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EO

Am Schicksal eines Esels

| Jörg Schiffauer |
Mit „EO“ gelingt Jerzy Skolimowski eine faszinierende Neuinterpretation eines Klassikers der Filmgeschichte.

Gleich zu Beginn muss man Schlimmes befürchten, was das Schicksal des titelgebenden Protagonisten, eines Esels namens Eo angeht. Der liegt nämlich – scheinbar ziemlich angeschlagen – auf dem Boden und kommt nicht mehr auf die Beine. Getaucht in stroboskopartiges Rotlicht beugt sich eine junge Frau über das Tier und flüstert besorgt seinen Namen. Doch plötzlich erhebt sich Eo wie von Zauberhand, begleitet vom rasch einsetzenden Applaus des Publikums – das ganze Szenario entpuppt sich als Zirkusnummer, die offenkundig großen Anklang findet. Doch bald schon ist es mit all dieser Aufmerksamkeit vorbei, denn eine Gruppe ziemlich fanatischer Tierschützer setzt durch, dass in besagtem Zirkus keine Auftritte von Tieren mehr erfolgen dürfen. Was eigentlich zum Wohl der Kreaturen gedacht ist, zieht jedoch einen fatalen Effekt nach sich: Die Tiere können nun nicht mehr im Zirkus bleiben und gehen damit einer höchst ungewissen Zukunft entgegen. Auch Eo muss sich von Kasandra, seiner Partnerin in der Manege trennen, ein für beide überaus schmerzlicher Akt. Damit ist jedoch der Anfang einer Odyssee markiert, die den Esel an eine Reihe sehr unterschiedlicher Orte mit ebensolchen Menschen treibt und ihm ein wechselvolles Schicksal beschert. Wer sich angesichts des Plots von EO an Robert Bressons Au hasard Balthazar (Zum Beispiel Balthasar) erinnert fühlt, hat natürlich völlig recht, denn Jerzy Skolimowski hat seine neue Regiearbeit dezidiert als eine Art Neuschreibung des Klassikers aus dem Jahr 1966 konzipiert.

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Meilenstein
Was an sich schon ein gewagtes Unterfangen ist, gilt doch Au hasard Balthazar als eine der ikonischen Arbeiten des Weltkinos, die wiederholt bedeutenden Filmemachern wie etwa Jean-Luc Godard höchste Bewunderung abzuringen vermochte. Und kein Geringerer als Michael Haneke, dessen Œuvre bekanntermaßen nicht weiter entfernt von jedweder sentimentalen Emotionalisierung sein könnte, formuliert in seinem Text „Schrecken und Utopie der Form, den er für das von Verena Luecken herausgegebene Buch „Kinoerzählungen“ (1995) verfasst hat, ausführlich, welchen nachhaltigen Eindruck die Lebens- und Leidensgeschichte des Esels Balthazar bei ihm hinterlassen hat. „Au Hasard Balthazar ist mir bis heute der kostbarste unter allen cinematographischen Edelsteinen. …

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Kein Film hat mir je Hirn und Herz so umgedreht wie dieser“, schreibt Haneke darin. Und zum traurigen Ende Balthazars, der als mit Schmuggelware bepacktes Lasttier bei einem Zugriff der Behörden versehentlich von einer Kugel getroffen wird und sein Leben lassen muss, merkt Haneke an: „Dazwischen liegt ein Leben, das in seiner traurigen Schlichtheit für jenes von Millionen steht, ein Leben der kleinen Freuden und großen Mühen, banal, sensationslos, und wegen seiner deprimierenden Alltäglichkeit für die Ausschlachtung auf der Filmleinwand denkbar ungeeignet. Eigentlich ist von niemandem, also von jedem die Rede – ein Esel hat keine Psychologie, nur ein Schicksal. Der Titel ist die exakte Wiedergabe der Intention des Films: ‚Zufällig, beispielsweise Balthazar.‘ Es könnte jeder andere sein, du oder ich.“Einem zu direkten Vergleich mit Bressons Meilenstein – dem ohnehin nicht standzuhalten wäre – entzieht sich Jerzy Skolimowski klugerweise, indem seine Inszenierung eine andere Tonalität anschlägt . Während Au hasard Balthazar im Grunde eine Passionsgeschichte – Elemente des Katholizismus und die Auseinandersetzung mit ihnen finden sich wiederholt in Bressons Regiearbeiten – erzählt, erweist sich der (Lebens)-Weg des Esels in EO als eine Art Irrfahrt, die trotz aller tragischen Momente auch skurrile, grotesk anmutende Züge annimmt. Dazu trägt ein nicht unwesentlicher Unterschied gegenüber Au hasard Balthazar bei: Bresson stellt streckenweise das Schicksal von Balthazar jenem von Marie gegenüber, einem Mädchen, das gemeinsam mit dem Esel aufwächst und als einziger Mensch echtes Mitgefühl für die geschundene Kreatur entwickelt – obwohl ihr das Leben ebenso übel mitspielt wie dem armen Balthazar. In EO hingegen fokussiert Skolimowskis Inszenierung fast vollständig auf den titelgebenden Esel und seine Perspektive. Ein wenig erscheint Eo in seiner stoischen Langmut, die er in all den Stationen, an die es ihn verschlägt, an den Tag legt, wie eine moderne Version des Simplizissimus. Mit der ihm geradezu sprichwörtlich anhaftenden Geduld begegnet Eo den unterschiedlichsten Situationen – und vor allem den dabei agierenden Menschen – und eröffnet damit einen Blick auf den Zustand der gegenwärtigen Welt, der bei aller Anekdotenhaftigkeit durchaus treffend erscheint. Die Art und Weise, wie der moderne Mensch mit Geschöpfen wie Eo umgeht, ist ein zwar wiederholt auftauchendes Motiv, aber dabei keinesfalls die einzige Bedeutungsebene.

Ist bei Bresson, wie es auch Michael Haneke formuliert, jeder gemeint beziehungsweise könnte es jedem gehen wie dem Esel, reflektiert Skolimowskis EO anhand der Erfahrungen des Tiers menschliches Verhalten. Wobei es sich dabei in den meisten Fällen um ein – zurückhaltend formuliert – oftmals höchst erratisches Gebaren auf Seiten des Homo sapiens handelt, mit dem sich Eo konfrontiert sieht. Und spätestens da ist es an der Zeit, ein kritisches Auge auf sich selbst zu werfen und die Frage zu stellen, inwieweit hier auch jeder gemeint ist – selbst wenn man sich dezidiert nicht zu jenen Idioten rechnet, bei denen ein verlorenes Fußballspiel ihrer Lieblingsmannschaft schon ausreicht, um in einen hemmungslosen Aggressionsrausch zu verfallen.

Robert Bresson hat Au hasard Balthazar in der für sein Kino typischen Formstrenge in Szene gesetzt, Michael Haneke spricht dabei von „dokumentarische Schlichtheit der Kadrierung, eine fast manische Verweigerung ,schöner‘, sprich: gefälliger Bilder … Statt ,Schönheit‘ Genauigkeit – jedes Bild zeigt nur das Notwendigste, jede Sequenz ist auf ihre knappste Form komprimiert, gleichwohl sind Einstellungs- und Schnittlängen selbst für die Entstehungszeit des Films (1965) ungewöhnlich ruhig. Niemals geben Fermaten der Sentimentalität Raum, alles wirkt in seiner Einfachheit wie natürlich gewachsen und ist, obschon im Dienst eines rigorosen ästhetischen Konzepts, niemals dessen Opfer.“

Sentimentalitäten haben auch bei EO keinen Platz, doch Jerzy Skolimowski setzt immer wieder auf poetisch anmutende Bilder, die Reise des Esels bekommt dabei streckenweise fast märchenhafte Züge – besonders in jener Sequenz, in der Isabelle Huppert einen kurzen, aber markanten Auftritt in der Rolle einer versnobten Gräfin hat –, wenn auch mit einem etwas düsteren Unterton (Pawel Mykietyns Score mit seiner suggestiven Wirkung hat daran einen wesentlichen Anteil). Skolimowski bedient sich einer episodenhaften, elliptischen Erzählweise, die ihre eigene Dynamik zu entwickeln versteht und EO zu einem Kinoerlebnis mit Alleinstellungsmerkmal macht. Obwohl sich Skolimowskis narratives und stilistisches Konzept deutlich von jenem Bressons unterscheidet, weckt EO ähnlich empathische Empfindungen mit dem tierischen Protagonisten wie Au hasard Balthazar.

Wechselvolle Karriere
Dass Jerzy Skolimowski mit EO ein ebenso eigenwilliges wie beindruckendes Spätwerk gelingt, passt irgendwie zu seiner Biographie. 1938 im polnischen Lódz´ geboren, musste er schon früh den Terror der Nazis, die seine Heimat besetzt hatten, erfahren, als sein Vater, der im Widerstand aktiv war, exekutiert wurde. Später studierte Skolimowski an der renommierten Filmhochschule in Lódz´, früh schon fungierte er als Ko-Drehbuchautor von Andrzej Wajda (Die unschuldigen Zauberer, 1960) und Roman Polanski (Das Messer im Wasser, 1962).1965 konnte Skolimowski mit Rysopis bereits seinen ersten eigenen Film inszenieren. Danach drehte er die in Belgien produzierte Komödie Le départ (Der Start), die 1967 den Goldenen Bären bei der Berlinale gewann. Wegen Re˛ce do góry (Hände hoch!, 1967), mit dem er scharfe Kritik an der Ära des Stalinismus übte, geriet Skolimowski in Konflikt mit der Zensur in Polen, die den Film aus dem Verkehr zog – die Uraufführung fand erst 1981 statt. Im Zuge dieser Verwerfungen sah Skolimowski sich gezwungen, seiner polnischen Heimat den Rücken zu kehren und in Westeuropa und den Vereinigten Staaten zu arbeiten. Nach dem historischen Abenteuerfilm The Adventures of Gerard (Die Gräfin und ihr Oberst, 1970) mit Claudia Cardinale griff Skolimowski in Deep End mit dem obsessiv-devianten Interesse eines 15-Jährigen für eine junge Frau im Alter von Anfang Zwanzig ein höchst brisantes Sujet auf. Deep End trug Jerzy Skolimowski einiges Kritikerlob ein und festigte seinen Ruf als fixe Größe des europäischen Kinos. Nach King, Queen, Knave (König, Dame, Bube, 1971) mit David Niven und Gina Lollobrigida in den Hauptrollen sollte es allerdings sieben Jahre dauern, bis er mit dem eigenwilligen Horrorfilm The Shout (Der Schrei) seine nächste Regiearbeit verwirklichen konnte, die prompt den Großen Spezialpreis der Jury bei den Filmfestspielen von Cannes 1978 gewinnen konnte. Für die Adaption des Romans „Das Feuerschiff“ von Siegfried Lenz konnte Skolimowski Kaliber wie Klaus Maria Brandauer und Robert Duvall verpflichten, wobei die Zusammenarbeit offenbar nicht ganz friktionsfrei verlaufen ist. Als höchst origineller Erzähler erweist sich der Regisseur in einem Fernseh-Interview, in dem er anschaulich die Launenhaftigkeit Brandauers bei den Dreharbeiten schildert. Dass er jedoch mit schwierigen Charakteren umzugehen weiß, bewies Skolimowski mit dem verrätselten Politthriller Essential Killing (2010), in dem der bekannt egomanische Vincent Gallo die Hauptrolle spielte. Wobei auch Jerzy Skolimowski selbst durchaus Ecken und Kanten aufweist, zog er sich doch nach Auseinandersetzungen um die Endfassung von Ferdydurke (30 Door Key, 1991) für fast zwei Jahrzehnte von der Regie zurück, ehe er 2008 mit Cztery noce z Anna˛ (Vier Nächte mit Anna) wieder einen Film inszenierte. Mit seiner charismatischen Persönlichkeit wird Skolimowski gern von renommierten Regiekollegen für Schauspielauftritte verpflichtet. Er spielte etwa Rollen in Volker Schlöndorffs Die Fälschung, Tim Burtons Mars Attacks!, Julian Schnabels Before Night Falls, David Cronenbergs Eastern Promises oder Joss Whedons Marvel’s The Avengers. In Erinnerung bleibt auch besonders sein Part als flamboyanter KGB-Agent mit mephistophelischen Zügen in Taylor Hackfords White Nights.

Mit EO ist Jerzy Skolimowski nun ein wunderbares Spätwerk gelungen, das in seinem Bruch mit Konventionen gängiger Filmpraxis eine Vitalität und innovative Kraft zu generieren versteht, von der sich viele jüngere Regisseure und Regisseurinnen immer noch eine dicke Scheibe abschneiden können.