ray Filmmagazin » Themen » Elektroschock
LIKE A COMPLETE UNKNOWN

A Complete Unknown

Elektroschock

| Andreas Ungerböck |
James Mangolds Biopic „A Complete Unknown” widmet sich sehr konventionell den vielfach dokumentierten frühen Jahren Bob Dylans – von seiner Ankunft in New York 1961 bis zum skandalumwittertenAuftritt beim Newport Folk Festival 1965.

Zuerst Martin Scorseses epische Doku (No Direction Home, 2005) und jetzt James Mangolds Fiktion A Complete Unknown – zwei Filmtitel aus bloß einem Song generiert zu bekommen, das schafft nur ein musikalischer Gigant wie Bob Dylan. Die beiden Filme haben einiges gemeinam, unter anderem die kurze Zeitspanne, mit der sie sich beschäftigen, und die handelnden Personen, von Dylan über Joan Baez bis hin zu Pete Seeger und Al Grossman. Der kleine Unterschied: Bei Scorsese sind es, no na, die Original-Personen, bei Mangold die zugegeben ziemlich gut gelungenen schauspielerischen Kopien. Man könnte fast so weit gehen und A Complete Unknown, der im deutschsprachigen Raum, warum auch immer, Like a Complete Unknown heißt, als eine Art Remake von Scorseses Doku mit Mitteln der Fiktion bezeichnen.

STATIONENDRAMA

Das ist auch schon die schlechte Nachricht, die bekanntlich immer zuerst kommt. Wie viele andere Musiker-Biopics zuvor, ist auch A Complete Unknown vorrangig ein „Stationendrama“, das brav biografische Daten, Highlights und Tiefpunkte abhakt, in diesem Fall Bob Dylans frühe Jahre – von 1961, seiner Ankunft in New York, bis zum Sommer 1965, als er mit seinem elektroverstärkten Auftritt samt Band beim kreuzbiederen Folk Festival in Newport, Long Island, die Puristinnen und Puristen des Genres nachhaltig schockierte und nichts weniger als Musikgeschichte schrieb. Dieser Meilenstein ist hier eindringlich und ausführlich nachinszeniert – Dylan/Chalamet und seine Band sind in Hochform, Pete Seeger und andere wütend, das Publikum allerdings bleibt weitgehend konturlos und blass.

Den vollständigen Artikel lesen Sie in unserer Printausgabe 03/25.

Ansonsten fehlt wirklich nichts: vom Besuch im Krankenhaus bei seinem schwer kranken Idol, dem legendären sozialkritischen Folksänger Woody Guthrie, wo er auch gleich den Sänger und Aktivisten Pete Seeger kennenlernt, über die ersten Auftritte im Greenwich Village, von seiner Entdeckung durch Al Grossman und seiner Verpflichtung durch Columbia Records über seine komplizierten Beziehungen mit Suze Rotolo (die hier aus rechtlichen Gründen Sylvie Russo heißt) und der berühmten Kollegin Joan Baez bis hin zu seinen Musikerfreundschaften mit Johnny Cash, Bob Neuwirth, Al Kooper und vielen anderen. Eingestreut sind, buchstäblich sekundenlang, die welthistorischen Ereignisse: die Kubakrise 1962, die die Welt an den Rand des Abgrunds brachte, der March on Washington im August und die Ermordung John F. Kennedys im November 1963 und so weiter.

Die Beschränkung auf nur fünf Jahre ist löblich und dem antiquierten Biopic-Modell (von der Wiege bis zur Bahre) eindeutig vorzuziehen. Trotzdem: Der Erkenntnisgewinn geht hier gegen Null, sind doch gerade diese fünf Jahre hinlänglich, um nicht zu sagen: erschöpfend dokumentiert. Dylan-Gläubige haben all das schon in Murray Lerners wunderbarer Doku Festival! Newport Folk Festival 1963–1966 (1967), in D. A. Pennebakers Don’t Look Back (1967) und eben in Scorseses dreieinhalbstündiger Doku gesehen, noch dazu quasi live und mit den Original-Personen. Und für Neueinsteigende ins Dylan-Universum, falls solche durch Mangolds Film überhaupt gefunden werden können, wird A Complete Unknown eher frustrierend sein, denn man erfährt so gut wie nichts über des Musikers Herkunft und Hintergrund, fast nichts über die New Yorker Musikszene, sieht man von einigen wenigen Schnipseln ab, und, am bedauerlichsten: Dylans außergewöhnliche Leistungen als Lyriker/Songwriter, die ihm immerhin 2016 den Nobelpreis für Literatur einbrachten, bleiben völlig außen vor. Zwar kritzelt er immer irgendetwas vor sich hin, aber meistens ist er damit beschäftigt, missmutig zu schauen, zu rauchen, aufzutreten und mit Frauen zu schlafen oder zu streiten. Ein einziges Mal, als er in Newport 1964, also ein Jahr vor dem Elektro-Schock, erstmals öffentlich „The Times They Are a-Changin’“, diesen ziemlich unbarmherzigen Befund über eine verknöcherte, dem Untergang geweihe Gesellschaft samt Aufruf zur Rebellion, singt und die Menge begeistert mitgeht, ahnt man in diesem Film etwas von der ungeheuren Kraft, die viele seiner Texte (!) und Melodien damals hatten – und bis heute haben.

Man kann sicherlich auch darüber diskutieren, ob es gerechtfertigt ist, dass Dylan hier über weite Strecken ziemlich unsympathisch rüberkommt, mit Ausnahme seiner sanften und respektvollen Begegnungen mit Woody Guthrie vielleicht. Der Titel von Mangolds Biopic sollte „A Complete Asshole“ sein, wie jemand auf der Film-Plattform Letterboxd treffend anmerkte. Nun ist es, auch anhand des erwähnten reichhaltigen Dokumentarmaterials gewiss nicht von der Hand zu weisen, dass Dylan auf seinem Weg nach oben nicht gerade zimperlich war. Legendär sind die Storys noch aus seiner Frühzeit in Minneapolis, wo er zwar das College nicht besuchte, aber dafür von seinen Freunden Schallplatten auslieh, die nie den Weg zurück zur Quelle fanden. Auch die Geschichte, dass er auf seiner ersten LP „Bob Dylan“ ein Arrangement des Traditionals „House of the Rising Sun“ verwendete, das von seinem frühen Förderer und Buddy Dave Van Ronk stammte, der es ungefähr zur gleichen Zeit selbst auf Platte aufnehmen wollte (und dann auch tat), wirft kein besonders gutes Licht auf den späteren Meister. Aber ein bisschen differenzierter hätte die Darstellung schon ausfallen können.

FEUEREIFER

Denn das große Dilemma, in Wort und Bild hinlänglich dokumentiert, in Mangolds Film nur in Spurenelementen vorhanden und von Dylan immer und immer wieder beklagt, war ja, dass er sich auf keine Rolle festlegen und in keine Schublade pressen lassen wollte. Sei es nun „Folksänger“, „Sprachrohr einer Generation“, „Protestsänger“ oder was auch immer, es war ihm ein Gräuel, und wer – auch hier im Film zu sehen – die teilweise wirklich abstrusen Fragen, um nicht zu sagen: Forderungen der Journalistinnen und Journalisten an Dylan mitverfolgt, kann schon nachvollziehen, warum der Musiker gelegentlich nicht so freundlich reagierte oder aber die versammelte Presse in noch absurdere Diskussionen verwickelte oder ab einem gewissen Punkt nur noch Gegenfragen stellte. Legendär die Aufforderung eines Fotografen: „Can you suck on your sunglasses?“ Dylan: „No. Do you want to suck on my sunglasses?”, und dergleichen mehr. Bei einem gemeinsamen Auftritt mit Joan Baez versucht sie ihn zu überreden, dem Wunsch des Publikums entsprechend „Blowin’ in the Wind“ zu singen, was er vehement ablehnt. Sie singt den Protest-Hit dann, während er schon abgegangen ist. Einmal abgesehen davon, dass diese Sequenz völlig frei erfunden ist und so nie stattgefunden hat, erscheint Dylan hier als Scheusal, das sein treues Publikum brüskiert – umso interessanter, dass die Musik-Bloggerin Michelle Lindsey auf ihrer Website highwayqueens.com das genaue Gegenteil in der Szene gesehen hat: „Here’s the rebel with a cause – the future of music. To me it just looked like a perfect example of how men get to do whatever they want and leave women to clean up their mess.” Seltsam.

Apropos: Lindsey beklagt in ihrem Text den Umgang des realen Bob Dylan mit „seinen“ Frauen. Joan Baez etwa, die Anfang der sechziger Jahre schon berühmt war, habe er nur als Mittel zum Zweck benutzt, eine Behauptung, die wirklich ein ziemlich starkes Stück ist. Das kann man aus zahlreichen Äußerungen der Künstlerin selbst heraushören (wenn auch nicht in Mangolds Film). So sagt sie im Dokumentarfilm Joan Baez von Mary Wharton (2009), die Begegnung mit Dylan habe ihren künstlerischen Erfolg erst ermöglicht. Die Tatsache, dass sie eben zumindest lange Zeit keine eigenen Songs schrieb, sondern mit Fremdkompositionen und Traditionals bekannt wurde und in der Folge von und mit Dylans Instant-Klassikern gut versorgt war, steht ebenso außer Frage.

Doch von der Realität zurück zum Film und jetzt zur guten Nachricht: Alles, was man von einem solchen Biopic an Äußerlichkeiten erwartet, ist hier wirklich beeindruckend umgesetzt, das sei ganz ohne Häme gesagt. Timothée Chalamet (mit Nasenprothese, aber ja, warum nicht?) ist von Anfang bis Ende mit solchem Feuereifer bei der Sache, dass es fast schon rührend ist. Er hat seinen Dylan wirklich gründlich studiert, und dem Vernehmen nach ist er ja bis heute noch nicht wieder ganz aus der Rolle herausgeschlüpft. Er postet in den Sozialen Medien Bilder im Dylan-Outfit oder als Dylan-Reverenz. Und gehen wir selbst in diesen KI-gestützten Zeiten davon aus, dass er wirklich selber
singt: Er macht das ganz großartig, auch und gerade in den „Live-Auftritten“, die leider, das nur nebenbei, von James Mangold eher uninspiriert und immer gleich inszeniert werden, sei es nun im Club in Greenwich Village oder auf der großen Bühne. Ähnlich Heldenhaftes gilt für Edward Norton in der letztlich undankbaren Rolle des Pete Seeger, dem Mangold und sein prominenter Ko-Drehbuchautor (The Age of Innocence, Strange Days, Gangs of New York, Silence) Jay Cocks ein wenig das Image des ausgedienten, moralinsauren Alt-Linken verpasst haben, der er ganz sicher nicht war. Seine eher unrühmliche Rolle bei Dylans lautstarkem Auftritt in Newport 1965 ist inzwischen mehrfach „erklärt“ worden. Ein ganz starker Faktor in dem Film ist Monica Barbaro als Joan Baez, die viele Facetten dieser faszinierenden Frau und Künstlerin abdeckt. Elle Fanning als Suze Rotolo/Sylvie Russo singt nicht, ist aber nicht minder eindrucksvoll. Den Vogel schießt aber wohl Boyd Holbrook ab, der einen fulminanten Johnny Cash spielt und singt und so auch Mangolds nach demselben Stationendrama-Muster gestricktes Cash-Biopic Walk the Line (2005) mit Joaquin Phoenix in Erinnerung ruft.

ANSATZLOS

Das Production Design von François Audouy, der schon seit Wolverine, 2013, mit Mangold zusammenarbeitet, ist erstaunlicherweise nicht für einen Oscar nominiert, aber dennoch ganz hervorragend. Was Audouy und sein Team für ein New York der frühen 1960er auf die Leinwand gezaubert haben, ist wirklich beeindruckend und stimmig bis ins kleinste Detail. Gleiches gilt für die Kostüme, für die Arianne Philips möglicherweise und zu Recht einen Academy Award erhalten wird. Phedon Papamichael (Oscar-nominiert für Aaron Sorkins The Trial of the Chicago 7, 2021) ist ebenfalls ein alter Verbündeter des Regisseurs, seine Kameraarbeit leidet allerdings ein wenig unter Mangolds schematischer Vorgehensweise, die wenig Raum zur Entfaltung bietet.

Fazit: Das größte Manko des Films ist, siehe oben, die mangelnde Beschäftigung mit Dylans Songs, den Aussagen darin und seinem lyrischem Genie. Man mag dem entgegenhalten, dass das erzählerische Verknappung und Notwendigkeit sei – bei einer Laufzeit von stolzen 141 Minuten ein nicht sehr stichhaltiges Argument. Es liegt eher der Verdacht nahe, dass es sich schlicht um Faulheit oder, freundlicher gesagt, um Ratlosigkeit handelt. Denn die große Herausforderung wäre ja wohl gewesen, nicht bloß die ohnehin bekannten Eckdaten abzurufen – siehe Bohemian Rhapsody von Dexter Fletcher mit seiner fast schon absurden 1:1-Kopie des Queen-Konzerts im Wembley-Stadion oder Rocket Man vom selben Regisseur – sondern zu versuchen, das Mysterium Dylan wenn schon nicht zu entschlüsseln, sondern zumindest einen eigenen Ansatz zu verfolgen.

Dass das sehr wohl möglich ist, auch bei Dylan, hat Todd Haynes (Interview) mit I’m Not There (2007) vorgezeigt. Er ließ Dylan von nicht weniger als sechs Schauspielern (darunter Christian Bale, Heath Ledger, Richard Gere und, ja, Cate Blanchett) darstellen, um sechs verschiedene Facetten des Künstlers zu beleuchten. Dass dieses interessante Konzept nicht hundertprozentig aufging, sieht man unter anderem daran, dass die Episode mit Cate Blanchett, die dem echten Dylan am ähnlichsten sieht, bis heute als gelungenste gilt. Aber immerhin hat sich Haynes etwas überlegt – wie auch schon in Velvet Goldmine (1998), in dem er, aus einer klar erkennbaren Fan-Perspektive, versuchte, dem Glam Rock und Künstlern wie David Bowie, Iggy Pop, Lou Reed und Brian Eno näherzukommen. Und wer erinnert sich nicht an Ethan und Joel Coens Geniestreich, die in Inside Llewyn Davis (2013) die ganze Dylan-Van Ronk-Baez-Greenwich-Village-Geschichte der frühen 1960er Jahre in einer großartigen Figur, gespielt von Oscar Isaac, bündelten und so vielleicht den Geist der Zeit besser erfassten als jede noch so streberhafte Nacherzählung.

Bob Dylan und sein Leben und reichhaltiges Wirken jedenfalls bleiben weiterhin zur Interpretation offen. Eigentlich wäre sein grandioses Spätwerk, so ab 1997, auch einer Erkundung wert. Bis es so weit ist, bleiben immer noch seine Dutzenden Song-Klassiker, wie „It’s alright Ma (I’m Only Bleeding)” (1965), der das passende Schlusswort liefert: „Okay, I have had enough / what else can you show me?“