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They Shall Not Grow Old

Im Westen was Neues

| Oliver Stangl |
Peter Jackson holt für den Dokumentarfilm „They Shall Not Grow Old“ den Ersten Weltkrieg mit modernster Technik ins Heute. Selten war der Einsatz von Computereffekten so sinnvoll.

Als Medienmogul Ted Turner 1988 den Klassiker Casablanca für eine Fernsehausstrahlung kolorieren ließ, löste er einen Aufschrei unter Filmkritikern aus. Diese Entscheidung zeige die Respektlosigkeit und Ahnungslosigkeit Turners, was die Kunst der Schwarzweiß-Kinematografie betreffe, meinte etwa Roger Ebert. Stephen, Sohn des Casablanca-Hauptdarstellers Humphrey Bogart, stellte die rhetorische Frage, warum man nicht auch gleich der Venus von Milo Arme verpasse. Allgemeines Fazit unter Cineasten: Der Film sei visuell nun weit weniger ansprechend, das Spiel mit Licht und Schatten komme nicht mehr zur Geltung. Schließlich ruderte Turner zumindest teilweise zurück und bescheinigte Casablanca immerhin großzügig, zu einer Handvoll Filmen zu gehören, die keiner Farbe bedürften. Die Barbarei war also noch einmal in ihre Schranken verwiesen worden, die Farbversion des Meisterwerks und die dazugehörige Kontroverse sind heute so gut wie vergessen.

Casablanca ist bekanntlich ein Spielfilm, doch müsste Kritik am manipulativen Umgang mit der Filmhistorie im Fall von dokumentarischem Material – beispielsweise aus der Stummfilmzeit – nicht eigentlich noch heftiger ausfallen? Schließlich erwartet man sich hier zumindest einen Anflug von so etwas wie Authentizität (Objektivität ist ohnehin Illusion, wie uns die Philosophie lehrt, und bei Spielfilmen aus dieser Ära gab es genug Farbexperimente, darunter das Viragieren, bei dem Szenen in einen einzelnen Farbton getaucht wurden). Auf den Dokumentar-Betrachter von heute wirkt die Zeit vor rund hundert Jahren durch den Mangel an Farbe entrückt, fremd, fern. Ist Distanz der Preis für sogenannte Authentizität? Michael Haneke etwa antwortete auf die Frage, warum er sein 1913/14 spielendes Drama Das weiße Band (2009) in Schwarzweiß gedreht habe, sinngemäß, dass er sich diese Zeit aufgrund des vorhandenen Dokumentar- und Fotomaterials nicht in Farbe habe vorstellen können.
Der neuseeländische Regisseur Peter Jackson hat für They Shall Not Grow Old nun dokumentarisches Material aus dem Ersten Weltkrieg koloriert, doch der Aufschrei ist ausgeblieben. Zu Recht, denn das Ergebnis ist alles andere als cineastische Barbarei. Im Gegenteil, der Film verfügt über die vielleicht sinnvollsten Spezialeffekte der vergangenen Jahre.

 

Verheerung und Humanität

Vor einigen Jahren hatte das Imperial War Museum bei Jackson angefragt, ob er Archivmaterial aus dem Ersten Weltkrieg für einen Film verwerten wolle. Einzige Bedingung: Der Einsatz des Materials solle neuartig und originell sein. Jackson brütete über diversen Möglichkeiten und entschied sich dann für den Computer – ein Werkzeug, das bereits Middle-earth in seiner oscarprämierten Lord of the Rings-Trilogie zum Leben erweckt hatte. War Jackson bei LotR als creator mundi erfolgreich, so holt er nun eine zeitlich ferne Welt in die Gegenwart und fügt seinem abwechslungsreichen Werkkörper so erneut ein singuläres Œuvre hinzu. Für They Shall Not Grow Old kompilierte er aus hunderten Stunden Archivmaterial Szenen, die vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs über verheerende Schlachten bis zum Ende der Kampfhandlungen reichen – das alles aus der Sicht britischer Soldaten.

Das vorhandene Material wurde koloriert, restauriert, in 3D konvertiert und mit Schärfe versehen. Lippenleser konnten feststellen, was die Soldaten auf den Aufnahmen sagten, Schauspieler sprachen den Text ein. Das Soundteam, mit dem Jackson bereits bei The Lord of the Rings zusammengearbeitet hatte, arbeitete an einer Geräuschkulisse, die Pferdewagen ebenso akustisch illustriert wie die Explosionen der Bomben. Aus 600 Stunden Interviewmaterial mit Kriegsveteranen – ebenfalls aus dem Archiv – komponierte Jackson eine Oral History, die als Off-Kommentar fungiert.

Ein Grund für die Befremdung, die altes Filmmaterial oft auslöst, sind neben Schwarzweiß die ruckelnden, puppenartigen Bewegungen der Menschen. Alles wirkt unfreiwillig komisch, geradezu wie Slapstick. Die Farbsequenzen in They Shall Not Grow Old laufen dagegen im „Normaltempo“ ab, und diese Tempoänderung, die zu natürlichen Bewegungen führt, ist in Kombination mit dem Sound vielleicht sogar wichtiger als das Hinzufügen der Farbe. Die so erfolgte Erdung lässt uns all die jungen Männer, die einen sinnlosen Tod starben, so nahe wie noch nie erscheinen (vereinzelt mag man eine gewisse Unnatürlichkeit in allzu „glatt“ wirkenden Gesichtern erkennen, doch der überzeugende Gesamteindruck überwiegt). Der Erste Weltkrieg erscheint in einer ungekannten Unmittelbarkeit.

Dass Kritik an dieser Art der Filmmanipulation nicht bzw. nur in Spurenelementen aufgekommen ist, liegt auch an der Behutsamkeit und der Dramaturgie, mit der Jackson vorgeht: Die ersten 20 Minuten bestehen aus einem rechteckigen Schwarzweißbild im Originalformat, sie erzählen die Vorgeschichte bis zum Ausrücken der Männer, erst danach erweitert sich das Material zum farbigen Breitbild. Dieser Moment des Übergangs lädt einerseits zum Vergleich von „Original“ und Bearbeitung ein, andererseits entlockt er dem Betrachter ein Staunen.

Die erwähnten Off-Stimmen erzählen von Menschlichem, Allzumenschlichem: Von der Naivität, mit der manche in den Krieg zogen, von Obrigkeitshörigkeit („Damals tat man einfach, was einem von oben gesagt wurde“), von Kameraderie und von Streichen, die man einander spielte. „Wenn gerade keine Schlacht stattfand, war es wie Camping mit den Jungs“, erzählt einer der Veteranen. Viele der Soldaten haben keine Ahnung, was sie auf dem Schlachtfeld genau erwarten wird, doch das Material nähert sich unaufhaltsam dem unfassbaren Grauen, der Verheerung (so wird etwa gezeigt, wie in Belgien ganze Landstriche zu mondähnlichen Landschaften zerbombt wurden).

Der Zuseher wird Zeuge der furchtbaren hygienischen Zustände in den Schützengräben, sieht die aufgedunsenen toten Körper, auf denen sich die Fliegen tummeln, Leichenteile, Senfgaswolken und Blut. Eine Einstellung erinnert an das Horror-Genre, in dem sich Jackson auch schon erprobt hat: Eine Hand ragt aus der Erde, als wolle der Gefallene sich nicht mit dem Tod abfinden.
Viele der Sequenzen spielen sich in Schützengräben ab, doch mit Ausnahme von Belgien bleiben die Namen von konkreten Schlachten und Orten ausgespart. Es geht um eine universelle Erfahrung, um das Leben aus Soldatensicht. Und dazwischen immer wieder um Humanität: Viele der britischen Soldaten sahen in den Deutschen keine Bestien oder Racheobjekte. Man verstand sich in der Regel mit den Kriegsgefangenen, respektierte den deutschen Kampfeswillen und alberte sogar gemeinsam herum. Man spürt geradezu schmerzlich, wie überlebensnotwendig der Humor ist, wie wichtig den Männern auch die kindischsten und derbsten Scherze sind, um den irrationalen Wahnsinn des Kriegs durchzustehen.


Manipulation oder Restauration?

Es erscheint zunächst paradox, dass gerade Computereffekte für so etwas wie Authentizität sorgen, doch wird im Fall vonThey Shall Not Grow Old überdeutlich, dass die Effektivität von CGI sehr stark von der Sensibilität des dahinterstehenden Künstlers abhängt (im Spielfilmbereich sind die Filme David Finchers hervorragende Beispiele für den ebenso dezenten wie effektiven Einsatz von Effekten).

Letztendlich darf auch nicht übersehen werden, dass Jackson mit seinem Dokumentarfilm eine emotionale, dramaturgisch gegliederte Geschichte erzählt. Seine Mockumentary Forgotten Silver (1995) war ein noch analoges, augenzwinkerndes Vortäuschen von Wirklichkeit, They Shall Not Grow Old erreicht Wirklichkeit durch … ja, wie soll man es definieren? Manipulation? Eingriffe? Oder wird man sich in Zukunft, falls vergleichbare Filme folgen, auf Begriffe wie „Hyper-Restaurierung“ verständigen? Bei der konkreten Pionierleistung, die They Shall Not Grow Old darstellt, überwiegt beim Betrachter aber wohl vorerst das Gefühl, die Zeit vor hundert Jahren mit völlig anderen Augen zu sehen – und durch die Immersion vielleicht ein wenig besser zu verstehen.

Der Filmtitel enstammt dem Gedicht „For the Fallen“ und geht auf jene junge Soldaten  – viele waren erst 15 oder 16 – ein, die im Krieg fielen. Jackson sieht They Shall Not Grow Old übrigens als sein bislang persönlichstes Werk: Sein Großvater, dem der Film gewidmet ist, diente als Soldat im Ersten Weltkrieg.

Peter Jacksons nächstes Projekt ist wieder ein Dokumentarfilm: Mit Originalmaterial will er die Endphase der Beatles nachzeichnen. Das Gefühl, etwas noch nie Gesehenes vor Augen zu haben, wird sich dort aller Voraussicht nach aber nicht so sehr durch den Computer einstellen, sondern durch bislang unveröffentlichtes Filmmaterial.