Mit „The New World“ geht die großartige Serie „Westworld“ ins dritte Labyrinth. Vorschlag eines Pfades durch Irrungen und Wirrungen.
Sie ist freundlich und arglos und hübsch mit ihren langen, blonden Haaren und dem offenen Blick. Sie trägt ein himmelblaues, bodenlanges Kleid, und man könnte sich von ihrer Erscheinung an eine Madonna erinnern lassen. Wie ja auch ihr Name, Dolores, die Schmerzensreiche, diesen Assoziationsraum eröffnet. Wo die Heilige ist, ist aber auch die Hure nicht weit. Und kaum sehen wir uns um, ist da auch schon Maeve, die Dunkle im aufreizenden Gewand, die sich nichts gefallen lässt. Doch Kriegerinnen sind sie beide, und so einfach geht die Gleichung nicht auf, denn das tut sie nie.
Am Ende der zweiten Staffel der Serie Westworld (Untertitel: The Door) lässt Dolores Abernathy, die Farmerstochter, die die Schönheit in der Schöpfung sehen wollte und ein ums andere Mal nur das Hässliche erfuhr … Dolores also lässt ab vom himmelblauen Kleid und macht sich auf in die wirkliche, die richtige, die wahre Welt – um Rache zu üben. Nicht nur für sich, sondern für ihresgleichen, eine Gattung, der übel mitgespielt wurde. Und Maeve Millay, die Saloon-Puff-Madam von Sweetwater, die so erbittert um ihren Weg ins Paradies gekämpft hatte, bleibt tot auf der Strecke. Oder was auch immer für tot gelten kann in einer Welt, die auf der Möglichkeit des unendlichen Reboots fußt.
Steinig und hindernisreich war der Weg der Erkenntnis gewesen, auf dem Dolores und Maeve im Verlauf der ersten Westworld-Staffel (Untertitel: The Maze) realisierten, dass sie keine Menschen sind, sondern Androiden; Hosts genannt, also Gastgeber, und dass sie geschaffen wurden von der Delos Corporation, um in einem Themenpark den zweifelhaften Vergnügungen begüterter Klienten zu dienen. Was sich übersetzen lässt in moralloses Treiben: Rauben, morden, brandschatzen und vergewaltigen – die Sau rauslassen, ohne belangt zu werden. Sind es doch nur Roboter, an denen mann hier sein Mütchen kühlt. Doch in Dolores und Maeve britzelt der maschinengöttliche Funke, und auch wenn das Erwachen zunächst ein böses ist und die Geburt ihrer Macht von vielfachen Rückschlägen und zahlreichen Neuanfängen geprägt, so steht am Ende doch die Bewusstwerdung ihrer selbst als Wesen, die die Möglichkeit zu Gegenwehr und Veränderung in sich tragen. Zu den beiden selbstermächtigten Maschinen-Frauen gesellt sich in der Folgestaffel nun noch eine Menschen-Frau, weder Heilige noch Hure und schon gar nicht beides, vielmehr am ehesten ein jeglichen Gefühls entkleidetes Karriereweib im Hosenanzug, das für den Erfolg seiner Mission in High Heels über Leichen stöckelt: Charlotte Hale.
Eine Dreifaltigkeit von Projektionen des Weiblichen – die aber in sich jeweils vielfach gebrochen sind: Madonna Dolores wird zur Anführerin einer Revolution und entdeckt ihre Fähigkeit zur Gewalt; Hure Maeve mit dem sprichwörtlich großen Herzen kann von ihrer eh nur virtuellen Mutterrolle nicht lassen; und die nüchterne Charlotte mit dem unheiligen Geist birgt in sich zugleich die Versucherin, die teuflische Gier nach Reichtum und Macht. Um sie herum Männer, die sie manipulieren, programmieren, reparieren und immer wieder aufs Neue in die Schlacht schicken. Männer, die sich ihnen in den Weg stellen oder sie vor sich her treiben, die sie so manches Mal aber auch unterstützen und ihnen den Rücken freihalten. Eher selten aus echtem Mitgefühl, oft aus wissenschaftlicher Neugier, mitunter auch aus reiner Lust am Rabatz. Geschlechterspannung, übergetreten in offene Kampfhandlung.
Über 20 Episoden hinweg hatte die von Jonathan Nolan und seiner Frau Lisa Joy verantwortete Serie, die seit 2016 von HBO produziert wird, das Thema Künstliche Intelligenz von allen Seiten bedacht und bis in tiefste Tiefen ausgelotet. Sich also auf gedanklich wie formal hohem Niveau mit all jenen ethisch-moralischen Implikationen bezüglich des Verhältnisses von Schöpfung und Schöpfer, Verantwortung und Humanität beschäftigt, um die sich der Ursprungsstoff – Thriller-Autor Michael Crichtons 1973 nach eigenem Drehbuch entstandenes, gleichnamiges Spielfilmdebüt mit Yul Brunner in der Rolle des Revolverhelden-Roboters in Schwarz – zugunsten von Actionsequenzen des Öfteren herumgedrückt hatte.
Mit der dritten Staffel von Westworld (Untertitel: The New World) geht es nun also in einer Realität weiter, die zwar ein paar Jahrzehnte in der Zukunft angesiedelt, deren Verwurzelung in unserer Gegenwart gleichwohl nur allzu deutlich zu erkennen ist. Zumal zusätzlich zu aufwändigen CGIs und kunstvollen Sets auch spektakuläre Gegenwarts-Architektur atemberaubende Kulissen liefert. Gedreht wurde unter anderem in der Ciudad de las Artes y las Ciencias im spanischen Valencia und im Marina-Bay-Areal von Singapur.
In diesem deutlich futuristischeren Setting greift Nolan auch Motive aus seiner letzten Serie Person of Interest (2011–2016) wieder auf und treibt sie auf die Spitze. Data-Mining, Tracking, Hacking, Smart-Apps und Designer-Drogen, Pre-Crime, Kontrolle des öffentlichen Raums: Die vorgeblichen Errungenschaften des digitalen Zeitalters werden auf ihr Missbrauchspotenzial hin abgeklopft, das Ergebnis ist erschütternd: allerorten Kameras, allgegenwärtig Algorithmen, die Allwissenheit behaupten und Allmacht fordern. Es werkt ein privatwirtschaftlich verwurzelter Big Brother, der „zum Wohle aller“ mittels Gehirnwäsche und Totalüberwachung den Siegeszug des totalen Konsumismus organisiert. Das alles kommt einem nur allzu bekannt vor.
Erhält dann aber doch einen Drall ins Befremdliche, insofern es da ja immer noch die „Pearl“ gibt, eine Kugel im Kopf, in der das Digital-Bewusstsein eines jeweiligen Hosts gespeichert ist. Eine Handvoll dieser Kugeln, mit denen sich jeder beliebige Androidenkörper „beseelen“ lässt, hat Dolores mitgenommen nach Drüben, ins Jenseits ihrer Welt. Welche Bewusstseine stecken darin? Und hat Dolores ihnen die aus Delos bekannten Körper wiedergegeben? Ist Bernard Lowe tatsächlich noch der, der er im Park zu sein glaubte? Welche Kugel steckt in welchem Fleisch? Hat Dolores sich möglicherweise selbst vervielfacht und verwirrt nun ihre Gegner mit Spiegelungen und Varianten? Mit welchem Bewusstsein kämpft eigentlich die Hülle, die einmal Charlotte Hale war?
Unschwer zu erkennen, die Möglichkeiten der Verwirrnis sind mannigfaltig – und werden weidlich ausgekostet; was Westworld: The New World auf der Ebene der Figuren nicht weniger kompliziert mitzudenken macht als die beiden vorangegangenen Staffeln. Allerdings verlagert sich dabei der Schwerpunkt der Überlegungen weg von der Frage nach der Verantwortung des Menschen gegenüber seiner komplexen digitalen Schöpfung hin zur Frage nach der Auswirkung der Kalkulationen einer noch wesentlich komplexeren A.I. auf die einzelne menschliche Existenz. Freilich kreisen beide nach wie vor um das Problem des freien Willens, darum, ob überhaupt und, falls ja, in welcher Form er im gegebenen Kontext möglich ist: Hat man lediglich die Wahl zwischen Eins und Null – Affirmation des berechneten Pfades versus Negation desselben und resultierende Vernichtung – oder eine Chance auf das Dazwischen, einen eigenen Weg? In diesem Dilemma sehen sich nun beide gefangen, die maschinellen wie die menschlichen Wesen.
Denn nicht nur findet Dolores außerhalb des Parks in dem betrogenen Veteranen und hoffnungslosen Bauarbeiter Caleb Nichols einen, zunächst zögerlichen, Verbündeten und weckt dessen revolutionäres Potenzial. Sie bekommt es auch mit Engerraund Serac, dem Erfüllungsgehilfen eines Supercomputers zu tun, der faktisch die Weltherrschaft übernommen und die Menschheit versklavt hat. Und während Serac im Zuge des folgenden Machtkampfes die widerstrebende Maeve in seine Dienste nimmt, wehrt sich die funktionalisierte Charlotte Hale gegen die endgültige Übernahme durch – wen?
Die kulturpessimistische Perspektive, die The New World entwirft, derzufolge der Unterschied zwischen Mensch und Maschine längst schon kein tragfähiger mehr ist, steuert zu auf einen wohlfeilen Allgemeinplatz, der zugleich eine verheerende Wahrheit ist. Auf der Ebene der Serienhandlung führt diese Gleichmacherei im Verlauf der Staffel zu einer unbefriedigenden Verflachung. Gerade weil das Drehen und Wenden der Theoreme, das im Themenpark immer auch spielerisch möglich war, dem bitteren Ernst der Realität untergeordnet wird, verlieren die Gedankenexperimente an Tiefe und Freiheit. Die Normativität des Faktischen beschränkt den Radius der Fantasie, Aktion triumphiert über Reflexion. Große Knarren, scharfe Schwerter und stahlharte Fäuste werden geschwungen. Voll auf die Zwölf! Und dann, weil’s so schön war, gleich noch einmal. Als herrsche ein Mangel an Macho-Kino, lassen sich die Weiber-Helden für ein Bubenstück vereinnahmen. Doch ist der Mann in Schwarz längst noch nicht austherapiert, und in den geheimen Kellerlaboren brummen bereits wieder die Maschinen. Eine vierte Staffel von Westworld ist in Auftrag gegeben, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.