Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler, das ist für Joel Edgerton ein Kinderspiel. Das Thema seines neuen Films „Boy Erased“ ist dafür umso heftiger. Ein Gespräch über Familie, Schuld und warum Russell Crowe und Nicole Kidman manchmal einfach die Besten sind.
Joel Edgerton hoch drei: Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler, das ist für den sympathischen Australier ein Kinderspiel. Das Thema seines neuen Films „Boy Erased“ ist dafür umso heftiger. Ein Gespräch über Familie, Schuld und warum Russell Crowe und Nicole Kidman manchmal einfach die Besten sind.
Wenn Joel Edgerton sich erst einmal festbeißt, gibt es meist kein Halten mehr. So war es schon mit der Schauspielerei, die ihn mittlerweile seit über zwanzig Jahren vorantreibt und von der er sich, seit er 2002 in Star Wars: Episode II – Attack of the Clones mit einem Ruck vom Fernsehbildschirm auf die Kinoleinwand wechselte, kaum eine Pause gegönnt hat. Drei bis vier Filme im Jahr sind bei ihm die Regel, die Qualität seiner darstellerischen Leistung unabhängig vom Genre und Sujet stets auf höchstem Niveau. Vor allem sein markanter Auftritt als Barry „Baz“ Brown in Animal Kingdom (2010) machte schließlich in und um Hollywood Eindruck: Ob Engagements in Zero Dark Thirty (2012), The Great Gatsby (2013) und Black Mass (2015), eindringliche Charakterrollen wie in dem nachhaltigen Rassendrama Loving (2016) oder aktionsreiche Einsätze wie unlängst in Red Sparrow (2018) oder Gringo (2018), die Nachfrage nach Edgerton ist groß – und sie wächst auch in anderen Bereichen beständig. Als Autor hat der unprätentiöse Australier sein Portfolio gerade um das Drehbuch zum neuen Netflix-Historiendrama The King erweitert, in dem er ebenso als Schauspieler mitwirkt. Und auch für seine eigene zweite Regiearbeit hat er die Vorlage selbst geschrieben. Zwei Wochen, dann stand der erste Entwurf zu Boy Erased, für Edgerton bekanntlich keine besondere Sache. Das Thema hatte ihn gepackt, die Geschichte betroffen, und trotz anfänglicher Bedenken, ob er tatsächlich der Richtige dafür sei, stand bald fest, dass er den Stoff auf keinen Fall mehr aus den Händen geben würde.
Basierend auf den Aufzeichnungen und Erinnerungen von Garrard Conley, beschreibt der Film die Geschichte des neunzehnjährigen Jared (Lucas Hedges), der in einem Baptistenprediger-Haushalt in den amerikanischen Südstaaten aufwächst. Als seine streng gläubigen Eltern von der Homosexualität ihres Sohnes erfahren, drängt der Vater (Russell Crowe) ihn zur Teilnahme an einer fragwürdigen Konversationstherapie. Auch die Mutter (Nicole Kidman) steht anfangs hinter der Entscheidung, in der trügerischen Hoffnung, ihrem Kind damit die Zukunft zu retten. Doch je weiter die absurden Behandlungen voranschreiten, umso skeptischer wird nicht nur Jared, was die Wirksamkeit und Heilungskraft der fragwürdigen Methoden des Cheftherapeuten Victor Sykes (Edgerton) anbelangt.
Boy Erased ist nach dem Psychothriller The Gift aber nicht nur ein weiterer triple-act für Edgerton, der schon bei seinem Regiedebüt alle Zügel selbst in die Hand nahm, sondern der Film ist zudem ein weiterer Beweis dafür, dass den Mitvierziger eindeutig mehr mit seinen Regiekollegen Jeff Nichols und David Michôd verbindet als lediglich eine enge Freundschaft zwischen Schauspieler und Auteur. Auch Edgerton lässt sich nicht auf ein Genre, eine Handschrift, einen Stil festlegen. Seine Vielseitigkeit ist sein Metier. Die Hauptsache ist für ihn dabei stets die Arbeit selbst. Sie müsse Substanz haben und ihn fordern, sagt er mit einem energischen Strahlen in den Augen. Um die Freiheit, seine eigenen Projekte durchzusetzen und verwirklichen zu können, hat er sich lange bemüht. Nun sei die Zeit reif, seine Ideen mit dem Publikum zu teilen – höchste Zeit.
Interview
Mr. Edgerton, war Ihnen die Konversationstherapie als Behandlungsmethode bereits bekannt, bevor Sie Garrard Conleys Buch „Boy Erased“ in die Hand nahmen, oder sind Sie erst über seine Geschichte darauf gestoßen?
Joel Edgerton: Ich habe zunächst das Buch gelesen. Allerdings ist meine Faszination mit geschlossenen Anstalten aller Art etwas, das parallel dazu kam. Mich haben Filme, die in Heimen oder Gefängnissen spielen, schon immer interessiert: One Flew Over the Cuckoo’s Nest, Midnight Express, Brubaker. In gewisser Weise hat mich also meine Wissbegierde auf die Spur zu Garrard geführt und mich veranlasst, das Buch zu lesen. Wobei lesen eigentlich das falsche Wort ist, weil ich es regelrecht verschlungen habe. Am Ende der Lektüre wusste ich, dass darin ein Film steckt, den ich gerne machen würde. Dabei war der Auslöser für mich letztlich vielmehr die komplizierte Beziehungskonstellation innerhalb der Familie und was dahinter steckt. Die Frage, inwieweit Glauben zu einem Gefängnis im Kopf wird, aber auch die Einsicht, dass Garrards Eltern sich allein aus Liebe zu ihrem Sohn für die Therapie entschieden, weil sie aufrichtig hofften, ihm damit helfen zu können, und nicht etwa, um ihn zu bestrafen.
Sind Sie selbst ein Familienmensch?
Joel Edgerton: Ja, Familie ist ungeheuer wichtig für mich. Ich weiß noch genau, wie ich damals direkt nach der High School an die Schauspielschule kam und eine Art Schock im System verspürte, als mir bewusst wurde, dass die kleine, behütete Vater-Mutter-Kind-Welt, in der ich aufgewachsen war, nicht die einzig mögliche Form von Familie darstellte. Sie müssen wissen, ich stamme aus einem ähnlich verschlafenen Städtchen wie Garrard, in dem man sein Anderssein beziehungsweise die Tatsache, dass man schwul ist, niemals an die große Glocke hängen würde. Und dieses Gefühl, dieser Moment der Verblüffung, wie ich ihn damals frisch an der Schauspielschule erlebte, kam mir plötzlich wieder in den Sinn, als ich die Geschichte las. Zumal auch ich bis dato davon ausgegangen war, dass jeder eine so tolle Familie hätte wie ich. Menschen, denen man vertrauen kann, denen man alles glauben kann, die einem den Weg durchs Leben weisen. Heute weiß ich natürlich, dass dem nicht so ist. Aber ich konnte mir gut vorstellen, wie sich Garrard damals gefühlt haben muss, denn auch er hat seine Familie über alles geliebt. Und wenn die eigenen Eltern sich plötzlich gegen einen stellen, wenn sie behaupten, es sei etwas nicht in Ordnung mit einem, und es sei sogar so schlimm, dass sie bereit sind, ihr Kind aus dem Haus, ja aus der Gemeinde zu verstoßen, dann macht das natürlich was mit einem. Wenn man gesagt bekommt, geh weg und komm als ein besserer Mensch zurück. Der Schmerz, den das verursacht, ist enorm. Und wahrscheinlich hat mich die Geschichte deshalb auch auf emotionaler Ebene so gepackt, weil ich mich in dieses Gefühl hineinversetzen konnte.
Sie spielen im Film den Therapeuten Victor Syke, den Leiter des „Love in Action“-Zentrums, in dem Jared geheilt werden soll. Wann stand für Sie fest, dass Sie die Rolle selbst übernehmen würden?
Joel Edgerton: Der echte Victor Syke heißt John Smid, ein interessanter Typ, wenn Sie mal im Internet googeln. Ich hatte mich bei meiner Recherche zunächst auf Garrard und seine unmittelbare Umgebung konzentriert, hatte mit den Eltern gesprochen, war in die Kirche gegangen, hatte seinen Arzt getroffen, das ganze Programm. Aber irgendwann kam ich schließlich an den Punkt, an dem mit klar wurde, dass ich auch Smid treffen musste – und er war offen dafür. Immerhin lebt er mittlerweile ein komplett anderes Leben. Gemeinsam mit seinem Lebenspartner restauriert er Möbel in Texas. Als ich ihn traf, sah er ganz anders als so ein Alpha-Männchen aus, eher irgendwo in der Mitte zwischen Alpha und Beta. Aber er hatte definitiv immer noch etwas von einem Führer, charismatisch, sehr interessant, sehr intelligent. Ich hatte Archivmaterial gesehen von damals, 2005, als er sozusagen entlarvt wurde, weil einer der Jungen, die im Zentrum eingesperrt waren, Teile des Regelbuchs von „Love in Action“ im Internet veröffentlicht hatte, was eine Welle von Protesten gegen die Organisation hervorrief. Und John Smid, der bis dahin in der Gemeinde wie ein Held gefeiert wurde, als eine Art Heiler, der alles und jeden gut machen konnte, musste sich plötzlich vor der Öffentlichkeit rechtfertigen für seine Methoden und das, was da im Zentrum vor sich ging. Und als ich das sah, dachte ich, der Typ hat echt was. Bei unserem Gespräch hatte ich fast das Gefühl, dass ich ihn in einem anderen Kontext sogar richtig sympathisch finden könnte, so offenherzig und freundlich war er. Das hat mich gereizt und gleichzeitig aber auch alarmiert. Dieser Widerspruch zwischen dem Therapeuten und der privaten Person mit seiner „Ich will dir helfen“-Attitüde. Denn genau das ist es ja, worauf die Eltern in erster Linie angesprungen sind: Dass da jemand ist, der ihnen in der Not beisteht, der ihnen hilft, mit der Situation fertig zu werden, und der obendrein Heilung verspricht, auch wenn sich das Ganze letztendlich als Illusion entpuppt.
Nicht, wenn man den Erfolgsraten Glauben schenkt, die „Love in Action“ damals veröffentlichte.
Joel Edgerton: Nein, demnach wurden 84% aller Patienten geheilt, aber Gott weiß, wo sie diese Zahlen hernahmen. John hat bei unserem Mittagessen selbst zugegeben, dass die Therapiemethoden nicht anschlugen, weshalb sie immer wieder nach anderen Ansätzen und Techniken suchten, die sie in die Behandlung einbauten.
Wenn zwei Stars hinter dem Projekt stehen, sind die Chancen größer, dass sich die Zuschauer überhaupt dieser nicht unbedingt leichten Thematik zuwenden
Bereut John Smid heute, was er den Menschen mit seinen Praktiken angetan hat?
Joel Edgerton: Auf jeden Fall. Auch darüber ist er sehr offen. Er hat sogar Nachrichten auf Facebook veröffentlicht und Videos ins Netz gestellt, die man sich anschauen kann, in denen er sich entschuldigt. Bei einigen Leuten kommt das an, andere halten ihn, verständlicherweise, weiterhin für ein Monster. Wieder andere konfrontieren ihn mit Selbstmordraten, aber er tut sein Bestes. Interessant fand ich beispielsweise, dass er mir gegenüber auch gestand, seiner Ehefrau einen nicht geringen Schaden zugefügt zu haben. Darüber hatte ich bis dahin noch gar nicht nachgedacht. Aber er meinte, er fühle sich schuldig, ihr kostbare Lebenszeit versagt zu haben, die sie mit einem anderen Partner in einer glücklichen Ehe hätte verbringen können. Zumal er emotional nie bei ihr war, weil er stets seine wahren sexuellen Neigungen unterdrücken musste, um in der Gemeinde und vor Gott als der dazustehen, der er zu sein vortäuschte.
Eine der Aufgaben, die Jared im Rahmen der Therapie gestellt bekommt, ist es, eine moralische Inventur zu erstellen. Haben Sie beim Schreiben Ähnliches für sich selbst verfasst?
Joel Edgerton: Es hat mich sicher dazu veranlasst, auch meine eigene moralische Bestandsaufnahme von mir selbst zu machen. Allerdings bin ich dabei auf einen Gedanken gestoßen, den ich noch viel spannender fand. Ich überlegte, wie das bei mir war damals, als ich jung war und mein Vater mich in die Küche schob, um ein ernstes Wort mit mir zu reden, weil meine Freundin bei uns übernachten sollte, wenn auch noch nicht mal in meinem Zimmer, sondern in einem anderen Teil des Hauses. Trotzdem wollte er es ganz genau wissen und fragte, ob ich vorhatte, Sex mit ihr zu haben. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Er jedoch wollte nur auf Nummer sicher gehen, um mir anschließend ans Herz zu legen, dass ich meine Freundin immer mit Respekt behandeln müsse, und natürlich dass wir aufpassen und auf jeden Fall verhüten sollten, damit er nicht Großvater werden würde, bevor ich meinen High-School-Abschluss in der Tasche hätte – das Übliche eben. Und ich habe seinen Rat befolgt und bin der Normalo-Typ geblieben, der ich von klein auf war. Doch während des Schreibens habe ich mir oft überlegt, was gewesen wäre, wenn ich plötzlich zu ihm gesagt hätte, dass ich eigentlich gar nicht an dem Mädchen interessiert bin, sondern mich in Wahrheit in einen Jungen aus meiner Klasse verguckt habe. Dieser Moment, an dem mein und Garrards Leben in verschiedene Bahnen verliefen, fasziniert mich bis heute.
Noch ein Wort zu Ihrer Besetzung. Sie haben die Elternrollen an zwei weitere hochkarätige Australier vergeben: Russell Crowe und Nicole Kidman. Was hat es damit auf sich?
Joel Edgerton: Kurz nachdem ich das Buch zum ersten Mal gelesen hatte, traf ich mich mit Garrard zum Mittagessen. Wir redeten stundenlang, und am Ende fragte ich ihn, ob er mir vielleicht ein paar Fotos zeigen könnte von der Zeit, als er achtzehn war. Er saß mir gegenüber, ein Mann Anfang dreißig, und erklärte mir verlegen, dass er damals sehr, sehr dünn gewesen sei, auch weil der ganze Stress und die permanente Angst extrem an ihm nagten. Dann zog er langsam ein Foto hervor, das ihn mit seinen Eltern zeigte, und sofort platzte es aus mir heraus: „Okay, da haben wir Russell Crowe und hier Nicole Kidman.“ Zwar war ich zunächst nervös, zwei weitere Australier zu casten, weil ich auf jeden Fall verhindern wollte, dass das Ganze wie eine patriotische Grillparty rüberkommt, so nach dem Motto: „Ich springe mal eben ans Känguru-Telefon und bestelle mir meinen Kumpel Russell Crowe herbei.“ Aber es waren ihre Gesichter, die mich von dem Bild aus anstarrten. Dazu kommt, dass ich mir von Anfang an überlegt hatte, die Elternrollen mit ein paar großen Namen zu besetzen, einfach aus dem Grund, damit eine nachhaltigere Wirkung beim Publikum zu erzielen. Denn wenn zwei Stars wie Russell und Nicole hinter dem Projekt stehen, sind die Chancen zumindest um einiges größer, dass sich die Zuschauer überhaupt dieser nicht unbedingt leichten Thematik zuwenden, viel eher, als wenn ich die Rollen mit unbekannten Schauspielern besetzt hätte. Und allein darum ging es mir, dass die Leute hinschauen und dass sie verstehen.