Nach ihrem Erfolg als Showrunnerin der zweiten Staffel von „Killing Eve“ trumpft Emerald Fennell auch in ihrem Spielfilmdebüt „Promising Young Woman“ mit einer Frauenfigur auf, die ihre eigene Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit hat. Und Carey Mulligan, die die kompromisslose Dame spielt, hat sichtlich Spaß daran, es mit den Männern aufzunehmen, die sich an ihr vergreifen. Die beiden Frauen im Gespräch.
Manche Superhelden brauchen keine Superkräfte. Cassie, schmal, blond und mit Grübchen in den Wangen, ist sich selbst genug. Sie benötigt nicht mehr als ihren Charme, einen wachen Verstand und die lange, leise gärende Wut über den traumatischen Tod ihrer besten Freundin im Bauch, um ihrem Gegenüber in Sekundenschnelle den Garaus zu machen. Zudem bekommt es jeder, der sie auszunutzen oder als leichte Beute abzutun versucht, mit ihrer unwiderstehlichen Gabe zu tun, Menschen – am liebsten: Männer – zu blamieren und in Grund und Boden zu beschämen.
Kreiert wurde Cassandra „Cassie“ Thomas, die noch bei ihren Eltern in einem Vorort von Los Angeles wohnt und als Bedienung in einem coolen Coffeeshop jobbt, von Emerald Fennell, die spätestens seit Killing Eve gemeinsam mit ihrer Kollegin Phoebe Waller-Bridge zu den spannendsten Kreativen im britischen Fernsehen zählt. Die Schauspielerin (unlängst als Camilla, Duchess of Cornwall, in The Crown zu sehen), Autorin und neuerdings Regisseurin wollte eine weibliche Figur schaffen, die weniger „kick-ass“, aber auch nicht so düster verbittert ist, wie man es von ihr erwarten könnte. Und Carey Mulligan macht dieser eigenwilligen Promising Young Woman mit ihrer natürlichen, zarten und zugleich konsequenten Art alle Ehre, wenn sie als Cassie nachts durch die Bars zieht, um sich von ihren zukünftigen Opfern abschleppen zu lassen. Zumal beängstigend kein Wort ist, mit dem man die Schauspielerin für gewöhnlich beschreibt. Aber bei Fennell darf sie sich austoben, Paris-Hilton-Songs mimen und sämtliche bisher unbekannte Facetten in ihrem Spiel zu Tage fördern, um auf ungeniert originelle Weise zur aktuellen Diskussion über sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und Missbrauch beizutragen.
Tatsächlich ist Promising Young Woman ein Film, der so vielversprechend ist wie sein Titel verkündet – und noch einiges mehr. Ein Leinwanddebüt, das klug, witzig und unterhaltsam ist, das dringende Themen und Motive aufgreift, um sie umzukrempeln und die Argumente dabei so weit nach außen kehrt, dass man sich am Ende fragt, ob man jetzt eigentlich eine ziemlich furchteinflößende RomCom gesehen hat oder einen verdammt lustigen Horrorfilm. Beide Interpretationen sind durchaus gerechtfertigt und lassen zudem Platz für einen poppigen Soundtrack, der zwingend gute Laune produziert.
Carey, was ist das mit Ihnen und Twizzlers? Immer wieder werden Sie in Interviews danach gefragt. Und dann sieht man Sie in „Promising Young Woman“ plötzlich auch auf der Leinwand die roten Lakritzstangen kauen.
Carey Mulligan: Ich weiß.
Emerald Fennell: Was? Magst du etwa keine Twizzlers?
Carey Mulligan: Doch, ich liebe Twizzlers. Aber wenige Wochen nachdem ich meine Tochter bekommen hatte, gab ich ein paar Interviews zum Start von Sarah Gavrons Suffragette, und ein Journalist fragte mich: „Wie machen Sie das nur?“ Und ich antwortete irgendwas wie: „Ach, ich esse einfach ganz viele Twizzlers.“ Sowas in der Art. Zwei Jahre später, als wir die Presse für Mudbound machten, gab es einen Journalisten, der mir eine Frage stellen durfte, und er entschied sich für: „Essen Sie immer noch Twizzlers?“ Das war das Einzige, was ihn interessierte.
Emerald Fennell: Gut zu wissen. Den Werbevertrag hast du sicher.
Das war also nicht geplant?
Emerald Fennell: Nein, leider nicht. Ich hatte keine Ahnung.
Carey Mulligan: Beim Drehen fiel es mir wieder ein, aber da war es zu spät.
Dafür gibt es eine Anspielung zu Charles Laughtons „The Night of the Hunter“ in Ihrem Film?
Emerald Fennell: Ja, ein großartiger Film.
War das auch ein Ansatzpunkt für Sie, als es darum ging, den Film zu konstruieren? Brian De Palma kam mir beim Sichten ebenfalls in den Sinn, und ich meine das durchaus als Kompliment.
Emerald Fennell: Vielen Dank. Und ja, absolut. Als ich zum ersten Mal mit Carey über das Projekt sprach, meinte ich zu ihr, sie solle sich den Film wie einen modernen Western vorstellen, mit einer klaren, singulären Struktur: Es geht um eine einzelne Protagonistin auf einer unbeirrbaren Reise, einer Mission von Rache und Vergeltung. Und die Filme, die mir gefallen, sind meistens zunächst auf einer ähnlich linearen Struktur aufgebaut, um dann eine unerwartete Wendung zu nehmen. Ich liebe The Night of the Hunter aus genau diesem Grund. Es geht um eine Verfolgungsjagd. Nur dass es in unserem Fall andersherum ist: Cassie ist die Jägerin. Es handelt sich also eher um eine Art umgedrehten Anti-Western.
Ein Anti-Western mit einem sehr guten Soundtrack. Wonach haben Sie die Songs ausgewählt?
Emerald Fennell: Ich schickte Carey und allen anderen, die am Projekt beteiligt waren, eine Playlist, erst einmal nur, um zu demonstrieren, in was für einer Welt Cassie lebt, weil das Drehbuch allein auf den ersten Blick ziemlich düster wirkt. Und ich wollte diesen Songs, mit denen ich aufgewachsen bin und die mir so viel bedeuten, wie „Toxic“ von Britney Spears oder Paris Hiltons „Stars Are Blind“, mit der Ernsthaftigkeit und emotionalen Wucht begegnen, die sie meiner Meinung nach verdienen. Das Großartige war, dass Susan Jacobs, die unsere Musik betreute, und Capitol Records mit uns zusammengearbeitet haben und es so quasi jeder Song dieser ursprünglichen Liste am Ende tatsächlich auch in den Film schaffte, sogar „Something Wonderful“ von The King And I oder „Boys“ von Charli XCX.
Einer der faszinierendsten Aspekte des Films ist, dass sich der Ton so gar nicht einordnen lässt. Bei „Killing Eve“ war das ganz ähnlich. Wie entscheiden Sie für sich, wann es etwas überspitzt und over the top sein darf und wann Sie zurückschrauben müssen?
Emerald Fennell: Das ist immer eine Frage des Instinkts. Ich habe bei Promising Young Woman von vornherein eine ganz wichtige Entscheidung für mich getroffen, und zwar, den Film zu machen, den ich mir vorstellte, ohne Kompromisse. Auch wenn einiges vielleicht überspannt oder exzentrisch wirkt. Aber so bin ich eben, das liegt mir nahe, und es entspricht dem, wie ich und die meisten Menschen in meinem unmittelbaren Umfeld der Welt begegnen, in der wir leben – mit Galgenhumor. Darüber hinaus fiel mir irgendwann auf, dass es grundsätzlich eher eine ziemlich düstere Angelegenheit ist, eine Frau zu sein. Nur ist im Gegensatz zur Realität das Bild, das wir von Frauen haben, ja immer eher weich und zugänglich. Und es ging mir darum, diese beiden Seiten, diese beiden Extreme miteinander zu verbinden.
Carey Mulligan: Für mich ging es in erster Linie darum, Emerald zu vertrauen und mir nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, wie der Ton des Films rüberkommt oder um welchen Ton es sich überhaupt handelt. Ich bin früher oft sehr verbissen an die Dinge herangegangen und musste immer eine genaue Vorstellung davon haben, wie ich meine Rollen spiele. Aber diesmal hatte ich das Gefühl, dass ich immer entspannter wurde, je mehr ich mich auf Emerald verließ. Ich wusste, dass sie, egal was ich tun würde, das Ganze in die richtige Form bringen würde. Und dabei ging es, wie gesagt, weniger um den Ton als darum, dass ich versuchte, Cassie so ehrlich wie möglich zu spielen und offen mit der Figur umzugehen, auch wenn das für mich bedeutete, ein ganzes Stück weit aus meiner eigenen Komfortzone herauskatapultiert zu werden.
Einmal wird Cassie im Film als Soziopathin bezeichnet. Können Sie nachvollziehen, dass sie von ihrer Umwelt so wahrgenommen wird?
Carey Mulligan: Ja, sicher. Ich verstehe sogar sehr gut, warum die Person, die das im Film sagt, das in dem Moment so sieht. Aber das heißt ja nicht, dass ich dem zustimme. Ich denke, Soziopathen sind Menschen, die kein Mitgefühl haben, aber das trifft auf Cassie nicht zu. Sie ist voller Empathie und sie ist emotional. Vielleicht heult sie nicht immer gleich drauf los, aber das heißt ja nicht, dass sie keine Gefühle hat. Die hat sie sehr wohl, vor allem für die Menschen, die ihr etwas bedeuten.
Haben Sie in den letzten Jahren in der Hinsicht einen Richtungswechsel bemerkt? Gibt es mehr komplexe Frauenfiguren dieser Art, die Ihnen angeboten werden?
Carey Mulligan: Ich denke, dass es grundsätzlich mehr interessante Rollen für Frauen gibt. Das schon. Aber die Reaktion auf diese Figuren ist oftmals immer noch sehr archaisch. Selbst die Figur, die ich in Paul Danos Wildlife spiele, wurde von manchen Leuten auf bizarre Weise problematisiert, weil sie nach Ansicht einiger Zuschauer eine schlechte Mutter und überhaupt insgesamt eine schreckliche Person ist, die ihren Mann betrügt und das vor den Augen ihres Sohnes. Während eines Filmgesprächs, an dem ich teilnahm, hat sich ein Mann derart darüber aufgeregt, dass er richtig wütend wurde, weil er mit der Repräsentation von Frauen und Muttersein nicht einverstanden war. Er konnte nicht verstehen, dass sie einfach eine ganz normale Frau ist, ein Mensch mit allen Fehlern und Schwächen. Anderseits hatten die meisten Leute nichts gegen Jake Gyllenhaals Figur einzuwenden, einen Vater, der Frau und Kind im Stich lässt.
Emerald Fennell: Schockierend.
Carey Mulligan: In der Tat, schockierend. Mit anderen Worten: Ich glaube schon, dass es mittlerweile mehr komplexere Geschichten gibt, die erzählt werden. Aber oftmals ist unsere Reaktion auf das, was wir sehen, immer noch veraltet und bedarf einer Aktualisierung beziehungsweise eines zeitgemäßen Neuansatzes.
Haben Sie in Ihrem Leben schon einmal selbst mit dem Gedanken gespielt, sich an jemandem zu rächen?
Emerald Fennell: Ich persönlich habe sicher ein paar Leute auf dem Gewissen. (Lacht.) Aber natürlich nur in meiner Fantasie. Das ist ja das Tolle an Filmen, dass man den Leuten auf der Leinwand dabei zuschauen kann, wie sie Dinge tun, die man sich selbst nie trauen würde. Vor allem Rache-Thriller sind in der Hinsicht kathartisch, weil sie eben nicht real sind. Ich vermute, im wahren Leben Rache zu üben, ist eine ziemlich düstere, kalte Angelegenheit. Carey, wie sieht es bei dir aus? Mir fällt kein Beispiel ein.
Carey Mulligan: Mir auch nicht.
Noch nicht mal in der Schule? Eine kleine Gemeinheit unter Freundinnen?
Carey Mulligan: Nein. Ich wollte immer von allen gemocht werden. (Lacht.) Erbärmlich, ich weiß.
Emerald Fennell: Das bringt die Sache auf den Punkt. Ich bin auch viel zu sehr ein „people pleaser“. Ich will es immer jedem recht machen. Und ich kenne auch, glaube ich, niemanden, der jemals aktiv Rache geübt hat. Ich denke, manche Menschen können bestimmte Dinge schwer vergessen oder verzeihen und das bedrückt sie dann lange Zeit, manchmal für immer. Aber das gehört zu dem emotionalen Ballast dazu, den man als Erwachsener mit sich rumträgt. Deshalb zieht man nicht gleich los und sinnt auf Rache. Man lernt eher, damit umzugehen, und das funktioniert mal besser und mal schlechter.
Emerald, Sie haben bereits in „Klling Eve“ ein großartiges Händchen in Sachen Casting bewiesen. Warum war Carey Mulligan für Cassie die Richtige?
Emerald Fennell: Ich habe wirklich gebetet, dass Carey die Rolle annimmt, weil es für mich keine andere Cassie gab. Ich schickte ihr das Drehbuch und einen Bettelbrief und dazu die Songs, die ich im Film haben wollte. Und Gott sei Dank, sie hat Ja gesagt. Aber warum ich gerade auf sie fixiert war, ist leicht zu erklären: Es brauchte jemanden wie Carey, um diese tonalen Schwankungen, von denen wir eben schon gesprochen haben, glaubwürdig wirken zu lassen. Cassie musste eine voll ausgeformte Figur sein mit all ihren Widersprüchen – eine reale Person in einer leicht überdrehten Welt. Ohne sie wäre das ganze Konzept einfach nicht aufgegangen. Und die Leute denken jetzt vielleicht, oh, das ist aber mal eine ganz andere Rolle für Carey Mulligan. Aber wenn man es sich einmal recht überlegt, ist ihre Filmografie viel interessanter, als man denkt. An Education, Drive, Wildlife, Mudbound, das sind alles fantastische Rollen, weil sie so gut darin ist, hinter ihren Figuren zu verschwinden. Und in der Hinsicht ist ihre Rolle in Promising Young Woman nicht so weit von Drive oder Shame entfernt. Überhaupt Shame! Man vergisst das immer so leicht, aber auch das ist Carey Mulligan. Großartig.
Was hat Sie an dieser Figur im Vergleich zu beispielsweise Ihrer Rolle in „Shame“ am meisten gefordert, Carey?
Carey Mulligan: Die emotionale Komplexität hat mir nichts ausgemacht, danach suche ich immer, wenn ich eine Rolle annehme. Ich würde sagen, Paris Hilton zu lip-synchen, wenn kein anderer die Musik hören kann, war eine ziemliche Herausforderung. Kein Scherz.
Sie sind diesmal auch als Produzentin tätig gewesen.
Emerald Fennell: Fragen Sie sie bloß nicht danach. Sie wird die Sache nur herunterspielen…
Carey Mulligan: Gar nicht. Ich spiele nichts herunter, aber es war wirklich keine große Sache.
Wären Sie denn daran interessiert, auch einmal etwas Eigenes zu entwickeln? Vielleicht wie Emerald oder Ihre Kollegin und Mitproduzentin Margot Robbie?
Carey Mulligan: Ich glaube, das hat viel damit zu tun, wo man gerade mit sich und seinem Leben ist. Ich habe zwei kleine Kinder, das reicht mir im Moment. Und es kommt ja auch immer darauf an, worin man seine Leidenschaft sieht. Für mich ist das die Schauspielerei. Ich bin immer noch jedes Mal aufgeregt, wenn ich ein neues Drehbuch in den Händen halte, in das ich mich vertiefen kann. Vielleicht ändert sich das irgendwann einmal, ich weiß es nicht. Und wahrscheinlich werde ich auch mal was Eigenes machen. Im Moment habe ich kein Interesse daran, aber das kommt hoffentlich noch.
Emerald Fennell: Wenn du keine Lust darauf hast, solltest du dich nicht dazu zwingen. Tu es, wenn du denkst, dass es dir Spaß macht. Ansonsten lass es. Du bist auch so toll genug!