Noch bis 15. März präsentiert das Filmmuseum in Wien Werke des sowjetisch-jüdischen Filmemachers Michail Kalik (1927–2017), die zu den künstlerischen Höhepunkten der sowjetischen Filmgeschichte gehören. Eine höchst lohnenswerte Wiederentdeckung.
Was bedeutet das – du sitzt (lebst vielleicht sogar, hast dich „eingelebt“) in der Emigration, „und der Wind kehrt zurück“? Es bedeutet, dass da die ganze Zeit mehr war als eine Ahnung von einem Leben, das du gerade verpasst hast. Latent präsent all das, was du zurückgelassen hast, verloren. Auch wenn es bitter und stellenweise grausam war. Der Wind, er zieht dich zurück.
I vozvraščaetsja veter … (Und der Wind kehrt zurück) nannte Michail Kalik, dessen Œuvre nach Berlin (Kino Arsenal) und Frankfurt/Main (DFF) nun im Österreichischen Filmmuseum zu sehen ist, seine letzte Arbeit. Im Vorspann erscheinen Autor, Titel und Gattung: „Memoiren“. Ein Film wie ein Sammelband des Lebens, aus dem Jahr 1991, jenem Jahr, in dem das Schicksal des Roten Imperiums endgültig besiegelt war (mochte man damals wenigstens meinen). Ein Film, gedreht zwanzig Jahre, nachdem Kalik Moskau den Rücken gekehrt hatte und 1971 nach Jerusalem emigriert war. Gemeinsam mit dem Wind und einem israelischen Pass in der Tasche kommt er nun an jenen Ort zurück, der einmal seine Heimat war, um bei sowjetskoje schampanskoje Reunion mit den Freunden zu feiern (darunter sein kongenialer Film-Komponist Mikaėl Tariverdiev), die jüdischen Gräber seiner Eltern Naum und Liza zu besuchen und eben diesen letzten Film zu drehen: eine Collage aus autobiografischem Re-Enactment, Zitaten aus eigenen Filmen und (wie in fast all seinen Arbeiten) einschneidendem Chronik-Archiv-Material.
Und der Wind kehrt zurück ist die auf Filmlänge verdichtete Geschichte der UdSSR, eine höchst originell eingefädelte Revision konzise ausgewählter Momente aus dem Leben des assimilierten Juden im Moskauer Künstler-Milieu. Nach einer behüteten und gleichzeitig ausreichend verrückten Kindheit mit ¡No pasarán!- Spielen im Sand (die antifaschistischen Helden von Madrid verschwinden im Zuge der anti-trotzkistischen Säuberungen 1937 aus dem Plakatvorrat von der Kinderzimmerwand) werden die Kaliks als Teil des Sowjetvolkes von den Nazis im Juni 1941 überfallen und zusammen mit der Intelligenz nach Alma-Ata evakuiert, wo Mischa als Teenager den Dreh von Eisensteins Ivan Groznyj erlebt. Nach der großen Sieges-Parade 1945 folgt dem deutschen Antisemitismus der eigene sowjetische. Die Trauerzeremonie für Salomon Michoėls ist staatstragend, vom politischen Mord dahinter weiß man noch ebenso wenig wie von der anrollenden „Anti-Kosmopolitismus“-Kampagne gegen die „jüdische Nation“.
Kaliks Montage ist dann auch radikal: Es braucht nur einen Schnitt vom jüdischen Staatskünstler (und posthumen „Volksfeind“) zum eigenen Schicksal – der Verurteilung zu zehn Jahren Lagerhaft wegen „jüdisch-bourgeoisem Nationalismus“ und „terroristischen Absichten“. Transportzüge, horrende klimatische Umstände, Massengräber, Verrohung und Gewalt – Kalik zeichnet seine Lagererfahrung, knapp, prägnant weil subjektiv und verknüpft sie mit einem ersten längeren Filmzitat aus seinem vielleicht wichtigsten Werk der sechziger Jahre, Do svidanija mal’čiki (Auf Wiedersehen, Jungs, 1964), dessen Handlung in den dreißiger Jahren spielt: Drei Freunde, Volodja, Saša und Vitja, nehmen Abschied von der Kindheit und dem Meer, ihre Zukunft sehen sie in der Militärschule. Am Zuschauerhorizont wartet freilich schon eine andere, sehr viel realere Zukunft, der Krieg und damit das sichere Ende ihrer Fröhlichkeit.
„Vor mir lag, so dachte ich, nichts als Freude“. Dieser Zwischentitel taucht in Auf Wiedersehen, Jungs immer wieder auf, als stumme Begleitstimme eines sich erinnernden Erwachsenen, „deren existenzielle Melancholie einzigartig im sowjetischen Kino ist“, wie der Kurator der Kalik-Retrospektive, Gary Vanisian, schreibt. Schon 1964 war die Vergangenheit so untrennbar mit der Gegenwart verbunden (und vice versa), dass der leichte zeitliche Orientierungsverlust, der sich beim Zusehen einstellt, gewollt erscheint. Zudem kommen noch diverse Folien, vor denen sich das trotz allen Schicksals lyrisch und leichtherzig (stellenweise hochkomödiantisch) erzählte Treiben ereignet. Nicht nur an Boris Barnets Am blauesten aller Meere denkt man unweigerlich (im Österreichischen Filmmuseum quasi kanonisch), auch der Klassiker der einstigen FEKS-ler, die in den dreißiger Jahren nur noch das Regieduo Kozincev/Trauberg waren, taucht auf, als Filmzitat aus dem zweiten Teil der „Maksim“-Trilogie Maksim Rückkehr (1937). „Es rollt und es dreht sich der Ballon, der blaue“, heißt es in dem berühmten Lied, und die Zwischentitel setzen schon eingangs summierend fort: „Es waren einmal drei Kameraden. Einer ist in der Fabrik gestorben, einen haben sie gehängt und einer …“. Von Erich Maria Remarques „Drei Kameraden“, das nur nebenbei, waren bezüglich Figurenkonstellation so viele Filme des Sowjetkinos inspiriert, dass aufzuzählen sie nicht lohnt; für die Zeitgenossen jedoch nahmen Kaliks Buben klarerweise den direkten Dialog mit Marlen Chucievs Jungmänner-Trojka in Zastava Il’iča (Ich bin zwanzig) auf, dem Olymp des Tauwetter-Kinos.
Kalik – das spürt man spätestens an der Stelle, in der das Filmzitat völlig unvermittelt einsetzt – kennt die Nuancen der sowjetischen Avantgarde-Ästhetik genau und weiß sie – wie vielleicht kein Zweiter seiner Generation – souverän (weil beiläufig) in die sechziger Jahre zu übersetzen (lies: ‚überzusetzen‘). Wer da alles aufblitzt: Vertov & Kulešov, Barnet & die FEKS-ler, nicht zuletzt deren Mitglied Sergej Jutkevič, bei dem Kalik ab 1954 das Studium am Moskauer VGIK wieder aufnehmen konnte und vier Jahre später abschloss. Elegant führt Kalik sie alle zusammen und in sein eigenes poetisches Universum zurück, das – in Auf Wiedersehen, Jungs ganz besonders – von den Klangwelten Mikaėl Tariverdievs wie auf Flügeln getragen und zu einem Tauwetter-Film der Extraklasse wird.
Bei uns eine absolute Entdeckung, gilt Kaliks Film, der zu seiner Zeit recht bald ins Regal gelegt wurde (als milde, aber wirksame Form der Zensur), spätestens seit er sich nach der Perestrojka nachhaltig ins kollektive russische Gedächtnis einbrannte, als gesetzt. Stets ist jene Brigaden-Passage, die er im Memoiren-Film Jahre später zitieren wird, als Abrechnung mit dem Stalinismus gewertet worden. Und zwar so fundamental, dass im schon von Brežnev besetzten Politbüro die Alarmglocken läuteten. Aus heutiger Perspektive schockiert freilich eine andere Szene, auch unvermittelt plötzlich: Kalik konfrontiert die zu Ende gehende Kindheit der drei Sowjetjungs zuerst mit Hitlerjugend-Material der NS-Propaganda, erst dann folgt die SU-Keule, und unweigerlich formiert sich so ein sehr nachvollziehbares Bild des Totalitarismus, zu dem beide Seiten gehörten.
Wie Kalik seinen kritischen Blick auf die Politik mit Poesie verschmelzt, ist herausragend. Im russischen Kontext sieht man die Nähe zur europäischen Moderne, zu Clair, Truffaut, Bergman, Antonioni und jener Gabel, die Rossellini und Fellini aufmachen. Innerhalb des so reichen Kalik-Kosmos jedoch sind es der blaue Ballon, die Sehnsüchte junger Menschen und die atmosphärische Musikalität wie Rhythmizität seiner Regie, die als Verbindungsfäden zu seinen beiden anderen Tauwetter-Perlen Čelovek idet za solncem (Der Sonne entgegen, 1961) und Ljubit‘ (Lieben, 1968) fungieren, auch wenn es sich um jeweils ganz eigene Ästhetiken handelt, die Kalik etabliert. Im ersten Fall erkundet der kleine Sandu mit den großen Augen das Verhältnis seiner Welt zum Planetensystem, eine Kugel, mal Ball, mal Sonne wird zum objet trouvé imaginaire, ihm auf den Spuren begegnet er den Geheimnissen eines ganzen Tages.
Die Märchenwelt und der magische Realismus von Der Sonne entgegen, die von der Zensur freilich als verkappter „Drang nach Westen“ und damit als Sowjetkritik interpretiert wurde (wie lächerlich das Kalik selbst fand, sieht man im Memoiren-Film), wird im großartigen Lieben (ein Infinitiv, der auch als Imperativ verstanden werden kann) von einem fast dokumentarischen Ton abgelöst. In vier Episoden – auf drei recht modernistische folgt als letzte eine moldawisch-rustikale (wow!) – werden Paare beobachtet, wie sie sich bilden, finden, kommunizieren, küssen, begehren. Der schon in Auf Wiedersehen, Jungs! spürbare sexuelle Elan – der überhaupt eine wesentliche Eigenschaft des Kalik-Werks darstellt (siehe besonders seinen „israelischen“ Spielfilm Shlosha v’achat (Drei und eins, 1974) – entblößt sich in Lieben auf für sowjetische Verhältnisse radikale Weise. So radikal, dass das Verbot unausweichlich war.
Unbedingt wiederzuentdecken ist diese Trilogie! Dennoch ist auch der Blick auf die Filme der Dekade davor lohnend – neben dem ungewöhnlich privaten Partisanenfilm Junost‘ našich otcov (Die Jugend unserer Väter, 1958) und dem in trockener Sentimentalität gehaltenen Kolybel‘naja (Wiegenlied, 1960) vor allem Kaliks Debüt-Film über den Gajduken-Aufstand im 19. Jahrhundert, Ataman Kodr, eine „Molodva-Film“-Produktion aus dem Jahr 1958. Leider ist die Arthur-Miller-Verfilmung Cena (Der Preis), Kaliks letztem Film vor der Ausreise nach Israel, nicht dabei.
Schon in den Filmen der Moldauer wie Moskauer fünfziger und sechziger Jahren, gedreht vom Georgier Levan Paatašvili und musikalisch vom Armenier Tariverdiev mitgestaltet, tauchen immer explizit als jüdische markierte Figuren auf. Das ist in seiner Affirmation des ‚Peripheren‘ besonders. Ebenso wie Kaliks große Kunst des fragmentarisch-episodischen Erzählens. Da hat einer keine Angst vor Unvollständigkeit. Zu zersetzt war dafür seine eigene Biographie. Die Emigration reflektiert Kalik auch in Neotpravlennoe pismo v Moskvu (Der nicht abgeschickte Brief nach Moskau, 1977), einem dokumentarischen Einblick in die russische Diaspora Israels. Auch hier schichtet sich ein ganzes Panorama der Zeiten auf.
Den Abschluss und Höhepunkt aber bildet Und der Wind kehrt zurück, der Kaliks Filmuniversum als autobiografisches Grenzgänger-Phänomen in die nutshell packt. Kritiker nannten dieses im Meer der damaligen Wiederentdeckungen zensierter Sowjet-Avantgarde- und Regalfilme (zumindest bei uns) untergegangene Meisterwerk auch den „russischen Amarcord“. Eine Fellinisierung, die zwar zutreffen mag, aber viel zu wenig darüber aussagt, wie sehr sich Kaliks Werk jeder Kategorisierung widersetzt. Hingehen, der Sonne folgen, ins Wasser tauchen und: lieben!