ray Filmmagazin » Animation » Anomalisa

Filmkritik

Anomalisa

| Oliver Stangl |
Owner of a Lonely Heart

Das Fregoli-Syndrom, nach dem italienischen Verwandlungskünstler Leopoldo Fregoli, ist äußerst selten. Wer davon betroffen ist, ist davon überzeugt, dass sich seine Mitmenschen optisch verändern und immer wieder als andere Personen auftreten. Kein Zufall also, dass das Hotel in Cincinnati, in dem die Hauptfigur von Anomalisa während einer Geschäftsreise absteigt, Fregoli heißt. Denn der gebürtige Brite Michael Stone, der erfolgreiche Bücher zum Thema Kundenberatung schreibt und seit längerem in den USA lebt, empfindet seine Mitmenschen, inklusive Frau und Sohn, als ziemlich unbekömmlichen Einheitsbrei, an dem er keinerlei Geschmack empfindet (man muss also nicht selbst am Fregoli-Syndrom leiden, um sich in die Figur einzufühlen).

Werbung

Eigentlich beabsichtigt der trinkfeste Autor, eine alte Affäre wieder aufleben lassen, doch dies endet in einer peinlichen Szene
in der Hotelbar. Resigniert will Stone (lasst Namen sprechen) zu Bett gehen, doch dann trifft er eine Frau namens Lisa, die ihn bewundert. Eine Frau, die sich selbst als durchschnittlich empfindet, zu der Stone sich jedoch hingezogen fühlt wie zu keinem anderen Menschen.

Bietet Lisa, der Stone den Kosenamen Anomalisa verleiht, die Chance, ein neues Leben zu beginnen? Drehbuchautor (Being John Malkovich, Adaptation) und Regisseur (Synecdoche, New York) Charlie Kaufman, der das auf seinem Live-Hörspiel basierende Projekt mittels Kickstarter finanzierte und gemeinsam mit dem animationserfahrenen Duke Johnson inszenierte, mischt die betont banale, unglamouröse Handlung mit einem Hauch Kafka und einer Prise grimmigen Humors. Dabei setzt er auf eine Reihe visueller und akustischer Ideen, um die Isolation der Hauptfigur zu verdeutlichen, wovon die augenscheinlichste die Form des Animationsfilms ist. Sämtliche Figuren entstammen dem 3D-Drucker, bewegt wurden sie mittels Stop-Motion. Dieses im CGI-Zeitalter altmodische Verfahren trägt sicher dazu bei, dass Stone und Lisa menschlich wirken; die dennoch unvermeidbare Artifizialität des Genres, die hier noch durch einen Spalt in den Gesichtern der Puppen unterstrichen wird, lässt sich aber auch auf Stones Geisteszustand umlegen, der seine Mitmenschen als künstlich empfindet.

Zudem deutet sich das Motiv des Menschen als willenlose Puppe,
der sich seines Elends nicht erwehren kann (eine Parellele zu Being John Malkovich), an. Und dann sind da noch die Stimmen: Stone wird von David Thewlis gesprochen, Lisa von Jennifer Jason Leigh, alle anderen Figuren von Tom Noonan. Ein simpler, aber effektiver Kniff in einem ungewöhnlichen Film, mit dem Kaufman einmal mehr auf unverwechselbare Art die Jämmerlichkeit der Existenz aufs Korn nimmt.