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Amsel im Brombeerstrauch

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Amsel im Brombeerstrauch

| Jakob Dibold |
Elene Naverianis bittersüße Erkundung weiblicher Autonomie ist der Wirklichkeit ebenso nah wie der Sage.

 

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Pflücken und Verarbeiten von Brombeeren, ihr kleiner Gemischtwarenladen und geruhsame Konditoreibesuche prägen den selbstbestimmten Alltag der 48-jährigen Ethéro. Ihr Single-Dasein macht sie in ihrem Heimatort in der georgischen Provinz zur Außenseiterin, die Frauen laden sie zu ihren Kaffee-und-Kuchen-Runden zwar ein, doch gehen Ethéro mit ständigen Ratschlägen und Ermahnungen, dass sie sich doch endlich einen Mann suchen und in das „normale“ Gesellschaftsleben fügen solle, primär auf die Nerven. Männer spielen nämlich – abgesehen von emotionale Wunden hinterlassenden Familienmitgliedern – bislang keine Rolle im Leben der Eigenbrötlerin, die dies auch so will.

Ethéros Routine ändert sich schlagartig, als sie nach einer Quasi-Nahtoderfahrung plötzlich ununterdrückbares Verlangen verspürt und – sie kann es selbst kaum glauben, denn es ist ihr erstes Mal – mit einem Mann Sex hat. Es ist kein rein körperliches Verhältnis, das sie und der Lieferant Murman beginnen; die beiden mögen sich richtig gerne und einige SMS und ein paar aufregende Treffen später ist offensichtlich, dass die gängige Frage ansteht, welche Art von Beziehung aus ihrer Zuneigung werden kann. Hier ist sie besonders schwierig, denn: Ihre jahrzehntelang geformte Vorstellung von Freiheit ist für Ethéro eigentlich unverhandelbar.

Elene Naveriani befasst sich in Amsel im Brombeerstrauch mit einem konkreten individuellen Problem, das im größeren Gesellschaftsganzen verwurzelt ist. Natürlich, könnte man meinen; Naverianis erster Spielfilm I Am Truly a Drop of Sun on Earth (2017) handelte von und mit Sexarbeiterinnen und migrantischer Realität in Tbilisi, ein in Schwarzweißbildern von rauer Schönheit eingefangenes, respektvolles Solidaritätsstück, Wet Sand (2021) dann formal ein gutes Stück weit „konventioneller“ von verschütteter Erinnerung und nicht-heteronormativem Leben, das von religiös-traditionalistischer Seite mit aller Härte bekämpft wird. Nun gelingt Naveriani ein oft tragikomisches, warmherziges, gleichzeitig lässig-lyrisches und bildkompositorisch freudvoll stilisiertes Bild einer Frau, die den patriarchalen Logiken des Daseins eigensinnig eine völlige Abfuhr erteilt, schließlich Mühe hat in einer Welt, in der es nur das Eine oder das Andere zu geben und ein Dazwischen keine reelle Option darzustellen scheint. Erstmals werden beide Hauptfiguren bei Naveriani von professionellen Schauspielenden verkörpert, Elene Naverianis Regie-Handschrift ist dadurch noch stärker erkennbar als eine, die zwischen den Figuren eine gar zauberhafte Energie entstehen lässt. Atmosphärisch taucht Naveriani die Verfilmung des erfolgreichen, gleichnamigen Buches von Tamta Melashvili in gleichermaßen unspektakuläre wie artifizielle Settings, in eine subtile Künstlichkeit, die auf die große Choreografie, das große Skript sozialer Normen verweist: Gesellschaft als Zuteilung von Rollen, hier umgeschrieben, an alteingesessenen Regeln vorbei performt. Dass auch Frauen selbst ihren Anteil am Bestehen eines unfairen Status quo haben, wird dabei nicht ausgespart. In diesem pastell-, symbol- und lichtgefluteten Gedicht ist die Kritik keine offensichtlich beißende, sie kommt gerade im Verzicht auf allzu sichtbare Düsternis-Töne als vermeintliche Widersprüche umarmender Optimismus der Sinne daher.