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Burning

Burning

Das Trumm unter den Trümmern

| Alexandra Seitz |
Im Werk des koreanischen Regisseurs Lee Chang-dong zählt jeder Film mindestens doppelt – eine Rekapitulation anlässlich des Neuzugangs „Burning“.

Was sollen denn das für Helden sein?! Ein orientierungsloser Kleinganove. Ein abgehalfterter Mann mit immer mieser Laune. Eine schwer behinderte Frau und ihr etwas unterbelichteter Freund. Eine verwitwete Klavierlehrerin ohne Geld. Eine ältliche Dame im Frühstadium von Alzheimer. Ein Hilfsarbeiter und eine Propagandistin. Doch Träume haben sie alle. Der eine möchte die Familie wieder zusammenbringen, der andere wollte mal Fotograf werden. Zwei wollen einander lieben, die dritte sucht Erlösung, die vierte will ein Gedicht schreiben. Dann sind da noch der hoffnungsfrohe Schriftsteller und die Sinnsucherin. Und ja, die Sehnsucht nach innerem Frieden ist all diesen etwas verunglückten Gestalten gemeinsam, ebenso gemeinsam wie ihren Geschichten der Umstand ist, dass der Weg dorthin sich hindernisreich gestaltet und das Ergebnis in den seltensten Fällen ausfällt wie erhofft. Stattdessen macht das Leben wackelige Alternativvorschläge, improvisiert Provisorien, beschreitet abseitige Pfade, lockt in Sackgassen. Wie’s halt eben immer so zugeht. Manch eine und manch einer haut dann den Hut drauf. Ergibt sich resigniert in sein/ihr Schicksal. Oder schmeißt gleich ganz hin.

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Das Œuvre des südkoreanischen Schriftstellers, Drehbuchautors, Filmemachers, Produzenten und Kurzzeit-Kulturministers Lee Chang-dong ist überschaubar. Sechs eigene Spielfilme in zwanzig Jahren hat er gedreht: Chorok mulkogi (Green Fish, 1997), Bakha satang (Peppermint Candy, 1999), Oasiseu (Oasis, 2002), Milyang (Secret Sunshine, 2007), Shi (Poetry, 2010) und dann, nach einer langen Pause, Beoning (Burning, 2018). Jeder dieser sechs Filme wurde mehrfach preisgekrönt und jeder zählte zu den besten Filmen des jeweiligen Jahres. Dreimal wurde Lee mit einem Asian Film Award für Beste Regie ausgezeichnet (für Secret Sunshine, Poetry und Burning); in Venedig erhielt er den Special Director’s Award für Oasis; in Cannes den Preis für das Beste Drehbuch für Poetry; und Burning bringt es neben vielen anderen derzeit bereits auf zehn Auszeichnungen allein von Filmkritikerinnen- und Cinephilen-Vereinigungen.

Mit „Burning“ liefert Lee den Beweis, dass nicht unbedingt etwas herkömmlich Spannendes zu passieren braucht, damit ein Publikum gebannt verfolgt, was sich zuträgt, immer in der Hoffnung, die Dinge mögen sich endlich doch noch aufklären, vielleicht

Nun sollte man mit den Wörtern „Meister“ und „Meisterwerk“ äußerst vorsichtig umgehen. Die Mischung aus Bewunderung und Respekt, die bislang noch jeder Arbeit des Koreaners entgegengebracht wurde, legt aber doch nahe, dass wir es bei Lee Chang-dong tatsächlich mit einem jener seltenen, wahrlich großen Regisseure zu tun haben, die nicht nur ihren Stoff wie ihre Mittel gleichermaßen beherrschen, sondern die zudem auch noch wissen, was sie wollen. Die also etwas zu sagen haben über die Gesellschaft und die Menschen, über den Zustand der Welt und die conditio humana.
Nur keine falsche Bescheidenheit und Ehre, wem Ehre gebührt.

 

Wohlfühlkino ist anderswo

Lee Chang-dong wird am 1. April 1954 in Daegu geboren. Daegu liegt etwa 240 Kilometer von Seoul entfernt im Südosten des Landes in der Provinz Gyeongsangbuk-do, ist mit über zweieinhalb Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt Südkoreas, stellt ein nationales Zentrum der Elektro- und Textilindustrie dar (Heimat u.a. des Samsung-Konzerns) und gilt vielen als Hochburg der koreanischen Rechtskonservativen. Eine brummende Metropole also, in der Lee in einer eher gemäßigt links orientierten, unteren Mittelschichtsfamilie aufwächst, zur Schule geht und 1981 ein Studium der koreanischen Literatur abschließt, das er bevorzugt mit Theaterarbeit zubrachte. Danach verdient er mal als Koreanischlehrer an einem Gymnasium sein Geld, mal als Regisseur am Theater, mal mit dem Verfassen von Kolumnen für Zeitungen. Ab 1982 veröffentlicht er erste Kurzgeschichten und etabliert sich im Lauf der Zeit als Schriftsteller von einigem Ansehen.

Statt sich nun aber auf literarischen Lorbeeren auszuruhen, wechselt Lee im Alter von über vierzig Jahren das Metier und wendet sich der Filmkunst zu. Als Ko-Drehbuchautor ist er an Geu seome gago shibda (To the Starry Island, 1993) und Jeon tae-il (A Single Spark, 1996) von Park Kwang-su beteiligt, an ersterem Film auch als Regieassistent. Nach dieser kurzen Anlaufphase erregt Lee mit seinem nach eigenem Drehbuch inszenierten Debüt Green Fish Aufsehen und wird von der koreanischen Filmkritikervereinigung als Bester Nachwuchsregisseur ausgezeichnet. Der Nachfolger Peppermint Candy erhält von ebendieser Vereinigung die zentralen Preise für Besten Film, Beste Regie und Bestes Drehbuch, Hauptdarsteller Sol Kyung-gu wird als Bester Nachwuchsschauspieler prämiert.

Die beiden Filme treffen einen Nerv, insofern sie problematische Entwicklungen, die die koreanische Gegenwartsgesellschaft plagen – wie den unbedingten Primat des Materialismus, die daraus resultierende soziale Kälte sowie den Zerfall des familiären Zusammenhalts –, vor allem aus der Perspektive der Arbeiterklasse und der unterprivilegierten Schichten in den Blick nehmen und nach den Ursachen suchen. Hierbei wird Lee rasch fündig und ergreift unverhohlen Partei, versagt sich jedoch jede Demagogie oder auch nur Polemik. Selbst das erzählerische Pathos, das in der Gestaltung des existenziellen Leidens seiner Figuren durchaus Platz hat, bleibt auf dem Boden der Realität und im Rahmen des Nachvollziehbaren. Es ist dies einer der Gründe, warum es dem empathischen Generalbass, der Lees filmisches Werk verbindet, immer wieder gelingt, das Publikum als Resonanzraum einzubeziehen – in welchem sodann die Botschaft dröhnt, dass Gott uns auch nicht helfen kann, nur wir uns selbst, und dass das vermeintliche Schicksal historische und Sozialpolitische Ursachen hat.

Als Lee Chang-dong sieben Jahre alt war, im Mai 1961, putschte sich General Park Chung-hee an die Macht, errichtete eine Militärdiktatur und läutete in Südkorea eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs ein. Im Mai 1980 wiederum, Lee ist 26, fanden die nach dem Tod Parks aufkeimenden Träume von Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit mit der Niederschlagung des Gwangju-Aufstandes durch General Chun Doo-hwan ein jähes Ende. In den Folgejahren erhält der General sein Regime unter einer Art Kriegsrecht aufrecht; bis die Verfassungsreform von 1988 eine politische Wende und neuerliches Wachstum bringt. 1997 dann lässt der große Wirtschafts-Crash in Ostasien zahlreiche Investitionsblasen zerplatzen, und Höhenflüge aller Art legen Bruchlandungen hin.

Vor diesem Hintergrund erlangen Lees filmemacherische Arbeiten Brisanz als Kommentare eines kritischen Bewusstseins zum gesellschaftlichen Status quo: In Green Fish vollzieht er den Weg eines Reservisten zum Kleinganoven nach. In Peppermint Candy rekapituliert er in einer souveränen inszenatorischen Rückwärtsbewegung zwanzig Jahre südkoreanischer Geschichte in Schlaglichtern. Nachdem er solcherart das Übel bis an die Wurzel – patriarchale Konditionierung in Komplizenschaft mit militärischer Gewalttradierung – zurückverfolgt hat, macht er sich in den Folgefilmen an Gegenwartsanalysen. In Oasis, Secret Sunshine und Poetry zeichnet Lee seine Heimat als korrupt und kaputt, die Polizei ist käuflich und brutal, das Land ist zersiedelt, die Vorstellung von Familie als Hort solidarischer Sorge wird lediglich noch nostalgisch erinnert, das Recht hat sich dem Kompensationsgedanken gebeugt und Gerechtigkeit wird in Entschädigungssummen übersetzt, geredet wird kaum miteinander, einander zugehört noch weniger, angeschrien dafür umso mehr; Gewalt in allen Formen ist allgegenwärtig.

Wohlfühlkino findet anderswo statt.

 

Und doch!

Und doch, und all dem zum Trotz fällt es schwer, Oasis, Secret Sunshine und Poetry als tiefschwarze Vertreter eines Kinos der Verzweiflung zu charakterisieren. Was wiederum eben jenen seltsam verkorksten Helden zu verdanken ist, an denen Lee die Wirklichkeit ihre grausamen Exempel statuieren lässt. Der Kampfgeist, den seine Protagonisten verkörpern, die Zähigkeit, die sie bei der Verfolgung ihrer Ziele an den Tag legen, ihr Überlebenswille und, ja, ihre Sturheit sind Eigenschaften, die einem gerade auch angesichts der Widrigkeiten, mit denen es diese Menschen zu tun bekommen, imponieren. Sie werden zu Eigenschaften, die sie zu Helden machen; ebenso wie ihre oftmals wenig realitätstauglichen Vorstellungen vom gelingenden Leben. Weil diese wiederum uns daran erinnern, wie tief die Kluft ist zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte. Eben deswegen sind sie Helden. Weil sie um das kämpfen, was sein sollte: Die junge Frau mit Zerebralparese und ihr geistig gedimmter Freund, die in einer Welt voller Vorurteile von der Liebe träumen (Oasis); die zarte Klavierlehrerin, der sich der Unterschied zwischen christlichen Glaubensinhalten und religiöser Propaganda schmerzhaft in den eigenen Leib einschreibt (Secret Sunshine); die ältere Lady, die dem Verbrechen die Dichtkunst entgegenhält wie der Exorzist dem Teufel das Kruzifix (Poetry). Helden des Alltags.

Und nun also Burning, in dem Gelegenheitsjobber Lee Jong-su, der davon träumt, Schriftsteller zu werden, eines Tages eine ehemalige Mitschülerin aus seinem Heimatkaff trifft: Shin Hae-mi, die leicht bekleidet vor Warenhäusern herumhopst, Sonderangebote anpreist und abgesehen davon nach dem Sinn des großen Ganzen fragt. Man könnte sich zusammentun und allen Widrigkeiten, gebildet aus patriarchaler Erblast und prekärer weiblicher Existenz, ins Gesicht lachen. Doch Hae-mi verreist, und bei ihrer Rückkehr hat sie einen Typen namens Ben im Schlepptau, einen reichen Müßiggänger, den Jong-su notgedrungen hinnimmt. Dann ist Hae-mi eines Tages verschwunden, und Jong-su vermisst sie immer schmerzlicher und sucht sie immer verzweifelter. Und Ben täuscht seine Ahnungslosigkeit möglicherweise nur vor, und möglicherweise ist etwas entsetzlich Finsteres passiert, und sehr wahrscheinlich wird niemand jemals etwas erfahren.

Mit Burning liefert Lee den Beweis, dass nicht unbedingt etwas herkömmlich Spannendes zu passieren braucht, damit ein Publikum gebannt verfolgt, was sich zuträgt, immer in der Hoffnung, die Dinge mögen sich endlich doch noch aufklären, vielleicht. Viel wichtiger aber als das unaufklärende Voranschreiten des ohnehin mehr intuitiv erahnbaren denn konkret sich vollziehenden Thrillergeschehens sind die Konturen der Figuren, ist deren Verhältnis zueinander. Die Pausen in den immer etwas diffus formulierten Sätzen, die Blicke, die selten eindeutig sind, die seltsam ziellosen Aktionen, das abwartende Einander-Belauern, und erst recht die Heftigkeit und Intensität einer unvermittelt gelebten Emotion, die mit einem Mal das Korsett des sozial sanktionierten Verhaltenskodex aufsprengt – all diese Details präziser Charakterzeichnung begründen gemeinsam mit Lees geduldiger und aufmerksamer Beobachtung die Welthaltigkeit dieses Films. Die Welt hat es bekanntlich nicht so sehr mit der Ordnung und den sauberen Schlüssen. Eben das gilt es auszuhalten. Hier wie in den übrigen meisterlichen Werken des Lee Chang-dong.