige Persönlichkeit an und man bleibt nicht mit allen Leuten auf die gleiche Art und Weise in Verbindung. Aber mit Precious ist es zum Beispiel so, dass wir ab und zu auch gemeinsam ins Kino gehen. Sie ist ja heuer gerade erst achtzehn geworden. Wir suchen dann immer abwechselnd die Filme aus, die wir anschauen, und anschließend diskutieren wir darüber. Sie wünscht sich, dass wir das machen. Und ich finde es auch unheimlich schön, dass da was bleibt.