In „Wildlife“, dem beeindruckenden Regiedebüt von Paul Dano, wird eine familiäre Krise zum Spiegel für einen Zeitenwandel.
Ein Bild zu Anfang macht gleich einmal deutlich, wie es um die Aufstellung von Familie Brinson bestellt ist. In einer der ersten Szenen hat man während einer Mahlzeit am Tisch in der Küche ihres kleinen Hauses Platz genommen. Die Ehepartner Jerry (Jake Gyllenhaal) und Jeanette (Carey Mulligan) sitzen einander gegenüber, ihr 14-jähriger Sohn Joe (Ed Oxenbould) dazwischen an der Längsseite, und die Totaleinstellung, die den Blick auf das Szenario eröffnet, nimmt vorweg, dass Joe schon bald so ziemlich das einzig Verbindende sein wird, das diese Ehe noch aufzuweisen hat.
Eine ganz normale Familie
Doch zu Beginn von Wildlife scheint die Welt der Brinsons, einer für die Vereinigten Staaten des Jahres 1960 typischen Familie, noch in Ordnung zu sein. Der Umzug nach Great Falls, Montana, markiert eine Art von Neuanfang, mit dem man sich sein Stück vom „American Dream“ zu erobern hofft. Dazu verhelfen soll der neue Job, den Jerry als Golf Pro im noblen örtlichen Club antritt. Wobei die Berufsbezeichnung ein wenig die wahre Natur dieser Arbeit verklärt, denn sie besteht im Wesentlichen aus Hilfsdiensten, die irgendwo zwischen Hausmeister und Leibeigenem angesiedelt sind. In einer markanten Szene muss Jerry einem der Clubmitglieder die Spikes an den Schuhen reinigen, während der ihm in Feudalherrenart die Füße entgegenstreckt. Obwohl Jerry eigentlich ganz gut mit all dem umzugehen versteht, wird er schon nach kurzer Zeit wieder entlassen. Die Gründe dafür bleiben ein wenig diffus, doch die Auswirkungen auf das Familienleben sind umso deutlicher, denn der Traum vom bürgerlichen Wohlstand weicht der Angst vor dem sozialen Absturz.
Dass Jerry das kurz nach seiner Kündigung überraschende Angebot, doch wieder die Arbeit im Golfclub aufzunehmen, aus verletztem Stolz kühl zurückweist, macht die Lage auch nicht besser. Die ersten Risse in der Beziehung werden sichtbar, wobei sich zeigt, dass die Ursprünge dafür offenbar weiter zurückliegen. So sind etwa die Auffassungen, wie man sozialen Aufstieg und beruflichen Erfolg zu gestalten hat, durchaus unterschiedlich. Dass der etwas nonkonformistische agierende Jerry bereits mehrfach Jobs aufgegeben hat, kommentiert die eher pragmatische Jeanette trocken mit: „He likes to take a shortcut.“ Die Eigenwilligkeit ihres Ehemanns wird augenscheinlich, als Jerry die Entscheidung trifft, sich als Helfer bei der Bekämpfung der sommerlichen Waldbrände in den Weiten Montanas zu verdingen – ein eher schlecht bezahlter Job, der auch noch gefährlich ist. Zudem muss Jerry seine Frau und den Sohn allein in Great Falls zurücklassen, was die Gräben in der Beziehung zusätzlich vertieft.
Paul Dano hat für sein in jeder Hinsicht beeindruckendes Regiedebüt Wildlife den gleichnamigen Roman von Richard Ford adaptiert, zusammen mit seiner Lebens- und Arbeitspartnerin Zoe Kazan – die Enkeltochter von Elia, bekanntermaßen einer der ganz großen Regisseure der klassischen Hollywood-Ära – hat er auch das Drehbuch verfasst. Als Schauspieler gelang es dem 1984 geborenen Dano, sich schon in einer frühen Phase seiner Karriere als einer der spannendsten und vielseitigsten Talente seiner Generation zu etablieren. Seinen ersten ganz großen Auftritt lieferte er in Paul Thomas Andersons There Will Be Blood (2007) ab, in dem er in der Rolle des ebenso fanatischen wie durchtriebenen Predigers Eli Sunday auf sich aufmerksam machen konnte. Dass er dabei gleich auf Augenhöhe mit Daniel-Day Lewis, der seinen großen Antagonisten spielt, zu agieren verstand, verriet schon viel über Paul Danos Potenzial. Es folgten Zusammenarbeiten mit Regiegrößen wie Ang Lee (Taking Woodstock, 2009), Kelly Reichardt (Meek’s Cutoff, 2010) und Denis Villeneuve (Prisoners, 2013), aber auch immer wieder Rollen in Big-Budget-Produktionen – wobei Dano vorwiegend in markanten Nebenrollen auftrat – wie etwa in James Mangolds Knight and Day (2010), Cowboys & Aliens (Jon Favreau, 2011) oder Looper (Rian Johnson, 2012). Dass Dano zudem eine ausgeprägte Affinität für das Independent-Kino aufweist, zeigte er in For Ellen (2012) mit seiner wunderbaren Leistung in der Rolle eines abgehalfterten Rockmusikers, der nach einer hässlich verlaufenen Trennung versucht, die Beziehung zu seiner Tochter wiederaufzubauen. Jede Menge Lob erntete Dano für seine kongeniale Darstellung von Brian Wilson, dem legendären Gründungsmitglied der Beach Boys, in dem fabelhaften Biopic Love & Mercy (2014).
Beinahe logisch erscheint, dass der großartige Schauspieler für seine erste Regiearbeit eine auf den ersten Blick einfache Geschichte gewählt hat, die weitgehend von den Schauspielern getragen wird. Dass der Regisseur Dano die Führung seiner Darsteller beherrscht, zeigt sich angesichts der formidablen Leistung des Ensembles sehr deutlich. Doch Wildlife erweist sich als weit mehr als ein gut gespieltes Drama um eine Beziehung, die in die Krise gerät, nämlich als vielschichtige, nuancierte Arbeit, die aus einer individuellen Konfliktsituation heraus ein Stimmungs- und Sittenbild der US-amerikanischen Gesellschaft zeichnet, die an der Schwelle eines großen Umbruchs steht.
Zwischen den Fronten
Um den konventionellen Bahnen eines solchen Beziehungsdramas weitgehend auszuweichen, bedient sich Paul Danos Inszenierung eines narrativen Kunstgriffs, indem – nicht ausschließlich, aber über weite Strecken – die Perspektive von Joe eingenommen wird. Der Teenager, der, seinem Alter gemäß, ohnehin mit den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens konfrontiert ist, rückt ins Zentrum, wo er Zeuge des stetigen Auseinanderdriftens seiner Eltern wird. Obwohl natürlich auch stark involviert, erscheint Joe phasenweise wie ein zwischen die Fronten geratener Vermittler auf einem Kriegsschauplatz. Irgendwie hilflos bleibt ihm nur, die Auseinandersetzungen zu beobachten, nachdem seine zaghaften Interventionsversuche allesamt ins Leere laufen.
Dabei verläuft das Ganze zumeist ohne jene Blut-und-Tränen-Dramatik, mit der solche Konfliktsituationen üblicherweise einhergehen. Dass die gewohnten Familienstrukturen langsam aber unaufhaltsam instabil werden, ist nämlich im Grunde das Resultat von Emanzipationsprozessen unterschiedlicher Art, die die Protagonisten durchlaufen. Jerry etwa verweigert sich dem für die US-amerikanische Gesellschaft – insbesondere für die Zeit der beginnenden sechziger Jahre – typischen Materialismus und entscheidet sich für einen eher schlecht entlohnten Job in der Waldbrandbekämpfung. Dass dabei Distanz zu seiner Frau entsteht, um den sich aufbauenden Spannungen ausweichen zu können, mag ihm nicht ganz unrecht sein, doch dass Jerry nicht alles dem beruflichen und damit verbundenen finanziellen Erfolg bis zur Selbstverleugnung unterordnet, hat sich schon anhand seines Verhaltens im Golfclub deutlich manifestiert. Mit einer solchen Einstellung muss man in den USA des Jahres 1960, noch dazu in einem traditionalistisch geprägten Staat wie Montana, mit den vorherrschenden Wertvorstellungen fast zwangsläufig in Konflikt geraten. Das Ausweichen in die Natur mit ihren weiträumigen Landschaften wird für Jerry Brinson auch so etwas wie eine Flucht aus jener Enge, die aus den gesellschaftlichen Zwängen in einer Gemeinde wie Great Falls resultieren.
Auch Jeanette entspricht nicht jenem Bild der Ehefrau, wie es in den Vereinigten Staaten jener Tage weit verbreitet ist. Ihr Agieren ist ebenfalls durchaus unkonventionell, indem sie sich der Rolle als – zumindest nach außen hin – perfekte Hausfrau und Mutter zu verweigern beginnt. Dass sie sich nicht einfach darauf beschränken will, allein für den Haushalt Sorge zu tragen und ansonsten wie gottergeben darauf zuwarten, bis ihr Mann die Episode als Feuerwehrmann in der Wildnis hinter sich gebracht hat, ist da nur der erste Schritt. Jeanette wird auch im weiteren Verlauf ihr Leben zusehends selbst in Hand nehmen, sich – für eine (Ehe-) Frau in diesen Tagen ein durchaus schwieriger Prozess – einen Job suchen und auch sonst das gesellschaftliche Korsett, das man ihr anlegen will, auf mehreren Ebenen sprengen. Eine Affäre, die sie mit einem älteren Mann beginnt, erscheint weniger emotionale Angelegenheit zu sein als vielmehr ein Revoltieren gegen die ihr zugedachte Rolle und den damit verbundenen Konventionen. Dass sie sich wenig Mühe gibt, diese Liaison vor ihrem Sohn zu verbergen, erscheint nur als konsequenter Schritt in Sachen Emanzipation, so als wollte Jeanette Brücken abbrennen, um eine Rückkehr in ihr „altes“ Leben unmöglich zu machen. Dazu gehört auch, als Mutter nicht um jeden Preis perfekt agieren zu müssen. „You have to like me the way I am“, wird sie dem ein wenig konsternierten Joe erklären, was jedoch keineswegs Gleichgültigkeit oder gar einen Mangel an Liebe gegenüber ihrem Sohn ausdrückt. Es ist vielmehr die schlichte Feststellung, dass es wenig Sinn hat, Fassaden nur um der Konvention willen aufrechtzuerhalten.
Es zählt zu den großen Stärken von Paul Danos Inszenierung, die sich auch immer wieder Zeit für Zwischentöne nimmt, dass dieser Prozess der Entfremdung nicht als Abfolge lautstarker Konflikte erfolgt, sondern vielmehr als langsames Sich-voneinander-Entfernen, bei dem Schuldzuweisungen fehl am Platz sind und folgerichtig auch weitgehend ausbleiben. Dano hat mit Wildlife nämlich auch ein höchst stimmiges Period Piece in Szene gesetzt, das all jene Zwänge und Erstarrungen deutlich macht, die mit den verkrusteten Gesellschaftsstrukturen dieser Zeit einhergingen. Die gegenkulturellen Umbrüche, die wenige Jahre später die Vereinigten Staaten erfassen und zu einer offeneren Gesellschaft führen sollten, werfen jedoch in Gestalt von Familie Brinson ihre Schatten voraus. Persönliche, individuelle Lebensentwürfe stehen dabei vor dem Erfüllen von Konventionen und fassadenartigen gesellschaftlichen Normen, die in ihrer Starrheit alles zu ersticken drohen.
Dass ein solcher Prozess bei aller Notwendigkeit Verwerfungen und Verletzungen emotionaler Natur mit sich bringt, auch das macht Wildlife erfrischend undogmatisch deutlich. Hierfür findet Paul Dano ein weiteres kongeniales Bild. Joe nimmt neben der Schule einen Teilzeitjob bei einem Fotografen an, der sich auf Familienbilder spezialisiert hat, und zwar auf solche, deren demonstrativ zur Schau gestellte Glückseligkeit auch ein wenig bizarr anmutet. „We help them to keep those happy moments“, wird Joe von seinem Chef instruiert. Der junge Mann wird am Schluss erkennen, dass sich Glücksmomente eben nicht zwanghaft auf ewig festhalten lassen.