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Charles Manson

Dossier 1969 – Charles Manson

Glaubensgefängnisse

| Jörg Schiffauer |
Der mörderische Irrsinn, mit dem Charles Manson seine Anhänger infiltrierte, erscheint im Rückblick als Blaupause für Radikalisierungen aller Couleurs.

Als Staatsanwalt Vincent Bugliosi die Nachricht erhielt, dass er die Anklage im Fall Sharon Tate vertreten würde, war ihm sofort bewusst, dass er vor einer ebenso spektakulären wie prekären Aufgabe stand. Denn die Morde an der Schauspielerin und Ehefrau von Roman Polanski und einigen ihrer Freunde – darunter Abigail Folger, Erbin eines milliardenschweren Kaffeekonzerns und der Prominentenfriseur Jay Sebring –, die sich in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1969 in dem Anwesen am Cielo Drive im Benedict Canyon von Los Angeles ereigneten, hatten die südkalifornische Metropole erschüttert. Insgesamt fünf Menschen waren den mit besonderer Grausamkeit ausgeführten Taten zum Opfer gefallen. Als in der darauf folgenden Nacht der Supermarktbesitzer Leno LaBianca und seine Frau Rosemary auf ähnlich brutale  Weise umgebracht wurden, machte sich blanke Panik in der Öffentlichkeit breit, der Druck auf die ermittelnden Polizeibeamten wuchs. Doch als man erst mehrere Wochen später einiger Verdächtiger eher zufällig habhaft werden konnte, war die Verwunderung groß. Denn sie alle gehörten zu einer Art von Kommune, die sich auf den ersten Blick nur wenig von jenen zahllosen Gruppierungen zu unterscheiden schien, die sich im Verlauf der gegenkulturellen Umbrüche jener Jahre auf der Suche nach alternativen Lebensformen gebildet hatten. Auffallend erschien den Behörden höchstens, dass die paar Dutzend junge Menschen, die sich die „Family“ nannten, ihren Anführer Charles Manson geradezu abgöttisch verehrten und ihn sogar als eine Art Messias ansahen. Doch in das Bild gnadenloser Mörder passten die jungen Leute – insbesondere jene jungen Frauen, die zum Kreis der Verdächtigen zählten und eher wie die typischen Vertreter der Flower-Power-Generation wirkten – so gar nicht.

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Der falsche Prophet

Zudem sah sich Staatsanwalt Bugliosi einem veritablen Problem gegenüber. Trotz zahlreicher Indizien und sogar Geständnisse, die er allerdings aus verfahrenstechnischen Gründen nicht verwenden konnte, verfügte er kaum über hieb- und stichfeste Beweise, vor allem aber fehlte ihm ein Motiv für die furchtbare Mordserie, deren Opfer zudem völlig zufällig ausgewählt schienen. Dennoch kam Bugliosi zu der Überzeugung, dass Charles Manson – der bei den Morden selbst gar nicht zugegen war – der eigentliche Kopf hinter diesen Untaten war und einige seiner Anhänger veranlasst hatte, die Gräueltaten zu begehen. Der Staatsanwalt unternahm also einen ungewöhnlichen Schritt und versuchte durch akribisches Studium der Fallakte und Vernehmungen von Mitgliedern der Family, so tief wie möglich in die ebenso abstruse wie gefährliche Gedankenwelt des Charles Manson einzudringen. Und schließlich glaubte er das Motiv gefunden zu haben: Manson wollte durch besonders grausame Morde an weißen Angehörigen des „Establishments“ Unruhen und einen Krieg zwischen Weißen und Schwarzen auslösen, den die Schwarzen gewinnen würden, in Folge jedoch – in der Vorstellung des deklarierten Rassisten Manson – eine versierte Führung brauchen würden. Das wäre dann die große Stunde von Manson, der so mit seiner Family die Herrschaft übernehmen sollte (obwohl die Tate-LaBianca-Morde als eine Art negativer Wendepunkt der Flower-Power-Ära gelten, lässt sich schon anhand dieses abstrusen Plans erkennen, dass der Soziopath Manson kaum als Repräsentant der Gegenkultur gelten konnte).

So irrsinnig dieser Plan natürlich war, schien er in Bezug auf Mansons Verhalten und Vorgehensweisen nicht ganz unstimmig. Der in sehr schwierigen Verhältnissen aufgewachsene  Charles Manson, der bereits den größten Teil seiner Jugend und Kindheit in Erziehungs- und Jugendstrafanstalten verbracht hatte, war erst 1967 in Folge seiner kriminellen Karriere nach Verbüßung einer siebenjährigen Haftstrafe entlassen worden. Doch er erkannte rasch, dass die gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche jener Tage unter den zahlreichen, vor allem jungen Menschen, die sich den Forderungen nach einer anderen, „besseren“ Welt  anschlossen, für Verwirrung und ein gewisses Maß an Orientierungslosigkeit sorgten. Mit dem zielsicheren Instinkt des Psychopathen gelang es dem auf seine eigenwillige Art durchaus charismatischen Manson, eine Gruppe junger Menschen um sich zu scharen, die sich zumeist in einer schwierigen Phase ihres Lebens befanden. „Ich sehnte mich nach Zuneigung, ich suchte nach einem Ort, an dem ich mich geliebt fühlte“ erläutert Diane Lake, die sich bereits mit 14 Jahren der Family anschloss, ihre Beweggründe.

Die Gruppe siedelte sich auf der Spahn Ranch, einer ehemaligen Filmkulisse an, in deren Abgeschiedenheit Manson seine Anhänger mittels gehirnwäscheartiger Methoden immer tiefer in seine abstruse Gedankenwelt verstrickte. Bugliosis Theorie, dass Manson als Anstifter der Taten die nahezu völlige Kontrolle über die Mitglieder seiner Gruppe hatte, schien sich im Verlauf des Gerichtsverfahrens durch das bizarre und erratische Verhalten der drei neben Manson angeklagten jungen Frauen Susan Atkins, Patricia Krenwinkel und Leslie Van Houten zu bestätigen. Auch das Auftreten anderer Angehöriger der Family und deren offenbar bedingungslose Hingabe an Manson hatte zusehends sektenartigen Charakter, wohl auch einer der Gründe, warum etwa der Moderator einer Nachrichtensendung Manson und die Family als „religious cult“ bezeichnete.

Der Dokumentarfilm Inside the Manson Cult: The Lost Tapes (2018) verdeutlicht, mit welchen Methoden es Manson gelungen war, aus eigentlich harmlosen jungen Leuten, die man zu jener Zeit an jeder Ecke hätte treffen können, gnadenlos agierende Mörder zu machen, die jeden Befehl ihres Anführers ausführten, mochte der auch noch so wahnwitzig sein. Im Wesentlichen stützt sich Inside the Manson Cult auf Material, dass Robert Hendrickson ab 1969 über vier Jahre hinweg gedreht hatte, als er nur wenige Monate nach den Tate-LaBianca-Morden die Erlaubnis erhielt, die sich noch Freiheit befindlichen Mitglieder der Family zu filmen und ausführlich zu befragen. Knapp hundert Stunden dieses zum größten Teil bislang unveröffentlichten Materials lagerte seit Jahrzehnten im Privatarchiv Hendricksons. Erst nach seinem Tod 2016 durfte es gesichtet und verwendet werden. Und es sind immer noch höchst verstörende Aufnahmen, wenn man die Family wie gleichgeschaltet in höchsten Tönen von „Charlie“ schwärmen sieht, obwohl alle über die Mordanklage genau Bescheid wussten. Sandra Good, eine der fanatischsten Anhängerinnen Mansons, merkt mit sanfter Stimme, deren Tonlage im völligen Gegensatz zum Gesagten steht, an: „Wir tun, was getan werden muss. Wenn das heißt, dass jemand getötet werden muss, dann ist das eben so.“ Zudem gelang es, zwei ehemalige Mitglieder der Family, Catherine Share und Diane Lake, zu bewegen, sich Jahrzehnte später öffentlich zu äußern und einen ebenso eingeweihten wie kritischen Blick einfließen zu lassen.

Anhand des Materials wird verdeutlicht, mit welchen Mitteln Manson die Gruppe dermaßen gefügig zu machen verstand, dass sein Einfluss selbst nach seiner Verhaftung noch allgegenwärtig war. Mit seiner charismatischen Persönlichkeit,
ausgeprägten sexuellen Freizügigkeiten und dem Konsum von Drogen schweißte Manson die Family auf der Spahn Ranch, die da weitgehend unter sich blieb, immer enger zusammen. „Im Rückblick wird klar, dass dort die perfekten Bedingungen herrschten, damit sich Mansons Weltanschauungen manifestieren konnten.“ Insbesondere der häufige Gebrauch von LSD hatte schwerwiegende Folgen, wie Catherine Share erläutert:  „Es kam zu einer Auflösung des Ichs, zu einer Art Ego-Tod. Wir hielten Manson für den Auserwählten, jeder von uns wollte Charlie sein.“ All das ergab eine verhängnisvolle Mischung, die dazu führte, dass seine Anhänger Mansons abstrusen Gedankengängen – den großen Rassenkrieg, den er auszulösen gedachte, leitete er aus seiner eigenwilligen Auslegung der Johannes-Offenbarung und dem Beatles-Song „Helter Skelter“ ab – schließlich blindlings folgten. Was für die Beteiligten in der Rückschau unbegreiflich ist: Als Catherine Share, heute eine kultivierte Dame Mitte siebzig, die höchst eloquent und intelligent zu formulieren versteht, eine Aufnahme sieht, in der sie über den Mord an Sharon Tate so beiläufig spricht, als hätte Manson angeordnet, ein paar Äpfel zu stibitzen, kommentiert sie dies sichtlich fassungslos: „Ich wirke wie ein Monster.“

Einen umfassenden Einblick bietet auch das 1974 veröffentlichte Buch „Helter Skelter“, in dem Vincent Bugliosi den Prozess und seine Erfahrungen mit der Manson-Family akribisch aufarbeitet. Das Buch bildete auch die Grundlage für die immer noch beste filmische Adaption: Die mehr als dreistündige TV-Produktion Helter Skelter (1976, Regie: Tom Gries) rekonstruiert mit dokudramatischer Genauigkeit die Geschehnisse um die Tate-LaBianca-Morde, Steve Railsback macht in der Rolle Mansons das grauenhafte Faszinosum „Charlies“ deutlich.

 

Mit Gurus Segen in die Hölle

Die Annahme, dass eine derartige Transformation wie bei Mansons Family nur bei einer zahlenmäßig überschaubaren Gruppe, deren Mitglieder aufgrund ihres jugendlichen Alters die Orientierung völlig verloren hatte, möglich war, erwies sich nicht einmal ein Jahrzehnt später als irrig. Das verhängnisvolle Muster eines charismatischen Anführers, der seine Anhänger nach und nach von äußeren Einflüssen – insbesondere von kontroversen und kritischen Gedanken – abschottet und die Gemeinschaft völlig auf sich und seine Weltsicht einschwört, bewirkte am 18. November 1978 eine unfassbare Tragödie. Im Dschungel von Guyana, wo sich eine religiöse Sekte, die sich Peoples Temple nannte, angesiedelt hatte, fanden 909 deren Mitglieder bei einem Massenselbstmord, den Jim Jones, der Gründer des Kults, angeordnet hatte, den Tod.

Stanley Nelson versucht in seinem Dokumentarfilm Jonestown: The Life and Death of Peoples Temple (2006) diesen Ereignissen mittels Archivmaterial sowie Interviews mit ehemaligen Mitgliedern der Sekte und Zeitzeugen auf den Grund zu gehen. Zu Beginn spricht Deborah Layton, eines der ehemaligen Mitglieder, einen entscheidenden Punkt an: „Niemand macht bei einem Kult mit, wenn er glaubt, dass der ihm etwas antut. Du trittst einer religiösen Sekte oder einer politischen Bewegung bei, weil dort Leute sind, die du magst.“

Auch die Anfänge des Peoples Temple konnte man durchaus als verheißungsvoll bezeichnen. Der methodistische Pastor Jim Jones gründete in den fünfziger Jahren in Indiana seine eigene Gemeinde, die neben religiösen Ansichten vor allem soziale und ausgeprägt integrationistische  Vorstellungen – in einem Amerika, in dem in etlichen Bundesstaaten Rassentrennung vorherrschte, eine nicht selbstverständliche Position – vertrat. Der Peoples Temple war auch deshalb eine multi-ethnische Gemeinde, die Mitglieder aus vielerlei Gesellschaftsschichten versammelte, mit einem recht hohen Anteil an Afro-Amerikanern.  Nachdem Jones und seine Gemeinde nach Kalifornien übersiedelten, erfreute sich die Gruppe regen Zulaufs, in den siebziger Jahren wurde der Peoples Temple durch seine Beteiligung an diversen politischen und sozialen Initiativen auch durchaus  ein Machtfaktor in San Francisco (sogar die Präsidentengattin Rosalynn Carter empfing Jones). Doch es tauchten auch beunruhigende Nachrichten über physischen, emotionalen und sexuellen Missbrauch auf, dem Mitglieder der Gemeinde zusehends ausgesetzt waren. Neva Sly Hargrove, die nach dem fluchtartigen Verlassen der Gruppe ihre dort verbliebene Familie nicht mehr kontaktieren durfte, beschrieb die Atmosphäre mit drastischen Worten: „Es war schon wie bei der Gestapo, alle verrieten einander gegenseitig.“ Jim Jones sah seine Gemeinde weiterhin als progressive Gruppe, die von einer autoritären Macht – nämlich der Regierung – bedroht wurde. Als die Vorwürfe immer heftiger wurden, setzte sich Jones mit einem Teil seiner Anhängerschaft nach Guyana ab, wo sie mitten im Dschungel ihr neues Zentrum aufbauten – Jonestown.

Doch die Kritik riss nicht ab, und so flogen der Kongressabgeordnete Leo Ryan und einige Journalisten im November 1978 nach Guyana, um sich vor Ort zu überzeugen, dass niemand in Jonestown gegen seinen Willen festgehalten wurde. Zunächst präsentierte man Ryan eine scheinbar idyllische Gemeinde, doch als einige Mitglieder den Abgeordneten heimlich geradezu flehentlich baten, sie mitzunehmen, eskalierte die Situation. Jim Jones – der übrigens Reporter als grundsätzliche Lügner bezeichnete, eine mittlerweile in bestimmten Kreisen wohlgelittene Methode, mit Kritik umzugehen –, erklärte sich zunächst bereit, jedermann, der nicht in Jonestown bleiben wollte, gehen zu lassen. Doch als Ryan und das kleine Häuflein Ausreisewilligen ihr Flugzeug erreicht hatten, wurden sie von Jones’ Leuten unter Beschuss genommen – fünf Menschen, darunter der Abgeordnete, starben. Doch das war nur die grausame Ouvertüre für den Irrsinn, der folgen sollte. Jones, der wusste, dass die unvermeidbaren Konsequenzen das Ende seiner Sekte unweigerlich nach sich ziehen würden, befahl seinen Schützlingen nun den kollektiven Selbstmord. Obwohl mittlerweile bekannt ist, dass einige Mitglieder gezwungen wurden, das vorbereitete Gift zu trinken, folgten doch viele – Eltern vergifteten dabei ihre Kinder, bevor sie selbst in den Tod gingen – dem unheilvollen Befehl ihres Gurus, der schon Jahre davor nichts dagegen einzuwenden hatte, wenn seine Gefolgsleute in ihm einen neuen Jesus sahen.

Bedingungslose Gefolgschaft zu einem selbsternannten Messias führte auch zu einer Katastrophe, deren Ort des Geschehens vor allem in den USA zum Synonym für eine unheilvolle Konfrontation mit Behörden geworden ist – Waco.
Alles begann am 28. Februar 1993, als Beamte des Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms (ATF) das Anwesen Mount Carmel in der Nähe von Waco, Texas, zu durchsuchen beabsichtigten, weil man dort illegale Schusswaffen vermutete. Das abgelegene Anwesen war das Zentrum einer religiösen Gruppe namens Branch Davidians, einer Abspaltung der Siebenten-Tags-Adventisten, die sich dort um ihren Anführer David Koresh geschart hatten. Der Einsatz endete in einem Desaster, es kam zu einem lang anhaltenden Schusswechsel – wer genau für den Ausbruch verantwortlich zeichnete, ist immer noch umstritten – an dessen Ende vier ATF-Beamte ihr Leben verloren; auch auf Seiten der Davidianer gab es mehrere Tote und Verletzte. Auch als die Behörden, mittlerweile vom FBI angeführt, schweres Geschütz in Form von Panzern auffuhren, weigerten sich die Sektenmitglieder aufzugeben und verschanzten sich in ihrem Anwesen. Triebfeder war David Koresh, der mit einer Mischung aus Charisma und unorthodoxer Bibelexegese – seine aus der Johannes-Offenbarung hergeleitete Vision der Endzeit spielte eine zentrale Rolle im Glaubenskonstrukt der Davidianer – seine Anhänger dazu gebracht hatte, ihm geradezu bedingungslos zu folgen. Selbst den Verhandlungsspezialisten des FBI gelang es nicht, durchzudringen und die Gruppe zur friedlichen Aufgabe zu überreden. Als nach wochenlanger Belagerung am 19. April schließlich die Erstürmung angeordnet wurde, war die Katastrophe perfekt. Die Gebäude gingen rasch in Flammen auf – der Brand war höchstwahrscheinlich von den Davidianern selbst gelegt worden –, und 76 Sektenmitglieder kamen ums Leben, nur neun entkamen dem Inferno.

Die sechsteilige TV-Serie Waco  (2018) rekonstruiert diese Ereignisse mittels eines höchst spannenden dramaturgischen Kunstgriffs, der das Aufeinanderprallen der beiden Welten anhand zweier (real existierender ) Protagonisten verdeutlicht. Auf der einen Seite befindet sich dabei der stets um rationales Vorgehen bemühte FBI-Verhandler Gary Noesner (gespielt vom wie immer großartigen Michael Shannon), in den Reihen der Davidianer ein junger Mann namens David Thibodeau (Rory Culkin), einer der wenigen Überlebenden. Beide haben in Büchern ihre  Sicht  über die Belagerung von Mount Carmel dargelegt. Diese Publikationen bildeten auch die Grundlage für das Skript von Waco, was der Serie eine differenzierte Sichtweise verleiht, die ihre dokudramatische Präzision noch verstärkt. Besonders die Innenansicht, die durch Thibodeaus – der junge Mann hatte vielmehr durch Koreshs Charisma als durch Glaubenslehren nach Mount Carmel gefunden – Perspektive die ambivalenten Strukturen verdeutlicht, die sich innerhalb solcher Gruppen entwickeln. Obwohl David Koresh wiederholt an das Gemeinschaftsgefühl seiner Gemeinde appelliert – verstärkt durch den Glauben an die herannahende Endzeit, weshalb die Gruppe auch ein umfangreiches Waffenarsenal anhäufte –, herrscht eine strikt hierarchische Struktur, wo vor allem das Wort der Führungsfigur Koresh absolut gilt, ganz gleich wie absurd und inkonsistent das auch sein mag. So forderte Koresh von seinen männlichen Anhängern strikte sexuelle Enthaltsamkeit, er selbst jedoch hatte intime Beziehungen zu etlichen Frauen der Gruppe, von denen einige verheiratet waren. Selbst der studierte Theologe Paul Schneider, ein intelligenter Mann und die rechte Hand von Koresh, ließ sich von der Persönlichkeit des selbst ernannten Messias so beeindrucken, dass er dessen Affäre mit seiner Frau Judy (in der Serie von Andrea Riseborough gespielt) tolerierte. Die Eheleute Schneider blieben bis zur tödlicher Konsequenz Gefolgsleute ihres Gurus.

 

Versteinerte Überzeugungen

Wie weit die strikte Bindung an eine Gruppe und ihr Ideensystem kritisches Denken auszuschalten vermag, hat Alex Gibney in Going Clear: Scientology and the Prison of Belief (2015) offengelegt. Ehemalige hochrangige Mitglieder der höchst umstrittenen Sekte – darunter der renommierte Regisseur Paul Haggis – werfen einen kritischen Blick auf deren Vorstellungen und Praktiken. Der Autor Lawrence Wright, der sich wiederholt mit derartigen Phänomen befasst hat, bringt es zu Beginn von Gibneys Film auf den Punkt: „Ich habe mich schon immer für die Frage interessiert, warum Leute an die eine Idee glauben statt an eine andere. Ich habe den Massenselbstmord der Jones-Sekte und den radikalen Islam studiert. Es sind häufig herzensgute Menschen, idealistisch, aber irgendwie von einer zerstörerischen Sicherheit besessen, die jeden Zweifel ausschließt. Es ging darum, Scientology verstehen zu wollen, warum sich eigentlich intelligente und skeptische Menschen von einem Glaubenssystem angezogen fühlen und am Ende auf eine Art und Weise handeln, die sie früher nie für möglich gehalten hätten.“

Die Gültigkeit von Wrights Charakterisierung solcher Systeme zeigt sich auch anhand jener Gruppe, die im Mittelpunkt der Dokumentation Guru: Bhagwan, His Secretary & His Bodyguard (2008) steht. Die von Chandra Mohan Jain, der sich später Bhagwan nannte, gegründete Neo-Sannyas-Bewegung zog in den sechziger und siebziger Jahren mit einer Mischung aus Meditation, hinduistischen Elementen und ein wenig Psychotherapie vor allem viele Menschen aus der westlichen Welt an, die im Zug der kulturellen Umbrüche auf einer Art Sinnsuche waren. Nachdem die Gruppe Anfang der achtziger Jahre von Indien nach Oregon umsiedelte, wurde das Verhalten des Gurus, der von seinen Anhängern beinahe gottgleich verehrt wurde, zusehends bizarr. Es folgte der bekannte Kreislauf aus Abschottung, rigidem Vorgehen gegen Mitglieder, die nur einen Hauch von Kritik übten, und dem zunehmenden Glauben, man sei von Feinden umgeben. Anhand von zwei Mitgliedern, die zum inneren Zirkel um Bhagwan gehörten und mit zeitlichem Abstand zurückblicken, macht Guru: Bhagwan, His Secretary & His Bodyguard deutlich, wie die Verstrickung in ein derartiges Glaubenssystem, das schließlich zum inneren Gefängnis wird, vor sich geht. Hugh Milne, der als junger Mann zu der Bewegung stieß, jahrelang als Leibwächter Bhagwans fungierte, ehe er die Gruppe wegen der erwähnten immer merkwürdigeren Vorgänge in Oregon verließ und einen sehr reflektierten Zugang hat, erinnert sich dabei an die hoffnungsvollen Anfänge: „Wir waren erfüllt von messianischem Eifer. Das, was wir durch unseren Guru erfahren hatten, wollten wir der Welt beispielhaft vorleben.“ In der Rückschau konzediert Milne jedoch, dass immer die Gefahr da war, es könne in die falsche Richtung gehen. Was auch passierte, wenn die Folgen auch nicht so mörderisch waren wie im Fall von Jonestown und Waco.

Simon Andreae, Produzent von Inside the Manson Cult: The Lost Tapes verweist darauf, dass selbst der Irrsinn eines Charles Manson nicht als isolierter Fall betrachtet werden kann. Die Implikationen haben eine geradezu erschreckende Aktualität politischer und gesellschaftlicher Natur: „Inside the Manson Cult ist ein hochaktueller Bericht darüber, wie sich junge Menschen radikalisieren, ein Film, der quasi in Echtzeit und von innen heraus dokumentiert, wie sich eine Gruppe derart verwandeln kann. Man sieht, wie gewöhnliche Jugendliche der Mittelklasse sich zu willenlosen und brutalen Mördern entwickeln.“