ray Filmmagazin » Sonderheft » 25 Jahre Amour Fou » Aus der Schatzkammer
Pas de repos pour les braves

25 Jahre Amour Fou

Aus der Schatzkammer

| Jörg Schiffauer |
Das Filmarchiv Austria würdigt von 12. November bis 2. Dezember das vielschichtige Schaffen von Amour Fou mit ausgewählten Arbeiten aus dem knapp neunzig Produktionen umfassenden Portfolio, das in 25 Jahren entstanden ist.

 

Werbung
Keine Ruhe für die Helden / Pas de repos pour les braves (2003)

Ein junger Mann namens Basile hat einen markanten Traum, der ihn glauben lässt, es sei mit ihm zu Ende gegangen. Doch entgegen seiner Befürchtung ist er nach dem Erwachen doch noch am Leben. Und weil Basile dies zu bleiben wünscht, versucht er den Schlaf zu meiden. Auf seinem Weg durch die ländlichen Regionen im Südwesten Frankreichs begegnet er einer Reihe höchst unterschiedlicher Charaktere, doch schon bald lässt sich nur mehr schwer unterscheiden, was Traum und Realität ist. Alain Guiraudie hat mit Pas de repos pour les braves ein surreal anmutendes Roadmovie in Szene gesetzt, um den Übergang zwischen Jugend und Erwachsenenalter zu illustrieren.

 


Bunica (2005)

Die 1915 geborene Ana Ionescu wächst in Bukarest, in den zwanziger Jahren auch das „Paris des Ostens“ genannt, auf, wo ihr Vater das Amt des Vizebürgermeisters bekleidet. Sie erlebt danach die faschistische Diktatur in ihrer Heimat ebenso wie die kommunistische Machtübernahme, die für sie und ihre Familie aufgrund ihrer aristokratischen Herkunft Probleme mit sich bringt. Elke Groen und Ina Ivanceanu – Ana Ionescu ist Inas „Bunica“, ihre Großmutter – zeichnen auch mit Hilfe von Archivmaterial das Porträt  einer Frau, deren Leben wie ein Spiegelbild der Geschichte Rumäniens erscheint.

 


Taxidermia (2006)

Ein ungarischer Soldat im Zweiten Weltkrieg findet immer ausgefallenere Methoden der Selbstbefriedigung. Er zeugt einen Sohn, der sich einer ebenso extravaganten Beschäftigung widmet: dem Wettessen. Dessen Sohn wiederum erweist sich im Präparieren von toten Tieren als Meister seines Fachs, diese Kunstfertigkeit bringt ihn auf die Idee, ein ganz besonderes Projekt in Angriff zu nehmen. In orgiastisch anmutenden Bildern entwirft der ungarische Regisseur György Palfi eine sich über drei Generationen erstreckende surreal-groteske Chronik, die sich mit exzessiven Darstellungen der Maßlosigkeit als ganz bewusst in Szene gesetzte Grenzüberschreitung präsentiert.   

 


Kurz davor ist es passiert (2006)

Anhand von fünf Fallbeispielen untersucht Anja Salomonowitz das globale Phänomen des Frauenhandels und die damit verbundenen Mechanismen und Machtsysteme. Kurz davor ist es passiert basiert auf realen Erzählungen von
gehandelten Frauen, aus denen Salomonowitz ein semidokumentarisches Drehbuch erarbeitet hat. Die dabei zugrunde liegende These: In einer männerdominiert Welt wird Frau-Sein nur allzu leicht zur Handelsware. Mittels einer konzeptuellen Abstraktion, bei der sich das Dokumentarische und das Narrative sich gegenseitig unterlaufen, entstehen  Effekte der Verfremdung, eine szenische Umsetzung, die konsequent Voyeurismus bedienender Schauwerte zu vermeiden versteht.

 


Weiße Lilien (2007)

In einer nicht mehr fernen Zukunft kann eine junge Frau namens Hannah eines der begehrten Apartments in „Neustadt“ beziehen, einem hypermodernen Wohnkomplex, der zehntausende Menschen beherbergt. Doch nicht nur die Umstände des Todes der Vormieterin erscheinen mysteriös: Neustadt, das eigentlich alle Bedürfnisse befriedigen soll, erweist sich zusehends als alptraumhafter Ort, in dem sich Hannah überwacht und bedroht fühlt. Mit einem hochkarätigen Ensemble um Brigitte Hobmeier, Johanna Wokalek und Martin Wuttke hat Christian Frosch ein dystopisches Szenario mit Elementen aus Horror, Thriller und Sci-Fi in Szene gesetzt, das von einer Atmosphäre permanenter Verunsicherung geprägt ist. Der riesige Wohnpark Alt-Erlaa im 23. Wiener Gemeindebezirk diente als erschreckend reale Kulisse und verleiht Weiße Lilien eine zusätzlich verstörende Dimension.

 


Loos Ornamental (2008)

Heinz Emigholz zeigt 27 Bauwerke und Innenräume des großen österreichischen Architekten Adolf Loos (1870–1933), der zu Recht als einer der Wegbereiter der modernen Architektur gilt. Ohne Kommentar und in der Chronologie ihrer Entstehung werden Häuser, Wohnungseinrichtungen, Fassaden und Denkmäler präsentiert, die sich in Wien und Niederösterreich, in Prag, Brünn, Pilsen und Paris befinden. Auf diese Weise entfaltet sich eine Sicht auf die Raumvorstellungen von Adolf Loos, ebenso auf sein Materialverständnis und die Entwicklung einer nahezu
modularen Bauweise.

 


Hannah Arendt (2012)

1961 begleitete Hannah Arendt  für das Magazin „The New Yorker“ in Jerusalem den historischen Prozess gegen Adolf Eichmann, den ehemaligen SS-Obersturmbannführer, Protokollführer der Wannsee-Konferenz und einer der maßgeblichen Organisatoren der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten. Arendt konstatierte im Verlauf des Prozesses die Diskrepanz zwischen den monströsen Verbrechen Eichmanns und seinem Auftreten als biederer Durchschnittstyp, in ihren Reportagen prägte sie dafür den Begriff der „Banalität des Bösen“. Margarethe von Trotta hat sich in ihrem präzisen und klug in Szene gesetzten historischen Drama der Philosophin und Publizistin Hannah Arendt – Barbara Sukowa versteht es, die Protagonistin nuanciert zu verkörpern – ebenso angenähert wie dem zum Teil heftig geführten Diskurs, den ihre Zuschreibung Adolf Eichmanns auslöste.

 


Naked Opera (2013)

Angela Christlieb begleitet für ihren Dokumentarfilm den Musikliebhaber Marc Rollinger. Wohlhabend und exzentrisch, ist er in den Opernhäusern der Welt ebenso Stammgast wie in luxuriösen Hotels. Der Suche nach der vermeintlich perfekten Vorstellung von „Don Giovanni“ gilt seine Leidenschaft. Rollinger erweist sich dabei als facettenreicher Charakter, der sich vor der Kamera auch selbst zu inszenieren versteht. Doch im Gegensatz zu dem äußeren Glanz, der sein Leben ausmacht, steht eine chronische Krankheit, die ihn von Kindheit an begleitet und zum Teil Triebfeder für Marcs Hang zu intensiven Erfahrungen ist.


Fieber (2014)

In den fünfziger Jahren lebt ein Mädchen namens Franziska mit ihren Eltern in einem kleinen österreichischen Dorf. Immer wieder betrachtet sie jene Fotografien, die ihr Vater (Martin Wuttke) in Nordafrika aufgenommen hat, als er dort als Fremdenlegionär stationiert war. Was offensichtlich Spuren hinterlassen hat, denn der Mann ist mental einigermaßen angeschlagen, unter seiner Unberechenbarkeit leidet die Familie. Jahre später ist die mittlerweile längst erwachsene Franziska (Eva Mattes) eine erfolgreiche Fotografin, als sie auf Spurensuche geht und sich mit der Kriegsvergangenheit ihres Vaters auseinanderzusetzen beginnt. Elfi Mikeschs Drama um den Umgang mit der eigenen Familiengeschichte trägt autobiografische Züge der Regisseurin.


Amour Fou (2014)

Der deutsche Dichter Heinrich von Kleist möchte aus dem Leben scheiden – und das bevorzugt mit einer Partnerin. Also beginnt der große Poet bei den Damen der Gesellschaft zu werben, um eine Gefährtin für diesen Schritt zu finden, der ein letztes, ultimatives Liebesglück mit sich bringen soll. Seine Cousine kann sich so gar nicht dafür begeistern, doch sie macht Heinrich mit Henriette bekannt, die sich der Idee nicht abgeneigt zeigt. Angelehnt an den Skandal des Doppelselbstmordes von Heinrich von Kleist und der verheierateten Henriette Vogel am 21. November 1811, zeichnet Jessica Hausner in formal strengen Bildern die Befindlichkeit jener Tage zwischen der Enge strenger gesellschaftlicher Normen und eines langsam heraufdämmernden Umbruchs. Amour Fou war der Eröffnungsfilm der Viennale 2014.

 


Casanova Variations (2014)

Dem Mythos, der Giacomco Casanova umgibt, rückt Michael Sturminger mit einer vielschichtigen Film-Collage näher. John Malkovich verkörpert den legendären Verführer – Assoziationen mit Malkovichs Auftritt in Stephen Frears’ Dangerous Liaisons (1988) sind naheliegend – im Herbst seines Lebens. Den verbringt er auf einem Schloss in Böhmen, zumeist missmutig und von vergangenen Zeiten träumend, ehe ihn die Begegnung mit der Dichterin Elisa von der Recke (Veronica Ferres) wieder ein wenig zurück ins Leben holt. Verwoben wird das mit Aufnahmen von Sturmingers Musiktheaterstück „The Giacomo Variations“, in dem Malkovich ebenfalls als Casanova auftritt. Florian Boesch agiert als dessen singendes, Mozart-Arien vortragendes Alter Ego. Auch Jonas Kaufmann und Mia Persson sind zu hören.

 


Dreams Rewired – Mobilisierung der Träume (2015)

Vor mehr als hundert Jahren nahmen Telefon, Film und Fernsehen ihren Anfang und evozierten  hoffnungsvolle Fantasien von grenzenloser Kommunikation oder der Demokratisierung von Wissen. In knapp zehnjähriger Arbeit hat das Regietrio Martin Reinhart, Thomas Tode und Manu Luksch aus Archivmaterial von knapp 200 historischen Filmen aus dem Zeitraum zwischen 1895 und 1936 – von Spielfilm über Wochenschau, Werbefilm und wissenschaftliche Aufnahmen – ein schillerndes Mosaik zusammengestellt und zu einem filmischen Essay verwoben. Die dabei präsentierte Geschichte der modernen Massenkommunikation, unterlegt mit der Stimme Tilda Swintons als Erzählerin, hilft so ein Stück weit, unsere heutige, vernetzte Welt zu verstehen.

 


Styx (2018)

Die Notärztin Rike – von Susanne Wolff mit intensiver Authentizität gespielt – unternimmt einen Einhandsegeltörn von Gibraltar nach der im Südatlantik gelegen Insel Ascension. Mit ihrer hochmodernen und gut ausgerüsteten Yacht wird sie bestens mit einem heftigen Sturm fertig, doch am Morgen nach dem Unwetter findet Rike sich neben einem schwer havarierten Kutter wieder, auf dem sich eine große Zahl Geflüchteter befindet. Ihre Versuche, Hilfe zu organisieren, bleiben ergebnislos, ihr eigenes Boot ist zu klein, um auch nur einen Teil der Schiffbrüchigen aufzunehmen – einzig einen kleinen Buben, der in Todesangst ins Wasser springt, kann Rike zu sich an Bord holen. Wolfgang Fischers wuchtiges Überlebensdrama spiegelt jenen Zivilisationsbruch wider, der sich in jüngerer Vergangenheit zu oft vor den Küsten Europas abgespielt hat und immer noch stattfindet.

 


Angelo (2018)

Im Alter von zehn Jahren wurde ein kleiner Bub aus seiner afrikanischen Heimat nach Europa verkauft, wo er zunächst in Messina einer adeligen Dame zum Geschenk gemacht wurde. Die ermöglichte ihm eine Ausbildung, schließlich landete Angelo – wie er sich nun nannte – am kaiserlichen Hof in Wien, wo er als „Hofmohr“ eine Art von exotischem Flair verbreiten sollte. Markus Schleinzer hat die auf wahren Begebenheiten basierende Lebensgeschichte von Angelo Soliman, die sich im 18. Jahrhundert zugetragen hat, in chronologisch angeordneten Episoden im ungewohnten 4:3-Bildformat verfilmt, wodurch das Biopic zu einer Reflexion über Identität, Legendenbildung, Selbstwert und Selbstfindung  wird und der historischen Dimension aktuellen Bezug zu verleihen versteht.

 



Nebel

KURZFILMPROGRAMM: THE MAGNIFICENT SEVEN

Nebel (2000) Matthias Müller
Yes? Oui? Ja? (2002) Thomas Draschan
Phantom Fremdes Wien (2004) Lisl Ponger
Casting a Woman (2016) Koxi
To the Happy Few (2003) Thomas Draschan
Granica (2009) Eni Brandner
Fast Film (2003) Virgil Widrich

Aus dem großen Fundus an Amour-Fou-Kurzfilmen wurde ein Programm für Auge, Hirn und Herz zusammengestellt, in dem sich anhand der Vielfalt von sieben ausgewählten Arbeiten ein ganzer Kosmos erschließen lässt.

 



MappaMundi

DIE LANGE NACHT DER BADY MINCK

Ein zweiteiliges Programm, das ganz Bady Minck, Mitbegründerin von Amour Fou, gewidmet ist und einen Auszug ihres Filmschaffens der letzten 30 Jahre präsentiert. Gezeigt werden etwa frühe Arbeiten wie der gemeinsam mit Stefan Stratil gedrehte Der Mensch mit den modernen Nerven, der an Grenze von Fiktion, Dokumentation und Experimentalfilm operierende Im Anfang war der Blick, der in der Sektion „Quinzaine des Réalisateurs“ in Cannes 2003 Uraufführung hatte, MappaMundi, der im Jänner 2017 beim Sundance Film Festival Premiere feierte, aber auch der von ihr produzierte Nachwuchsfilm Alice.

Der Mensch mit den modernen Nerven
Bady Minck / Stefan Stratil, 1988

Mécanomagie
Bady Minck, 1996

La Belle et la bêt
Bady Minck, 2005

Im Anfang war der Blick
Bady Minck, 2003

Alice
Noah Rosa / Ganaël Dumreicher-Ivanceanu, 2019

Polyfilm
Bady Minck, 1994

Attwengers Luft
Bady Minck, 1995

Schein Sein
Bady Minck, 2008

Das Sein und das Nichts
Bady Minck, 2007

MappaMundi 
Bady Minck, 2017

 


WEITERE AMOUR-FOU-FILME

Zwei weitere Filme der Amour Fou sind in der parallel stattfindenden Retrospektive zu sehen, die dem großen Kameramann und technischen Innovator Christian Berger gewidmet ist: Virgil Widrichs Die Nacht der 1000 Stunden und A nagy füzet (Das große Heft) von János Szász. Bei beiden Filmen führte Berger die Kamera. Zudem läuft in der Filmarchiv-Austria-Reihe „Kinder Kino Klassiker“ Invisible Sue – Plötzlich unsichtbar von Markus Dietrich.

 

A nagy füzet / Das große Heft (2013)

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs werden zwei 13-jährige Zwillingsbrüder aufs Land zu ihrer Großmutter gebracht. Doch die Zuflucht, die ihnen Sicherheit bieten sollte, erweist sich bald als schrecklicher Ort. Die Großmutter, die dem Alkohol reichlich zuspricht, betrachtet ihre Enkel primär als billige Arbeitskräfte. Die Brüder sind gezwungen, ihr Verhalten den harten Bedingungen anzupassen und, auf sich allein gestellt, auch eigene Vorstellungen von Moral auszubilden. Ihren persönlichen Alltag sowie die Schrecken des Krieges, die auch in ihre abgeschiedene Welt eindringen, halten die Zwillinge akribisch in einem Notizbuch fest.

 


Die Nacht der 1000 Stunden (2016)

Im Verlauf einer Zusammenkunft einer weit verzweigten Unternehmerfamilie in Wien kommt es zu einem unerwarteten Todesfall. Doch das ist nur der Auftakt einer denkwürdigen Nacht, in der verstorbene Familienmitglieder vergangener Generationen wie aus dem Nichts unter den Anwesenden auftauchen und ein dunkles Geheimnis an die Oberfläche kommt. Virgil Widrich setzt die mysteriöse Geschichte als formal komplexes Vexierspiel in Szene, das tollkühn mit Zeitebenen, Traum und Wirklichkeit zu jonglieren versteht.

 


Invisible Sue – Plötzlich unsichtbar (2018)

Das Leben der zwölfjährigen Susanne verläuft nicht ganz so, wie sich ein Mädchen ihres Alters das vorstellt. Die fehlende Einladung zu einer Halloween-Party ist da nur die Spitze des Eisbergs. Susanne, die nicht einmal ihre Mutter dazu bringen kann, sie „Sue“ zu nennen, nimmt das mit etwas bitterer Ironie hin und bezeichnet Unsichtbarkeit als ihre Superkraft. Als sie ihre Mutter an deren Arbeitsplatz in einem Forschungslabor besucht, kommt es zu einem Unfall, der zur Folge hat, dass  Sue sich nun tatsächlich unsichtbar machen kann. Wie alle richtigen Superhelden muss sie lernen, mit ihrer neuen Fähigkeit richtig umzugehen.

Weitere Informationen und Termine: www.filmarchiv.at