Mit dem fulminanten Porträt eines skrupellosen Karrieristen deckt „Vice“ gnadenlos Fehlentwicklungen im politischen Systems der Vereinigten Staaten auf.
Als ein junger Mann eines Nachts im Jahr 1963 auf einer einsamen Landstraße von der Polizei gestoppt wird und sturzbetrunken aus seinem Wagen steigt, deutet wenig darauf hin, dass er die Geschicke eines der mächtigsten Staaten dieser Erde nachhaltig beeinflussen sollte. Richard Cheney – so der Name des Alkoholsünders – hat mit gerade einmal 22 Jahren einen weiteren Tiefpunkt in seinem Leben erreicht, nachdem er zuvor schon seine Ausbildung an der Elite-Universität Yale vorzeitig beenden musste, weil er lieber soff und feierte, als sich dem Studium zu widmen. Doch die eingangs angesprochene Eskapade im heimatlichen Wisconsin wird – so suggeriert es Adam McKay in seinem furiosen Biopic Vice – zu einer Art Wendepunkt im Leben des Richard Cheney (Christian Bale), den jedermann jovial „Dick“ nennt. Hauptverantwortlich dafür ist aber zunächst seine Frau Lynne (Amy Adams), die ihm gehörig die Leviten liest. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der sich zu diesem Zeitpunkt völlig durchs Leben treiben lässt, ist Lynne eine ebenso smarte wie ambitionierte junge Dame. Doch im Amerika der frühen sechziger Jahre bleiben ihr als Frau – wie sie es dem konsternierten Dick unverblümt ins Gesicht schleudert – die Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft verschlossen. Dafür braucht sie einen (Ehe)-Mann, und wenn Dick Cheney nicht bald entsprechend in die Spur kommt, müsse sie ernsthaft darüber nachdenken, ob sie die richtige Wahl in Sachen Lebenspartner getroffen habe. Und Cheney wird sein Leben ordnen, den College-Abschluss nachholen – wenn es auch anstelle von Yale mit der Universität Wyoming eine weniger prestigeträchtige Hochschule ist – und sich Ende der sechziger Jahre mitten im Zentrum der US-amerikanischen Politik wiederfinden, zunächst nur als einer der vielen Mitarbeiter im Kongress. Doch er trifft schon bald einen Mann, der sich ebenfalls anschickt, die Karriereleiter möglichst schnell nach oben zu klettern – Donald Rumsfeld (Steve Carell). Eine Begegnung, die Folgen haben wird, denn Cheney und Rumsfeld werden im Lauf der Jahre ein Duo bilden, das die Politik der Weltmacht USA ebenso entscheidend wie verhängnisvoll beeinflusst.
Systemkritiker
Regisseur und Drehbuchautor Adam McKay hat sich mit seinem Film der höchst ambivalenten Persönlichkeit Richard Cheneys angenähert, doch Vice geht sowohl thematisch als auch formal weit über ein Biopic konventioneller Natur hinaus. Hatte McKay mit The Big Short anhand einer individuellen Geschichte – der des Hedgefond-Managers Michael Burry – eine überaus kritische Analyse des Finanzsystems und jener Auswüchse, die den großen Crash 2008 verursachten, zu entwickeln verstanden, erweist sich Vice entlang der Biographie Cheneys als ebenso brillante Bilanz wie schonungslose Abrechnung mit der Politik der Vereinigten Staaten.
Wie auch bei The Big Short setzt McKay dramaturgisch auf einen kongenialen Mix aus Drama und Komödie samt höchst bissigen, sarkastischen Untertönen. Formal ist Vice ähnlich wie The Big Short eine furiose Tour de Force aus Spielszenen, Archivmaterial und vor allem einem auktorialen Erzähler, der mittels Off-Kommentaren agiert, aber auch – in Gestalt von Jesse Plemons – die sogenannte vierte Wand durchbricht und sich direkt an den Zuschauer wendet. McKays Inszenierung bricht narrative Konventionen zusätzlich auf, indem etwa alternative Handlungsstränge angerissen, jedoch abrupt abgebrochen werden.
Dick Cheney und Donald Rumsfeld werden im Lauf der Jahre ein Duo bilden, das die Politik der Weltmacht USA ebenso entscheidend wie verhängnisvoll beeinflusst
Im Zentrum des Ganzen rekapituliert Adam McKay jedoch den Lebens- und Karriereweg eines Mannes, der zunächst mit ideologischen Grundsätzen oder Überzeugungen wenig im Sinn hat. Das fällt allerdings nicht weiter ins Gewicht, denn Cheneys Mentor in der frühen Phase seiner Karriere, besagter Donald Rumsfeld, ist weitgehend ähnlich gestrickt und vor allem darauf fokussiert, Macht und Einfluss auf einer persönlichen Ebene zu erlangen. Eine gespenstisch anmutendende Szene illustriert das Fehlen von grundlegenden Werten. Auf dem Weg zu Rumsfelds Büro, inmitten einer Diskussion über tagespolitische Angelegenheiten, wirft Cheney unvermittelt ein: „What do we believe?“ Eine Frage, auf die Rumsfeld nur mit einem sardonischen Lachen reagiert, ehe er hinter der dicken Tür seines Büros verschwindet.
In diesem Licht erscheint es treffend, dass die Karrieren von Cheney und Rumsfeld im Umfeld der Präsidentschaft von Richard Nixon beginnen, dessen ausgeprägter Sinn für Machinationen ihm im Verlauf seiner politischen Laufbahn den Spitznamen „Tricky Dick“ eintrugen – und der wegen seiner illegalen Umtriebe, insbesondere im Zuge der berüchtigten Watergate-Affäre, zurücktrat, um der Schmach einer Amtsenthebung zu entgehen. Das ficht Cheney und Rumsfeld bei ihrem Weg nach oben nur wenig an.
Bereits unter Nixon bekleiden sie verschiedene Positionen, doch unter seinem Nachfolger Gerald Ford nehmen ihre Karrieren richtig Fahrt auf. Rumsfeld wird Verteidigungsminister, Dick Cheney folgt ihm als Stabschef im Weißen Haus nach. Bereits in diesen Anfangsjahren wird ein Zug zur Macht deutlich, der – euphemistisch formuliert – unangenehme Züge trägt. Cheney etwa ist fasziniert vom Konzept der „Unitary executive theory“, einer reichlich gewagten Auslegung der US-Verfassung, die dem Präsidenten weit reichende Exekutivgewalt, vorbei an dem ausgewogenen System an „Checks and Balances“, das die Ausgewogenheit zwischen Kongress und Regierung garantieren soll, verschaffen soll. Die Maxime, nach der das Recht der Politik zu folgen habe, bekommt hier eine ebenso erschreckende – die Ereignisse nach 9/11 sollten zeigen, wie ernst es Politikern vom Schlage Cheneys und Rumsfelds damit sein sollte – wie aktuelle Dimension.
Anders als etwa Oliver Stone, der in Nixon seinen titelgebenden Protagonisten neben der zeitgeschichtlichen Dimension als Figur zeichnet, die einem Königsdrama Shakespeares entstammen könnte, hat McKays Vice immer auch eine übergeordnete Perspektive im Blickfeld. Dabei kristallisiert sich Dick Cheney zu einem Synonym für jene Art des Politikers heraus, der zur Erlangung der Macht vor kaum etwas zurückschreckt, ganz gleich ob es die Machenschaften eines Richard Nixon, die die Grenzen der Legalität überschreiten, sind oder jene Form des skrupellosen Populismus – mit dem man ja auch in Europa mittlerweile einige Erfahrung hat –, der den gegenwärtigen US-Präsidenten ins Amt hievte. Als Stabschef von Präsident Ford war Dick Cheney dem Zentrum der Macht ein ganzes Stück näher gerückt, doch dann kam ihm, dem eiskalten Strategen, ein aufrechter Mann in Gestalt eines Erdnussfarmers aus Georgia in die Quere – Jimmy Carter gewann die Präsidentschaftswahl 1976.
Die erzwungene Unterbrechung seines Aufstiegs macht aber auch deutlich, warum Dick Cheney bevorzugt, im Hintergrund zu agieren und möglichst unbehelligt seine Fäden ziehen zu können. Um in der Politik zu bleiben, bewirbt er sich 1978 um das Amt des Kongressabgeordneten von Wyoming, doch sein Wahlkampf gerät zur Katastrophe – öffentliche Auftritte, bei denen man potenzielle Wähler begeistern sollte, sind nicht sein Metier. Als ein Herzanfall Cheney zwischenzeitlich außer Gefecht setzt, springt seine Frau rettend in die Bresche. In ihren flammenden Wahlkampfreden lässt McKays Inszenierung Lynne Cheney genau jene Parolen gegen das politische Establishment schmettern, die Jahrzehnte später die erzreaktionären Kräfte um die wutbürgerliche Tea-Party-Fraktion verwendeten und damit zu einem Faktor in der US-Politik gerieten.
Die Macht und ihr Preis
In Vice erscheint die Entscheidung Cheneys für das Lager der Republikaner als geradezu absurde Beliebigkeit, das Bedienen einer konservativen Agenda entspringt da weniger einer Bindung an Grundwerte. Politisches Handeln dient in erster Linie Machtgewinn und -erhalt sowie den ökonomischen Interessen einer ausgesuchten Klientel.
Das konnte ein Mann wie Dick Cheney kraft seiner Positionen zusehends besser bedienen, zunächst als Verteidigungsminister unter Präsident George Bush. Nach dessen Abwahl im Urnengang gegen Bill Clinton fiel Cheney sehr weich, wurde er doch Vorstandsvorsitzender von Halliburton, einem der weltweit führenden Unternehmen im Bereich Zulieferung von Erdöl- und Energieindustrie – eine Verbindung, die später noch brisant werden sollte. Doch weltpolitische Dimension sollte Cheney mit dem titelgebenden Amt des Vizepräsidenten entfalten, das er unter George W. Bush bekleidete. Ein Posten, der sich traditionsgemäß eher auf repräsentative Aufgaben beschränkt und dem Cheney deshalb zunächst eher skeptisch gegenüber steht. „The Vice President has only to wait for the President to die“, wird er in Vice zitiert. Doch der Stratege der Macht definiert das Amt neu, indem er dem eher unbedarften George Bush Jr. weitreichende Befugnisse und Zuständigkeiten abringt und damit zum Mastermind der Regierung mutiert. Davon sollte Cheney nach den Anschlägen von 9/11 ausgiebig Gebrauch machen. Gemeinsam mit Donald Rumsfeld, der als Verteidigungsminister fungierte, zog er alle Fäden, um unter dem Deckmantel des „War on Terror“ die Invasion des Iraks zu orchestrieren.
Adam McKay hat in seiner gnadenlosen Abrechnung mit jener Form der Politik, die Richard Cheney und Konsorten betreiben, auch die Anwürfe von neokonservativer Seite, seine Kritik sei von der üblichen Voreingenommenheit der Liberalen geprägt. In einem herrlich witzigen Epilog spricht seine Inszenierung solche Vorbehalte sogar direkt an und hält dagegen, dass auch eine liberale Grundhaltung an den präsentierten Fakten nichts ändern würde. Und in der Fülle an Informationen, die McKay in dem Kaleidoskop aus Spielfilm, Voice-Over-Kommentar und Archivmaterialien aufbereitet, findet sich sehr vieles, was sich selbst auf den ersten Blick als längst bekannt und verifiziert erweist. Etwa die Lügen von den Massenvernichtungswaffen, über die das Regime Saddam Husseins verfügen sollte, mit denen man den Einmarsch 2003 rechtfertigte, die mit dem Auftritt von Außenminister Colin Powell vor dem UN-Weltsicherheitsrat ihren unrühmlichen Höhepunkt fanden (der hochdekorierte General Powell sollte nach seinem Ausscheiden aus dem Amt wenigsten so viel Anstand haben, diesen Tag, an dem er wider besseres Wissen Unwahrheiten verbreitet hatte, als den Tiefpunkt seines Lebens zu bezeichnen); die Anwendung der umstrittenen „Unitary executive theory“ durch George W. Bush, die darauf hinaus-lief, dass „Wenn der Präsident etwas tut, ist es legal, weil er eben der Präsident ist“, und direkt oder indirekt alle Ungeheuerlichkeiten wie Guantanamo oder die Folterpraktiken des Waterboardings nach sich zogen; die Affäre um die Enttarnung der CIA-Agentin Valerie Plame. McKay Kay führt in Vice aber auch deutlich vor Augen, welche Mittel zum Einsatz kommen, um solche Politik durchsetzen zu können: von Fokusgruppen, mit denen Stimmungen in der Bevölkerung genau ausgelotet werden, um mittels schon absurder Sprachschöpfungen populistische Botschaften verbreiten zu können. bis zur Etablierung von Think-Tanks wie „Americans for Tax Reforms“, die weniger Vordenker als beinharte Lobbyisten sind. Dass ein Politiker eine Agenda verfolgt, weil er einfach vom moralischen Imperativ einer Sache überzeugt ist, wie etwa Lyndon B. Johnson bei der konsequenten Durchsetzung der Bürgerrechte, hat im System Cheneys keinen Platz.
Vieles ist, wie erwähnt, durchaus bekannt, doch die Verflechtungen, die Adam McKay offenlegt, lassen ein ebenso komplexes wie unheilvolles System erkennen, das sich über Jahre hinweg entwickelt hat. Im Verlauf seiner Tätigkeit für Richard Nixon trifft Dick Cheney etwa auf einen seiner Medienberater. Der ist kein Geringerer als Roger Ailes, der in den neunziger Jahren Fox News konzipierte und an der Spitze des Senders stand, der als einer der vehementesten Verfechter – bis hin zur unverhohlenen Parteinahme – einer republikanischen, konservativ geprägten Politik gilt. Und dass Halliburton nach der Einnahme des Irak dort glänzende Geschäfte machte, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Adam McKay ist mit Vice eine kongeniale Mischung aus Biopic, Drama und bissiger Satire, die zudem eine klare Haltung zeigt, gelungen, was zu einem nicht unwesentlichen Teil auch seinem brillanten Schauspielerensemble, angeführt von Bale, geschuldet ist. Bale hatte bereits 2004 in The Machinist eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass er für die Gestaltung seiner Rollen auch physisch an Grenzen zu gehen bereit ist. Reduzierte Bale damals sein Gewicht beinahe bis zur Gesundheitsgefährdung, hat er für seine Darstellung Richard Cheneys etliche Kilo zugenommen, um der im Lauf der Jahre immer fülligeren Figur des Protagonisten Gestalt zu geben. Doch Bales Leistung liegt natürlich nicht nur in der beeindruckenden physischen Verwandlung, vielmehr verleiht er seiner Figur auch jene Mischung aus nach außen getragener, freundlich anmutender Verbindlichkeit und jene gnadenloser Konsequenz, mit der er seine Agenda verfolgt. Dass er dabei angesichts der Folgen – der Irak-Krieg etwa sollte Zehntausenden das Leben kosten – völlig unbeeindruckt erscheint, Zweifel oder Selbstreflexion erst gar nicht an sich heranlässt, macht Bale mit einer Präzision deutlich, die Schaudern hervorruft. Verdeutlicht wird dieses Gehabe auch durch das Agieren von Cheneys langjährigen Partner in Crime Donald Rumsfeld, den Steve Carell mit einer geradezu diabolisch anmutende Selbstgefälligkeit versieht. Ruft man sich in Erinnerung, wie grandios Errol Morris in seinem Dokumentarfilm The Unknown Known daran scheitert, Donald Rumsfeld aus der Reserve zu locken und die Teflonschicht seiner sprachlichen Kaskaden aufzubrechen – der Titel bezieht sich auf eine jener paradoxen Formulierungen Rumsfelds, um Argumentationslücken zu camouflieren, ein wunderbares Beispiel dafür, was die viel zitierte Message Control eigentlich darstellt –, scheint der Schluss zulässig, dass Adam McKay mit seinen Porträtierungen ziemlich genau im Ziel gelegen sein dürfte.
„Thank you to Satan for giving me inspiration for playing this role“, merkte Christian Bale ein wenig süffisant in seiner Dankesrede an, als er den Preis als Bester Schauspieler für seine Darstellung Richard Cheneys bei der diesjährigen Golden-Globe-Verleihung in Empfang nahm. Auch der Satz erscheint angesichts eines Charakters wie Cheney, der im Verlauf seiner Karriere bevorzugt im Hintergrund, einer Spinne gleich sein Netzwerk gesponnen hat, recht treffend sein. Wie hat es am Schluss von Bryan Singers perfiden Mystery-Thriller The Usual Suspects so schön geheißen: „Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.“