Alex Gibney, Charles Ferguson, Andrew Jarecki und Laura Poitras – eine kleine Orientierung zur Arbeit von Filmschaffenden, die mit ihrem stets kritischen Blick nicht nur den US-amerikanischen Dokumentarfilm prägen.
Im Interview ab S. 22 spricht Joe Berlinger die derzeit große Popularität des Dokumentarfilms an, von der viele der in diesem Genre aktiven Filmschaffenden profitieren würden: „The rising tide lifts all boats“ formuliert Berlinger diesen Höhenflug. Eine Auswahl der bedeutendsten Protagonisten dieser Welle ist naturgemäß subjektiv und deshalb immer diskutabel. Dennoch kann zumindest darüber wenig Zweifel herrschen, dass die eingangs aufgeführten Regisseurinnen und Regisseure sich über die vergangenen zwei Jahrzehnte als herausragend in ihrem Fach etabliert haben und mit ihren Arbeiten – so unterschiedlich sie thematisch und stilistisch auch sein mögen – Marksteine setzen.
Alex Gibney – der Systemkritiker
Alex Gibney als fleißig zu bezeichnen, erscheint angesichts seiner Produktivität eine Untertreibung größeren Ausmaßes. Seit 2019 haben sechs seiner Filme ihre Premiere erfahren, bei zwei weiteren TV-Serien hat er bei insgesamt drei Episoden Regie geführt. Allein Gibneys Arbeitsumfang ist beeindruckend, umso mehr, als seine Filme von ihren Sujets her einen großen Rechercheaufwand in sich tragen. Dass seine Produktionen in der fertigen Fassung das jeweilige Thema präzise aufarbeiten und, was die formale Gestaltung angeht, als detailgenaue Kompositionen erscheinen, verdeutlicht, warum Alex Gibney eine der führenden Kräfte im Dokumentarfilm ist.
1953 in New York geboren, studierte er zunächst an der Universität Yale, nach seinem dortigen Abschluss setzte er seine Ausbildung an der renommierten Filmschule der UCLA fort. 1980 konnte er mit The Ruling Classroom – zusammen mit Peter Bull als Ko-Regisseur – seinen ersten eigenen Film drehen und arbeitete des Weiteren als Drehbuchautor für dokumentarische Produktionen. So verfasste Gibney etwa das Skript zu Eugene Jareckis The Trials of Henry Kissinger (2002).
Der große Durchbruch gelang Gibney mit seiner Aufarbeitung eines gigantischen Wirtschaftsskandals. Enron: The Smartest Guys in the Room (2005) beleuchtet die Vorgänge um den Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron, der 2001 Insolvenz anmeldete und im Zuge diese Verfahrens Bilanzfälschungen im großen Stil eingestehen musste. Anhand von Enron zeigen sich die für Gibneys filmische Arbeiten charakteristischen Merkmale auf exemplarische Weise. Das beginnt mit der Auswahl eines Themas, das über seine eigentliche Brisanz hinaus auf größere gesellschaftliche Problemfelder verweist. „Was Enron the work of a few bad men or the dark shadow of the American Dream?“ Mit diesem Off-Kommentar zu Beginn des Films wird bereits darauf verwiesen, dass, wie Gibney in Enron deutlich macht, es eines Systemversagens auf mehreren Ebenen bedurfte, um den – auf Sand gebauten – Aufstieg eines Konzerns, dessen Aktienkurse in die Höhe schossen, obwohl es immer wieder Fragen über die Profitabilität der Geschäfte gab, zu ermöglichen. Die enge Beziehung zwischen dem Enron-Gründer Kenneth Lay – er und der Vorstandsvorsitzende Jeff Skilling firmierten konzernintern als die „smartest guys in the room“ – und der Familie Bush – Lay unterstützte etwa die Wahlkämpfe von George W. – waren da nur ein Faktor. Gibney rekapituliert das Geschehen, indem er Beteiligte wie ehemalige Enron-Mitarbeiter, aber auch die Journalistin Bethany McLean, die schon früh ein kritisches Auge auf den Konzern geworfen hatte, zu Wort kommen lässt. Dazu montiert Gibney Archivmaterial, um so ein ungemein dichtes Bild zu zeichnen, das bei aller Genauigkeit die Spannung eines (Wirtschafts-)Thrillers hat. Zudem wird besonders anhand jenes Bildmaterials, das eingesetzt wird, um Interview-Aussagen zu illustrieren, Gibneys Gespür für hintersinnige Ironie auf visueller Ebene deutlich.
In jüngerer Vergangenheit hat sich Alex Gibney erneut mit einem Fall von Betrug auf höchster Ebene, der Corporate America erschütterte, befasst. The Inventor: Out for Blood in Silicon Valley (2019) betrachtet Aufstieg und Fall von Elizabeth Holmes, der Gründerin des Biotech-Startups Theranos. Die dort entwickelte Analysemethode sollte es ermöglichen, hunderte von Krankheiten mittels eines Blutstropfens vorhersagen zu können und damit die Diagnostik zu revolutionieren. Dass die ganze Geschichte in der Praxis nur äußerst unzureichend funktionierte, schien – ähnlich wie im Fall von Enron – kaum jemandem aufzufallen, auch weil es der Erfinderin Holmes gelungen war, ihr Produkt nach außen meisterhaft zu promoten. Die genau orchestrierte Außendarstellung von Elizabeth Holmes – die dabei wohl nicht zufällig fast immer im schwarzen Rollkragen-pullover auftritt, um schon mit ihrem Outfit Assoziationen mit Steve Jobs hervorzurufen – verdeutlicht Gibney mit einer Reihe von Aufnahmen ihrer zahlreichen öffentlichen Auftritte und Imagefilmen von Theranos. Holmes’ Überzeugungskraft lässt sich allein daran ablesen, dass Theranos noch 2015 ein Wert von neun bis zehn Milliarden Dollar zugeschrieben worden war. Nur wenig später brach das Kartenhaus zusammen, im Jänner dieses Jahres wurde die Erfinderin wegen diverser betrügerischer Machenschaften schuldig gesprochen. Enron und The Inventor demonstrieren, wie kongenial Alex Gibney es versteht, höchst komplexe Themen umfänglich zu rekapitulieren, verständlich zu machen und neue Einsichten zu generieren.
Mit dieser Herangehensweise hat Gibney eine ganze Reihe höchst brisanter Themen angepackt. In Taxi to the Dark Side (2007) griff er anhand des Schicksals eines afghanischen Taxifahrers, der als Terrorverdächtiger – obwohl völlig unschuldig – in der US-Militärbasis Bagram festgesetzt wurde und dort an den Folgen von Folter verstarb, die schmutzigen Seiten des von Präsident George W. Bush ausgerufenen „War on Terror“ auf. Taxi to the Dark Side trug ihm unter zahlreichen anderen Preisen auch einen Oscar ein, nachdem bereits Enron für diese Auszeichnung nominiert worden war. Mea Maxima Culpa: Silence in the House of God (2012) thematisiert Fälle von Missbrauch durch katholische Priester samt dem systematischen Machtmissbrauch im Umgang mit diesen Verbrechen, The Armstrong Lie (2013) widmet sich dem weithin bekannten Dopingskandal um den berühmten Radrennfahrer. Zu Gibneys aufsehenerregendsten Arbeiten zählt zweifellos Going Clear: Scientology and the Prison of Belief (2015), mit der er die – zurückhaltend formuliert – äußerst fragwürdigen Praktiken und die autoritären Züge der umstrittenen Sekte offenlegte.
Bemerkenswert ist auch Catching Hell (2011), den Gibney im Auftrag des Sportsenders ESPN im Rahmen der Reihe „30 for 30“ drehte. Anhand eines eher harmlosen Vorfalls bei einem Baseballspiel – ein Zuschauer versucht einen Ball zu fangen, der noch im Spiel ist, was für die Mannschaft der Chicago Cubs fatale Auswirkungen hat – verweist Gibney vielschichtig auf eine gesellschaftliche Tendenz zu gefährlich-hysteroiden Überreaktionen. Crazy, Not Insane (2020) erweist sich wiederum als feinsinniges Porträt von Dr. Dorothy Otnow Lewis, die sich mit der Psychologie von Gewalttätern auseinandersetzt und als Expertin in den Verfahren berüchtigter Straftäter wie Arthur Shawcross, Mark David Chapman oder Joel Rifkin hinzugezogen wurde.
Zuletzt widmete sich Alex Gibney jedoch mit der zweiteiligen Miniserie The Crime of the Century (2021) wieder einem Thema, das die Vereinigten Staaten seit längerem erschüttert: der Opiodkrise, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten hunderttausende Menschen das Leben kostete.
Charles Ferguson – der Entrepreneur
Im Gegensatz zu dem unfassbar produktiven Alex Gibney nimmt sich das Œuvre von Charles H. Ferguson zahlenmäßig mit gerade einmal vier Regiearbeiten recht schmal aus. Das ist jedoch dem ungewöhnlichen Karriereweg des filmischen Quereinsteigers geschuldet. Der 1955 geborene Ferguson studierte Mathematik an der Universität von Kalifornien, Berkeley und Politikwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology. Die von ihm in den neunziger Jahren gegründete Firma Vermeer Technologies entwickelte das zur Erstellung von Websites benutzte Programm FrontPage, als Microsoft 1996 schließlich Vermeer übernahm, betrug der Kaufpreis 133 Millionen Dollar. Ferguson konnte damit schließlich seinem lang gehegten Interesse am Medium Film nachgehen. Dass dies keineswegs das Steckenpferd eines zu Reichtum gelangten Technologie- Entrepreneurs war, wurde bereits mit seinem Debütfilm No End in Sight (2007) deutlich. Die kritische Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Besetzung des Irak nach dem Sturz Saddam Husseins wurde hoch gelobt, für einen Oscar nominiert und etablierte Charles Ferguson als bedeutende Stimme des US-amerikanischen Dokumentarfilms– eine Position, die er mit Inside Job (2010) festigte. Seine Betrachtung der Finanzkrise trug Ferguson den Oscar ein. Nachdem er mit Time to Choose (2015) den Klimawandel thematisiert hatte, wandte sich Ferguson der Arbeit an seinem Opus Magnum zu: Watergate (2018). 262 Minuten lang rollt er die Hintergründe um den größten Skandal der US-amerikanischen Innenpolitik auf.
Formal erscheint Fergusons Zugang eher traditionalistisch. Mittels Archivmaterial und ausführlichen Interviews mit Zeitzeugen rekapituliert Watergate minutiös die Geschehnisse – und vor allem die Machinationen Richard Nixons und seiner Helfershelfer, die weit über den Einbruch des sich im titelgebenden Gebäudekomplex befindlichen Hauptquartiers der Demokratischen Partei hinausgingen –, die schließlich Nixon1974 zum Rücktritt vom Amt des Präsidenten zwangen. Zu Wort kommen so gegensätzliche Protagonisten wie die Journalisten der „Washington Post“ Bob Woodward und Carl Bernstein, deren unermüdliche Nachforschungen wesentlich zur Aufdeckung der Affäre beigetragen haben und John Dean, damals einer der Rechtsberater Nixons. Ausführlich geht Ferguson auf die Tonbandmitschnitte ein, mit denen Richard Nixon heimlich Gespräche im Weißen Haus aufzeichnen ließ. Mittels Re-Enactment werden diese Aufnahmen präsentiert, die abseits der politischen Inhalte vor allem die dunkle, niederträchtige Seite von Nixons Charakter deutlich machen. Watergate ist nicht nur eine detailgenaue Aufarbeitung eines bedeutenden Kapitels der Zeitgeschichte, das auch angesichts der Fülle des Materials immer hochspannend bleibt, Fergusons Chronik des Skandals gelingt es auch, die aktuellen Bezüge deutlich zu machen (schon der Untertitel „How We Learned to Stop an Out Of Control President“ verweist darauf). Die systematische Verunglimpfung der Medien durch konservative Kräfte, die Donald Trump auf die Spitze getrieben hat – und dies weiterhin tut – hat nämlich damals ihren Anfang genommen. Pat Buchanan, der eine Rede verfasste, in der Nixons Vizepräsident Spiro T. Agnew genau diese Attacken geritten hatte, merkt dazu in Watergate an: „That is the beginning of the war against the media that exists to this day.“
Andrew Jarecki – der Aufdecker
Der Schlussakkord in Andrew Jareckis sechsteiliger Serie The Jinx (2015) erscheint wie der „Once-in-a-Lifetime“-Moment für einen Dokumentaristen. Als der des Mordes verdächtige Robert Durst am Ende des abschließenden Interviews, in dem Jarecki ihn mit neuem Beweismaterial konfrontiert hat, aufsteht, um auf die Toilette zu gehen, vergisst Durst, der alle Anschuldigungen zurückgewiesen hatte, dass er noch verkabelt ist. Und so entstehen jene Aufnahmen, die für Schlagzeilen sorgen sollten, als der sich unbeobachtet fühlende Durst minutenlang vor sich hin murmelt und dabei Sätze wie „There it is. You’re caught. They’re right obvious. What the hell did I do? Killed them all of course.“ Damit sollte Jareckis ohnehin schon aufsehenerregender Dokumentation, die vollständig den vielsagenden Titel The Jinx: The Life and Deaths of Robert Durst trägt, eine Aufmerksamkeit von ungeahntem Ausmaß zuteil werden. Dabei war schon die Entstehung von The Jinx eine beinahe drehbuchreife Angelegenheit. Jarecki hatte sich der brisanten Lebensgeschichte des exzentrischen Millionenerben bereits mittels eines Spielfilms angenommen. Robert Durst, dessen Familie dank ihres Immobilienbesitzes so vermögend ist, wie es Donald Trump gern wäre, war bereits 1984 in die Schlagzeilen geraten, als seine Frau Kathleen spurlos verschwunden war und er in Verdacht geriet, dafür verantwortlich zu sein. Später tötete er in Texas einen Mann, sein Anwalt Dick DeGuerin erreichte jedoch einen Freispruch wegen Notwehr. Als Robert Dursts langjährige Vertraute Susan Berman im Dezember 2000 erschossen in ihrem Haus in Los Angeles aufgefunden wurde, war Durst erneut ein Hauptverdächtiger.
In Jareckis All Good Things (2010) heißt die von Ryan Gosling gespielte Hauptfigur zwar David Marks, doch es gibt keinen Zweifel, dass es sich um Robert Durst handelt. Obwohl All Good Things darauf hindeutet, dass Marks/Durst seine Frau getötet hat, zeichnet Jarecki seinen Protagonisten nuanciert und verweist etwa auf dessen höchst problematisches familiäres Umfeld. Eine Darstellung, die Durst offensichtlich so treffend fand, dass er, der sich vor Medien stets weitgehend zurückgehalten hatte, Jarecki kontaktierte und dem Regisseur ein Interview anbot. Das war die Grundlage für The Jinx. In sechs Episoden rollt Jarecki mittels Archivmaterial, einer Fülle von Interviews – im Zentrum stehen jene mit Durst –, Re-Enactment und eigenen Nachforschungen die Geschehnisse auf. Immer wieder thematisiert Jarecki zudem anhand mitgefilmter Besprechungen mit seinem Team, wie weit man als Dokumentarist mit eigenen Ermittlungen gehen dürfe. Eine Frage, die mit dem finalen Akt virulent wurde. Dursts heimlich aufgenommenes Geständnis führte zu einer Intensivierung der bereits gegen ihn laufenden Ermittlungen. Im Oktober 2021 wurde Robert Durst wegen des Mordes an Susan Berman schließlich schuldig gesprochen, er starb am 10. Jänner diesen Jahres in der Haft.
Sein Gespür für heikle Themen hatte Jarecki bereits mit seiner Oscar-nominierten Regiearbeit Capturing the Friedmans (2003) unter Beweis gestellt. Darin beleuchtet er die Geschichte einer gutbürgerlichen Familie, deren Leben aus den Fugen gerät, als Arnold, Ehemann, Vater und allseits respektierter Lehrer, wegen des Besitzes kinderpornografischen Materials angeklagt wird.
Laura Poitras – die Aktivistin
Das Aufdecken von Schwachstellen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen stand von Anfang an im Zentrum von Laura Poitras’ Arbeit. Flag Wars (2003) thematisierte anhand zweier örtlicher Gemeinden in Ohio Konflikte, die der Prozess der Gentrifizierung nach sich zog, in My Country, My Country (2006) verweist Poitras darauf, welche Probleme die Inva-
sion des Irak durch die Vereinigten Staaten für das alltägliche Leben der dort ansässigen Menschen verursachte. Ein ganz großer Wurf gelang ihr 2014 mit Citizenfour. Poitras war auch aufgrund ihrer engagierten Arbeit von Edward Snowden für vertrauenswürdig befunden und kontaktiert worden. Der Whistleblower bot ihr Informationen über die – mittlerweile hinlänglich bekannten – Umtriebe des US-Auslandsgeheimdienstes NSA an. In Citizenfour dokumentiert Poitras ihre Reise nach Hongkong, wo sich Snowden, dem eine Anklage wegen Geheimnisverrat drohte, versteckt hielt, und die dort folgenden Enthüllungen Snowdens, die die Regisseurin gemeinsam mit den Journalisten Glenn Greenwald und Ewen MacAskill aufzeichnete. Die Aufdeckung des Überwachungsprogramms, mit dem weltweit Millionen Bürger bespitzelt wurden, trug Citizenfour eine Reihe von Auszeichnungen, darunter den Oscar, ein. Auch in ihrem nachfolgenden Projekt scheute sich Laura Poitras nicht, erneut ein heißes Eisen anzufassen: Risk (2016) rückt den umstrittenen Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks, Julian Assange, in den Mittelpunkt.