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Auf trockenen Gräsern

Auf trockenen Gräsern

Meister der Totale

| Daniela Sannwald |
Nuri Bilge Ceylans neuer Film „Auf trockenen Gräsern“ führt nach Zentralanatolien.

Eine weite, weiße Landschaft erstreckt sich unter einem grau verhangenen Himmel, ein Horizont ist nicht auszumachen. Der einzige Farbtupfer ist das rote Dreieck eines Vorfahrt-achten-Schildes; es sticht aus der Eintönigkeit heraus, auch wenn nicht zu erkennen ist, wen dieses Schild eigentlich meint. Denn die unter all dem Schnee kaum zu erkennende Straße, die in das Bild hineinführt, ist genauso leer wie die Verkehrsader, auf die sie im Mittelgrund stößt und auf der langsam ein weißer Kleinbus von rechts herantuckert, an der Einmündung kurz stoppt und einen einzigen Fahrgast entlässt. Es ist ein dunkel gekleideter Mann mit einer Tasche, der Mühe hat, sich durchs Schneegestöber seinen Weg zu bahnen. Langsam kommt er näher. Nun wechselt die Perspektive, die Kamera ist jetzt hinter ihm und zeigt, wie weit die Strecke noch ist, die er offenbar zu bewältigen hat: Ganz hinten in der weißen Ödnis liegt eine Ansammlung von Häusern, kaum als solche zu erkennen, und man hofft, dass der Wanderer es noch bei Tageslicht schafft, das Dorf zu erreichen.

Diese ersten beiden Einstellungen in Nuri Bilge Ceylans neuem Film sind suggestiv und traumschön – nur ahnt man schon, dass daraus auch ein Albtraum werden könnte: Zu leer, zu weiß und zu weit ist die Landschaft, zu unwirtlich, um sich darin wirklich wohlfühlen zu können; auch wenn Samet, der Lehrer, der aus den Ferien an seinen Arbeitsort zurückgekehrt ist, schließlich in einer schummrig beleuchteten Männerwohnhöhle sitzt und mit seinem Mitbewohner Tee trinkt.

IM SCHNEE VERLAUFEN

Im Grunde sind das die beiden Motive, die drei Stunden lang die Atmosphäre in Auf trockenen Gräsern bestimmen: Die frostigen, grau-weißen großartigen Totalen, mitunter zu Standbildern eingefroren, wechseln ab mit schlammfarbenen Innenaufnahmen,erleuchtet nur von den Lichtquellen am Set, nicht durch zusätzliche Scheinwerfer. Und dass diese Höhlen auch sehr schnell zu Höllen werden können, davon erzählt dieser Film, der keine zwingende Handlung hat. Es geht um das Leben des Lehrers im zentralanatolischen Dorf, wohin er für vier Jahre versetzt wurde. Ein Ort, den der Mittdreißiger hasst, für den er sich zu klug und zu cool wähnt – natürlich träumt er davon, in Istanbul zu arbeiten. Aber nun ist er einmal hier, schwatzt mit den Kolleginnen und Kollegen im Lehrerzimmer, wird nach seiner Rückkehr aus den Ferien vom örtlichen Militärkommandanten und vom Tierarzt zum Tee empfangen; allen geht es darum, die Zeit herumzukriegen, von der man zu viel hat, wie von allem anderen offenbar zu wenig.

Der Unterrichtsstil in der Acht-Klassen-Schule ist autoritär, mitunter überprüfen der Direktor und eine Kollegin die Taschen der Kinder, die nur Schulsachen enthalten dürfen, kein Spiel- oder Schminkzeug, keine Tagebücher und erst recht keine Liebesbriefe. Bei der Siebtklässlerin Sevim findet sich jedoch ein solcher – noch dazu einer, den sie selbst an ihren Lieblingslehrer Samet geschrieben hat. Und Sevim ist auch die Lieblingsschülerin von Samet; das ist eindeutig, er hat ihr sogar einen kleinen Taschenspiegel aus dem Urlaub mitgebracht und ihr dann und wann den Arm um die Schultern gelegt. Den Brief kann er sich, als er deswegen zur Rede gestellt wird, nicht erklären. Seine Erregung ist umso größer, weil sein Gewissen nicht rein ist. Er nimmt den Brief an sich. Sevim kommt zu ihm und bittet ihn um Rückgabe, die Samet verweigert. Kurz darauf werden er und sein Mitbewohner Kenan zur Schulaufsichtsbehörde einbestellt. Es gebe Vorwürfe des ungebührlichen Verhaltens gegen beide, so der verlegene, aber beunruhigte Schulrat. Man habe die Beschwerde niedergeschlagen, aber er müsse sie dennoch warnen.

Dieser Vorfall schweißt die beiden erst in gemeinsamer Empörung zusammen, dann beschuldigen sie sich gegenseitig, schließlich verläuft die Angelegenheit im Sande – oder eigentlich im Schnee. Nuray, eine junge Lehrerin aus dem Nachbardorf, die sie gemeinsam kennenlernen, scheint sich erst für den einen, dann für den anderen zu interessieren, was die beiden gegeneinander aufbringt. Aber auch an dieser Front tritt Beruhigung oder eher Langeweile ein. Die Zeit vergeht sehr langsam – auf der Leinwand und davor.

MÄNNERLANDSCHAFTEN

Nuri Bilge Ceylan dreht seit nunmehr 25 Jahren – abgesehen von höchstens zwei Ausnahmen – eigentlich immer den gleichen Film, in dem misanthropische, misogyne, mufflige Männer sprechen oder gerade nicht, aneinander und an sich selbst leiden, sich am falschen geografischen und sozialen Ort wähnen und sich grundsätzlich für besser halten als ihr gesamtes Umfeld. Ceylans Helden sind hemmungslose Egozentriker, fast Soziopathen; Frauen sind für sie nicht existent, nicht ernst zu nehmen, allenfalls Beute oder Projektionsfläche. Sie sitzen, allein oder zusammen, in dunklen Räumen, rauchen, trinken Tee, räsonieren über die eigene Unzufriedenheit, sind mitunter wütend und wortgewaltig, dann wieder von hartnäckiger Schweigsamkeit. Sie legen wenig Wert auf ihr Äußeres, sind in dunkle, matte Farben gekleidet; sie leuchten nicht, niemals.

Nuri Bilge Ceylans Filme heißen – der Einfachheit halber seien die internationalen Verleihtitel genannt, die ziemlich direkte Übersetzungen aus dem Türkischen sind – Clouds of May (1999), Distant (2002), Climates (2006, dieser Film bildet allerdings eine Ausnahme von der behaupteten Regel), Three Monkeys (2008), Once Upon a Time in Anatolia (2011), Winter Sleep (2014), The Wild Pear Tree (2018) und eben About Dry Grasses. Es sind Titel, die Wetter, Landschaft, Natur und Jahreszeiten anklingen lassen, die Stimmung oder Atmosphäre heraufbeschwören, jene Atmosphäre nämlich, die Ceylan, der bei seinen ersten Filmen selbst hinter der Kamera stand, und sein Kameramann Gökhan Tiryaki, der ab Climates für ihn gearbeitet hat, in den charakteristischen weiten Totalen einfangen. Bei Auf trockenen Gräsern übernahmen zwei Kameramänner des ko-produzierenden Fernsehsenders TRT diesen Stil.

Die weiten Totalen sind Landschaftsaufnahmen, wie man sie vielleicht nicht einmal im Western zu sehen bekam, obwohl der Titel Once Upon a Time in Anatolia das amerikanische Genre anklingen lässt. Sie zeigen die Bedeutungslosigkeit der Menschen, die sich darin bewegen und die von ihr abhängig sind – die Unkontrollierbarkeit der äußeren Bedingungen führt zu Resignation bei denen, die sich damit arrangieren müssen. Es sind oft düstere, traurige, karge Landschaften voll trockener Gräser, die dem jüngsten Film seinen Titel geben und die man ganz am Ende sieht. Wo sie wachsen, gibt es nur zwei Jahreszeiten: kalte Winter und heiße Sommer; beide bringen die Unwirtlichkeit des Hochplateaus, das Zentralanatolien bildet, zur Geltung. „Du wirst nichts errungen haben als die Wüste in dir“, resümiert der Lehrer Samet seine Erkenntnisse, die er in seiner Zeit im Dorf gesammelt hat.

HEIMATLOS

Schon einmal hat es im türkischen Film einen Lehrer gegeben, der an den harten Lebensbedingungen im winterlichen Anatolien zu scheitern drohte: Erden Kirals mitunter dokumentarisch anmutender Film Hakkâri’de bir mevsim (Eine Saison in Hakkari) gewann 1984 auf der Berlinale den Spezialpreis der Jury, einen Silbernen Bären, die erste einer Reihe von Auszeichnungen, und wurde in West- und Osteuropa, Japan und der damaligen Sowjetunion verliehen. Dieser Film erzählt von der vorsichtigen Annäherung zwischen den Dorfbewohnern und dem Pädagogen, dem sie zunächst nicht trauen. Aber vor allem die Kinder, die gar nicht zur Schule gingen, weil es lange keinen Lehrer gegeben hatte, sorgen mit ihrer Neugier und ihrem Wissensdurst dafür, dass auch er seine Vorurteile gegenüber der Provinz aufgibt. Am Ende hat er vielleicht mehr gelernt als sie.

Vierzig Jahre später ist in der Türkei das Gefälle von Stadt und Land immer noch gewaltig; hartnäckig halten sich die Vorurteile der säkularen, intellektuellen Großstädter gegenüber der ländlichen, im Osten oft kurdischen Bevölkerung, die sie für rückständig, naiv und fromm halten. Diese Vorurteile repräsentiert auch Samet, obwohl man so genau gar nicht feststellen kann, was ihn von den Dörflern unterscheidet – nur er selbst glaubt es zu wissen. Lernen kann er von ihnen jedenfalls nichts, ebenso sind die Kinder, die seine Unzufriedenheit spüren, von ihm enttäuscht. Vom Optimismus, der in Erden Kirals Werk mitschwang, ist bei Nuri Bilge Ceylan nichts zu spüren.

Warum, so fragt man sich, dreht der elegante, kosmopolitische, auf internationalen Festivals mit Preisen ausgezeichnete Istanbuler Regisseur immer wieder diese ähnliche Geschichte von Männern in Identitätskrisen, die der Welt und sich selbst eine Last sind? Ist die anatolische Provinz, die er in seinem Werk kontinuierlich erschließt, eine Chiffre für das gesamte Land, das seit 2002 von der AKP-Regierung unter dem autokratisch agierenden Recep Tayyip Erdogˇan regiert wird? Ein Land, in dem nach einer langen säkularen Phase religiöse und nationalistische Strömungen die Oberhand gewonnen haben, in dem Oppositionelle verfolgt und ins (innere) Exil getrieben werden. Ein Land, das Künstlerinnen und Wissenschaftlern, Journalistinnen und Intellektuellen keine Heimat mehr sein will, obwohl das Konzept der Heimat in der Türkei von außerordentlicher Wichtigkeit ist.

Sind seine heimatlosen Helden eben jene Intellektuellen, zu denen der Regisseur selbst natürlich zählt, für die es immer enger geworden ist im Lauf der letzten zwanzig Jahre, die, auch wenn sie nicht als Oppositionelle verfolgt werden, um Ressourcen und damit ihre Existenz kämpfen müssen? Denn öffentliche und private Mittel zur Kunst- und Kulturförderung sind knapp geworden, private Kunstsponsoren wurden verdächtigt, linke Umtriebe zu finanzieren, so etwa der Mäzen und Menschenrechtler Osman Kavala, der wegen seiner angeblichen Beteiligung am Putschversuch im Jahr 2016 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Vielleicht arbeitet Nuri Bilge Ceylan immer weiter an seinem großartig tristen Bilderbogen, solange die politischen Verhältnisse in der Türkei bleiben, wie sie sind. Nach den gerade erfolgten Kommunalwahlen, bei denen die Opposition beträchtliche Stimmengewinne erzielte, gibt es berechtigte Hoffnung auf Änderung. Man wünscht sie der Türkei, und man wird sehen, was Nuri Bilge Ceylan dann zu erzählen hat.