Ein Gespräch mit der Schauspielerin Geraldine Chaplin zu ihrem 75. Geburtstag.
Ihr Vater war der lustigste Mann der Welt, und ihn kennt bis heute die ganze Welt: Charlie Chaplin. Sie selbst ist eine lebende Legende. Nachdem sie eigentlich Balletttänzerin werden wollte und in seinem unterschätzten Spätwerk Rampenlicht (1952) als Kind im Kino debütierte, startete ihre sie ihre eigentliche Leinwandkarriere als Tonya in David Leans Doctor Zhivago (1965), einem der größten Filmerfolge der sechziger Jahre: Geraldine Chaplin, geboren am 31. Juli 1944 im kalifornischen Santa Monica, nahm sich gut gelaunt viel Zeit für das Gespräch.
Ms. Chaplin, ein Gespräch mit Ihnen über Ihren Vater ist eigentlich undenkbar. Verzeihen Sie mir, wenn ich mit ihm unser Interview beginne?
Geraldine Chaplin: Unbedingt! Ich finde es auch spannender, über ihn als über mich zu sprechen.
Warum?
Geraldine Chaplin: Ganz einfach, weil Töchter, wenn sie zu ihrem Vater ein gutes Verhältnis haben beziehungsweise hatten, immer eine Art Heldenverehrung an den Tag legen und ins Schwärmen geraten. Und das ist sogar unabhängig vom Bekanntheitsgrad. Als erstes von acht Kindern, die er mit meiner Mutter Oona hatte, hinzu kamen ja noch drei andere aus seinen vorherigen Verbindungen, besaß ich wirklich ein ganz besonderes Verhältnis zu ihm. Für mich war er in erster Linie Vater und nicht der weltweit berühmte Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor, Schnittmeister, Komponist, Filmproduzent und Komiker. Das heißt nicht, dass ich nicht auch ab und an gegen ihn aufbegehrte beziehungsweise regelrecht rebellierte. Vor allem in der Pubertät, aber auch danach.
Es wird kolportiert, dass Charlie Chaplin ein distanziertes Verhältnis zu seinen Kindern unterhielt und für alles Gefühlvolle in erster Linie Ihre Mutter Oona zuständig gewesen sein soll. Stimmt das?
Geraldine Chaplin: Was stimmt, ist, dass er immer vorrangig mit einer Kunst beschäftigt war, aber er konnte auch sehr liebevoll sein. Das können meine Geschwister Michael, Josephine, Victoria, Eugene, Jane, Annette und Christopher gewiss bestätigen. Meine Mutter Oona, die zuvor als einzige Tochter des US-amerikanischen Dramatikers Eugene O´Neill als 16-Jährige eine innige Beziehung mit dem sechs Jahre älteren Schriftsteller J. D. Salinger hatte, bis sie zwei Jahre später meinen Vater kennen und lieben lernte, hielt immer den Laden zusammen, wie man so schön sagt. Trotz des immensen Altersunterschieds von 36 Jahren war es eine Ehe auf Augenhöhe zwischen den beiden, die bis zum Tod meines Vaters im Jahr 1977, also über 34 Jahre hielt. Was mir im Nachhinein nicht so gefiel, war, dass ich eine Zeit lang ein natürlich „erstklassiges“ Internat in der Nähe des Genfersees besuchen musste. Das war damals in sogenannten „höheren Kreisen“ so üblich. Da fühlte ich mich jedoch abgeschoben. Das habe ich ihm und auch meiner Mutter, die sich da nicht gegen ihn durchsetzen konnte, etwas übelgenommen.
Wie fast alle Kinder Ihres Vaters haben Sie auch eine künstlerische Karriere gestartet. Ihren ersten Leinwandauftritt hatten Sie 1952 noch als Kind in seinem von der Kritik damals unterschätzten Film „Rampenlicht“. Ihren Durchbruch hatten sie aber „erst“ mit 21 in David Leans Breitwand-Epos „Doktor Schiwago“. Warum wollten Sie unbedingt Schauspielerin werden?
Geraldine Chaplin: Eigentlich wollte ich Ballerina werden und besuchte dafür lange eine Ballettschule in London. In Rampenlicht hatten meine Mutter, die eine zeitlang auch Schauspielerin werden wollte, und ich nur Mini-Auftritte. Das Rampenlicht, um beim Filmtitel zu bleiben, gehörte zu Recht der bezaubernden Claire Bloom. Dennoch wurde ich irgendwie vom Schauspiel-Virus infiziert und nutzte die guten Kontakte, die mein Vater hatte, schamlos aus, wenn ich das so ehrlich sagen darf. Ohne seinen Bekanntheitsgrad hätte mir wohl David Lean nicht die Rolle der Tonya in Doktor Schiwago angeboten, nachdem er eine Fotoserie von mir in einer Illustrierten gesehen hatte.
Wie beurteilen Sie heute den Film fast 55 Jahre nach seiner Entstehung?
Geraldine Chaplin: Ich finde ihn nach wie vor wunderbar, auch wenn Davids Vorgänger Lawrence von Arabien sicher der bessere und innovativere Film ist! Ein fast vierstündiger Abenteuerfilm, der ja auch eine Art Liebesgeschichte zwischen Peter O´Toole und Omar Sharif erzählt, ohne einen einzigen Kuss, geschweige denn Frauen. Das war damals sehr mutig! Omar war auch in Doktor Schiwago ganz wundervoll, ebenso Julie Christie, Rod Steiger, Ralph Richardson, Alec Guinness und Tom Courtenay. Ich war nur schmückendes Beiwerk. (Lacht.) Jedes Mal, wenn ich die Musik von Maurice Jarre höre, kommen mir automatisch Tränen. Auch die Bilder von Kameramann Freddie Young sind exquisit. Man kommt gar nicht darauf, dass wir anstatt in Russland in Spanien gedreht haben – mit viel Kunstschnee. Natürlich sind die politischen Aspekte aus Boris Pasternaks Roman, der den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution und den anschließenden Bürgerkrieg thematisiert, stark gekürzt worden. Aber ich verdanke diesem Film unendlich viel.
Sie selbst sind ein politisch äußerst bewusster und aktiver Mensch. Mit dem spanischen Meisterregisseur Carlos
Saura verband Sie eine jahrzehntelange berufliche wie private Beziehung, bei der sie gemeinsam immer wieder auch gesellschaftsrelevante Themen anpackten.
Geraldine Chaplin: Doktor Zhivago in Kombination mit dem Namen Chaplin waren für mich der Schritt zur eigenen Berühmtheit. Unsere Beziehung war wiederum eine Mischung aus Liebe und Kampf. Doch erst dank Carlos Saura erlernte ich wirklich mein Handwerk. Wir bekämpften das System des Franco-Faschismus von innen heraus. Wir drehten metaphorische Filme wie Züchte Raben oder Anna und die Wölfe, denen die Zensur nichts anhaben konnte. Dazu waren wir Teil eines konspirativen Netzes. Carlos und mir war es stets bewusst, dass uns unsere Prominenz vor Gefängnis und Folter schützte. Es war eine wichtige, für mich sehr prägende Zeit. Er war nicht nur mein Liebhaber, sondern auch mein Lehrmeister. Dank ihm lernte ich andere bedeutende Regisseure wie Robert Altman und Jacques Rivette kennen. Ich war auch bereit, mich von diesen formen zu lassen. Aber ich brachte auch stets autobiografische Elemente in meine schauspielerische Arbeit ein: Die überkandidelte Hochzeitsplanerin in Robert Altmans A Wedding habe ich zum Beispiel der überdrehten, ziemlich altjüngferlichen Agentin meines Vaters nachempfunden.
Ist es Ihnen eigentlich mitunter lästig, dass Sie stets als Tochter des körperlich kleinen, künstlerisch aber großen Charlie Chaplin angesprochen werden?
Geraldine Chaplin: Nein, die meisten Menschen, die das machen, sind ja wie Sie sehr freundlich und respektvoll dabei und wissen erstaunlich gut über die Filme meines Vaters Bescheid. Und von der „Yellow Press“ werde ich weitgehend verschont. Wissen Sie, mit zunehmendem Alter sieht man auch die absurden Seiten der Prominenz. Vor einigen Jahren stand ich mal in einem Geschäft in Cannes an der Kasse, um zu bezahlen. Eine Frau war noch vor mir dran. Direkt hinter mir befanden sich in der Schlange zwei ältere Damen, die sich flüsternd miteinander unterhielten. Ich konnte sie dennoch gut verstehen. Sie rätselten, woher ihnen mein Gesicht bekannt vorkam. Plötzlich entfuhr es der einen: „Jetzt weiß ich es! Das ist die Tochter von Laurel und Hardy!“ Ich drehte mich lächelnd zu ihnen um und sagte: „Ganz genau, die Damen!“ Sie baten mich jeweils um ein Autogramm und ich unterzeichnete mit „Geraldine Laurel Hardy“. Sichtlich zufrieden verließen die zwei Damen den Laden.
Sie selbst zeigen keinerlei Alterserscheinungen, wirken nach wie vor mädchenhaft mit mittlerweile fast 75 Jahren. Wie halten Sie sich fit?
Geraldine Chaplin: Mit meiner Neugierde! Ich studiere Menschen und auch Tiere, versuche möglichst viel über sie herauszubekommen. Ich mache etwas Yoga und versuche, mich gesund zu ernähren. Und meine schauspielerische Arbeit hält mich natürlich auch fit! Ich komme mir tatsächlich wie ein Mädchen vor, aber eines, dass zu jeder Falte in seinem Gesicht steht.
Ihr neuester Film „Holy Beasts“, den Sie zusammen mit dem Regie-Duo Laura Amelia Guzmán und Israel Cárdenas sowie mit Udo Kier bei der diesjährigen Berlinale vorstellten, erinnert mich ein wenig an Federico Fellinis „Julia und die Geister“. Als in Vergessenheit geratene Schauspielerin werden Sie bei den Dreharbeiten zu einer allerletzten Produktion die Geister, die Sie riefen, nicht mehr los…
Geraldine Chaplin: Wow, den Film mit Julia und die Geister in einem Atemzug zu nennen, ist ein tolles Kompliment! Der Dreh in der Karibik mit seinen verrückten Tanz-Einlagen hat mir großen Spaß gemacht.
In „Holy Beasts“ heißt es: „Diejenigen, die voll leben, altern nicht“. Ist das auch ihr persönliches Credo?
Geraldine Chaplin: Ganz und gar nicht. Der Satz is schön, aber leider eine komplette Lüge. Jeder altert, und keiner altert aus Vergnügen. Es ist der Horror! Man wird nicht weiser und erst recht nicht hübscher. Doch die Liebe zum Leben lässt einen weitermachen. Man selbst nimmt das Altern, wenn man nicht allzu oft in den Spiegel sieht, allerdings nur unmerklich wahr, wenn man noch weitgehend körperlich intakt bleibt.
Wie hat Ihr Vater eigentlich ihre schauspielerische Tätigkeit beurteilt? Hat er kritisiert oder auch mal gelobt?
Geraldine Chaplin: Er hat mich viel ermutigt und gelobt, allerdings häufig sehr allgemein wie „Du warst ganz wundervoll!“ Seine eigenen Filme hat er auch häufig angeschaut und sich manchmal dabei selbst gelobt: „Die Szene war wirklich witzig“ oder „Die Kameraeinstellung muss einem erst einmal einer nachmachen!“
Was macht das Werk Ihres Vaters 42 Jahre nach seinem Tod so zeitlos?
Geraldine Chaplin: Natürlich in erster Linie sein Humanismus, der mit dem Humor Hand in Hand geht. Aber auch seine politische Wachheit wie in Der große Diktator. Mein Vater war Menschenfreund und Anti-Militarist.
Traurigerweise wurde er von gewissen konservativen US-amerikanischen Kreisen ausgerechnet für dieses Meisterwerk, indem er Adolf Hitler entlarvte und lächerlich machte, wegen „antiamerikanischer Tendenzen“ attackiert.
Geraldine Chaplin: Diese konservativen Kreise in den USA hatten meinen Vater seinerzeit gewarnt. Viele von Ihnen sahen zur Entstehungszeit des Films im Jahr 1940 Hitler noch als antikommunistisches Bollwerk. Mein Vater wurde auch fälschlicherweise als „Jude“ bezeichnet. Er hat das aus Sympathie zum Judentum nie richtig gestellt. Als liberaler Weltbürger passte er nicht in das gängige Bild eines amerikanischen Filmstars. Dass er seinen britischen Pass behielt, wurde ihm als mangelnder Patriotismus ausgelegt, genauso wie seine filmische Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus in Moderne Zeiten. So wurde er 1947 gleich mehrmals vor J. Edgar Hoovers „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ zitiert. 1952 verweigerte ihm Hoover gar nach der Rampenlicht-Premiere in London die Rückkehr in die USA. Es hieß von vielen Seiten: „Dein Vater ist ein Kommunist!“ Ich fand das als Achtjährige aber toll und genoß die Zeit in unserem Schweizer „Exil“. Für mich war damals Marxismus die coolste Sache der Welt!
Haben Sie deshalb Ihrem Vater geraten, zur Ehren-Oscar-Verleihung 1972 nicht nach Hollywood zurückzukehren?
Geraldine Chaplin: Stimmt, Sie sind gut informiert! Meine Schwester Josephine und ich wollten ihn davon abhalten, in die USA zurückzukehren, nach allem, was ihm zuvor dort angetan wurde. Doch er reiste schließlich zur Verleihung des Ehren-Oscars an. Und das war auch richtig so. Dort im Zeitalter des progressiven „New Hollywood“ mit seinen Regisseuren wie Martin Scorsese, Peter Bogdanovich oder Francis Ford Coppola erwarteten ihn nämlich die bis heute längsten Standing Ovations in der Geschichte der Oscars.
Welcher unter seinen zahlreichen Filmen ist Ihnen denn persönlich der liebste?
Geraldine Chaplin: Das ist die schwierigste Frage, die mir je gestellt wurde! Ich liebe sie doch alle! Aber wenn Sie mir unbedingt die Pistole auf die Brust setzen wollen, dann sage ich jetzt spontan, dass mir seine „Tramp“- und Stummfilm-Phase am besten gefällt und wähle Goldrausch. Der für mich perfekte Abenteuer-Film, der dazu lustig und anrührend zugleich ist, viele unvergessliche Szenen wie den Brötchen-Tanz enthält und auch einen Hauch von Kapitalismus-Kritik hat. Direkt dahinter kommt Ein Hundeleben, weil ich ein so großer Hundefreund bin. Scraps und mein Vater waren wirklich ein Dream-Team! Der Film ist jetzt 101 Jahre alt, doch er ist wirklich zeitlos!