Harun Farocki (1944–2014), bekannt als Filmemacher und Videokünstler, hat als Autor begonnen, der er immer geblieben ist, über fünfzig Jahre lang. Die ersten drei Bände aus einer groß angelegten Edition seiner Schriften sind erschienen, mit deren Herausgabe sein schriftstellerisches, kritisches, essayistisches Erbe gesichert wird.
Viele von Harun Farockis Texten sind Reflexionen zum Kino, Beispiele unbändiger Ideenproduktion, sein Schreiben ist von seinem filmischen Werk nicht zu trennen. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten zu einer Autobiografie (Schriften I), die unbeendet blieb und von der nur der engste Kreis überhaupt gewusst hat. Angeordnet ist der Text nach seinen Lebensjahrzehnten: „Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig.“
Nachtspaziergänge
Eingangs beschreibt Harun Farocki seinen Vater, einen indischen Arzt, als launenhaften Tyrannen, einen Patriarchen, „der stets wie von der Kanzel predigte“, und vor dem man sich fürchten musste, während die Mutter zu den Kindern „von Gleich zu Gleich“ sprach, bisweilen wie in einer Verschwörung. „Manchmal sogar mit gesenkter Stimme, obwohl er gar nicht im Haus war und das Tuckern seines Zweitakters seine Rückkehr stets so deutlich anzeigte, wie das Glöckchen am Hals der Katze die Mäuse warnt.“ Man liest vom bürgerlichen Leben an der Rheinallee in Bad Godesberg, von der Jesuitenschule und den Lehrern mit Bildungsideal, die ihn gern geschlagen haben: Kindheitserfahrungen als erste grundlegende Sozialstudien. Von Verwandten hatte der kleine Harun ein Spielzeugauto nach Indonesien geschickt bekommen – die Familie lebte im Nachkrieg für ein paar Jahre in den Tropen –, mit dem er nach Deutschland zurückkehrte, und in der haptisch wirkenden Genauigkeit, wie er es beschreibt, bekommt man den Eindruck, er habe es vor sich, in allen Einzelheiten, und steuere es noch einmal über den Parkettfußboden des Wohnzimmers – „ein wunderbares Ding“. – „Straßenklugheit“ muss er sich in der Bundesrepublik erst aneignen, in Hamburg-Langenhorn, wohin die Familie umzog, bricht er immer wieder mit Freunden zu heimlichen Nachtspaziergängen auf, mit Genuss an dieser eigenen Vorstellungswelt im Gegensatz zur geläufigen Welt, die sich in ihren Tagesabläufen selbst bestätigt.
Westberlin
Wenige Tage nach seinem 16. Geburtstag läuft er erstmals von zu Hause weg. Als er mit 18 nach Berlin verschwindet, wird auf Betreiben der Eltern polizeilich nach ihm gesucht. „Ganz Westberlin war damals [1962; Anm.] eine Armutsgegend.“ Farocki erinnert sich an zahllose Jobs, angefangen mit der Ullstein-Druckerei, der Kindl-Brauerei in Neukölln, Kohlenschleppen etc., Tagelöhnerei, vermittelt von Sklavenhändlern in Hinterzimmern. Aber auch im Café Steinplatz, Hardenbergstraße, damals laut Farocki ein „Stützpunkt der Gammlerbewegung“, werden, vorwiegend an Studenten, unter der Hand Jobs vermittelt. Orte wie dieser seien das „Gegengift“ gewesen „zu jenem idiotischen Leben“, auf das man ihn verpflichten wollte. „Im Steinplatz habe ich meinen ersten Situationisten kennengelernt.“ Das Vorhaben, Schriftsteller zu werden, lässt sich nur allzu schwer erarbeiten, weil sich zeigt, dass die Überlebensarbeit zu aufwendig ist. Eine geregeltere Tätigkeit beim Aufbau und als Wochenendkellner des „Big Apple“, der wohl ersten Diskothek Westberlins, ermöglicht ihm Milieustudien, hier und im „Eden Saloon“ erkundet er tribalistische Verhaltensregeln, studiert die Merkmale und Riten der Cliquen, in denen er verkehrt. Als er eine Aufführung des Theaterensembles Living Theatre sieht – „The Brig“ –, ein Stück, das gänzlich undramatisch das Reglement im Tagesablauf eines US-Militärgefängnisses nachspielt –, findet er darin Brecht und Pop-Art vereint und wird zu einem eigenen Stück über das „Big Apple“ inspiriert: „Mich begeisterte, dass es hier nichts weiter gab als die kondensierte Wiedergabe eines Vorgangs.“
In Paris lebt Farocki mit einem Pflastermaler unter Clochards, mit einer Straßenmalerin geht er in Westdeutschland „auf Tournee“, und 1963 gelingt es ihm bereits, seinen ersten Rundfunktext zu verkaufen, weil ein Redakteur von Radio Bremen bemerkt, dass er „eine Prosa“ schreiben kann. In Berlin beginnen die Arbeiten als freier Autor im Kulturbetrieb mit der Beobachtung des Pförtners am Hauptportal der Sendeanstalt (SFB), um herauszufinden, nach welchen Gesetzen es möglich ist, ohne Haus- bzw. Besucherausweis das Haus des Rundfunks an der Berlin-Charlottenburger Masurenallee zu betreten. Die angewandte Intelligenz, sich einen Zugang zu einer Kulturinstitution zu verschaffen, ist mindestens so wichtig wie die, welche der Qualität des „Kulturellen Wortes“ (so heißt auch die Hörfunkabteilung) zukommt, das man ihr liefert, diese materialistische Lehre lässt sich daraus ableiten; überdies bleibt diese Intelligenz von jener nicht unberührt. Gegen die Entmutigungen des Kulturbetriebes scheint Farocki frühzeitig Immunkräfte entwickelt zu haben, die Bewunderung vieler galt einer initiativen Kraft, dem kämpferischen Elan, der von ihm ausging.
Poesie der Orte
Von großem Reiz ist die topografische Genauigkeit, mit der Farocki seine Orte und Wege, Straßennamen und „Stützpunkte“ seines Lebens im Westberlin der Mauerzeit benennt und nachzeichnet. Die Poesie der Orte und ihrer Geschichte scheint dem Verhältnis verwandt, das der Romanautor Patrick Modiano zum Schauplatz Paris besitzt. Der Teich mit dem trüben Wasser (am Volkspark Wilmersdorf), neben dem er die Schulpausen während der Abendschule verbringt, sieht man vor sich, auch das U- und S-Bahnnetz, das der Freund beim nächtlichen Warten auf den Zug am Anhalter Bahnhof auswendig gelernt hatte. Später wird Farocki das Stadtbild mitgestalten, wenn auch nur über das eigene Guerilla-Marketing, einer „Sprühdosen-Kampagne“ für den Film Zwischen zwei Kriegen, für die er die Farbdosen bei der Steuererklärung absetzte.
Als er das Fußballspielen wieder aufnahm, war das Vereinsleben bei der Neuköllner Tasmania 73 – der „Prominentenelf“ allerdings – der einzige Kontakt außerhalb der Polit-Boheme, in der er sich sonst bewegt („Tasmania war meine Feldforschung, und ich studierte dort den Arbeiter der Metropolen“). Gegen Ende von Farockis autobiografischen Aufzeichnungen überwiegen Kinderszenen, detailreiche, aufmerksame Betrachtungen aus den ersten Jahren mit seinen Zwillingstöchtern (Jahrgang 1968), und die Sphäre dieser Eigeninitiativ-Kinderläden, direkte Abkömmlinge der 68er-Bewegung, führt auf einmal vor Augen, wie stark innerhalb weniger Jahre das Politische das private, familiäre Leben, in dem Kinder aufwachsen, verändert hat: „Wir müssen Bausteine produzieren.“ – „Was getan werden soll // Wir wollen eine Einrichtung schaffen, die zu Anfang einfach ein Büro zur Anleitung und Koordination einiger Dokumentarfilmarbeiten ist. / In letzter Konsequenz eine (die) nationale Bilderbibliothek. / Herstellend Material zur Untersuchung der Gegenwart, zukünftig der Vergangenheit. / Diese Einrichtung soll sammeln, das heisst sicherstellen, was es gibt und produzieren, das heisst initiieren, was es noch nicht gibt. (…)“
Aus jener Idee eines Zusammenschlusses, die Farocki 1975 in einem unveröffentlichten, aber kursierenden Papier formuliert (mit dem „Meine Nächte mit der Linken“. Schriften Bd. III endet), hat sich keine Einrichtung begründet; es ist eine Denkmöglichkeit geblieben, unzumutbaren Verhältnissen für eine verantwortliche Bilderarbeit eine „Selbstorganisation von Kritik und Wissen“ seitens der vielen Bildproduzenten-Kleinunternehmer entgegenzustellen. „Was man Dokumentation nennt, das zeigt die Welt so, als wäre sie bekannt, was dann dazu führt, dass man nach ein paar Jahren schon nicht mehr erfahren kann, wie sie ausgesehen hat. Es müssen aber Bilder gemacht werden, mit denen schon jetzt die fremde Welt entdeckt wird und die Gegenwart Geschichte wird. Wir müssen Bausteine produzieren. Zuerst müssen wir entwickeln, wie man diese Bausteine gewinnt und dann müssen wir zusammensetzen und auseinandernehmen.“ (Farocki)
Ab Januar 1974 steht Farockis Name im Impressum der Zeitschrift „Filmkritik“ – hier sei ein charakteristischer Farocki-Text aus der Rubrik „Die Filmkritik geht ins Kino“ wiedergegeben, aus jenem Ressort, dem er bis zum Ende des Blattes sehr viel beisteuern wird, und in dem es galt, eine Filmkritik zu schreiben, um eine Idee zu produzieren. Charakteristisch sein scharfer Blick fürs zeitsymptomatische Detail, die Entlarvung einer Ideologie hinter modischen Zeichen und Jargons, die Betrachtung eines Films als Baustein für eine Ethnologie gegenwärtiger Verhältnisse aus verfremdendem zeitlichen Abstand:
„Der Tod kennt keine Wiederkehr (The Long Goodbye) / Die Proletenfrauen lassen sich Frisuren machen, die man gesondert vom Kopf betrachten kann, Frisuren wie eine Mütze. Die betuchten Frauen rümpfen darüber die Nase und geben sich Mühe, Ausdruck des Gesichts mit dem der Frisur abzustimmen. Über beide können die Mädchen, die studieren dürfen, nur lachen. Sie tragen die Haare offen, als Haare. Die Ideologie des Materialen, Nessel vor den Fenstern, ungebeizte Türplatten für den Schreibtisch, Stahlregale für die Bücher. Nina von Pallandt trägt dazu luftige Kreationen aus dem India-Shop, im isländisch-nepalesischen Bauern-Look. Die Frisur hat in ihre Persönlichkeitsrechte nur soweit eingegriffen, dass er ihr auf der Höhe der Ohren etwa zwei Schnudeln mit der Brennschere gemacht hat. Was haben denn Mittelstandsfreaks in einer Geschichte von Chandler zu suchen? Außerdem rutschen offene Haare beim Spielen doch immer ins Gesicht, und Nina hat immer einen Finger frei, sie wieder hochzustreichen, damit man wieder das Gesicht sehen kann von der Frau, die mit dem Mann was gehabt hat, der das Buch geschrieben hat, das als die Memoiren dieses Milliardärs ausgegeben wurde.“ („Filmkritik“, Nr. 204, Dezember 1973)
Close reading – Dialoge
In den neunziger Jahren befasste sich Farocki, im Austausch mit Kaja Silverman, während seines Aufenthalts an der US-amerikanischen Westküste mit Godard. Allein im Titel – „Von Godard sprechen“ (Band 2 der Schriften) – klingen Nähe und Vertrautheit mit dem Werk an. In ihrem Nachwort zur Neuausgabe – „Harun Farocki’s California Years“ – bezeichnet Doreen Mende das Buch als „ein imaginäres Gespräch in nichtlinearer Zeit, das sich nicht allein im Schreiben, Umschreiben und Überschreiben formuliert“. Im selben Jahr wie die Originalausgabe „Speaking about Godard“ (New York University Press, 1998), wurde die deutsche Fassung im Verlag Vorwerk 8 in Berlin veröffentlicht, und diese Neuausgabe als integraler Teil der Harun-Farocki-Schriften-Edition ist eine außerordentlich verdienstvolle, eine weitere exzellente Unternehmung vor allem des Harun Farocki Instituts (HaFI). Zu lesen ist das Ergebnis eines „close reading“, eines Verfahrens, das Farocki als Lehrmethode immer angewandt hatte, entstanden aus einer chronologischen Sichtung, die zu acht Dialogen über einzelne Filme führte (zwischen Vivre sa vie, 1962, und Nouvelle Vague, 1990). Die Dialoge lesen Theorie aus den Bildern heraus und tragen Theorie in sie ein. Einstellungsgenau werden einzelne Szenen erzählt, man spürt die unterschiedlichen Herkünfte der Beteiligten im Gespräch zwischen Filmtheoretikerin und Filmemacher, deren Arbeit dialogisch verbunden ist durch das Kino, das ihre Sprachformen verknüpft. „Silverman und Farocki waren in den neunziger Jahren Arbeitskollegen, Liebespaar und, soweit es die geografische Situation zuließ, auch Lebensgefährten“, so Doreen Mende. „,Von Godard sprechen‘ ist deshalb auch das Sprechen eines Paares über Paare. Das Buch ist ein Resultat von Liebe, Wertschätzung und Leidenschaft. Etwa dreißig Jahre, nachdem Farocki mit Kommilitonen die Deutsche Film- und Fernsehakademie besetzt und in ‚Dsiga Wertow Akademie‘ umbenannt hatte (…), führt Farocki im Gespräch eine filmpolitische Freundschaft mit Godard fort. Den Gesprächen mag für Farocki auch die befreiende Wirkung innegewohnt haben, sich von der Wahlverwandtschaft mit Godard abzulösen.“
Eine ausführlichere Fassung des Textes finden Sie hier