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Shirley

Berlinale-Blog 3

Begegnungsmeckern

| Roman Scheiber |
Eine kleine Apologie der neuen Reihe „Encounters“.

Schön, die neue Berlinale. Kaum wirklich schlechte, einen ganzen Haufen vertretbarer und ein paar wirklich gute Filme gesehen. Das dürften auch viele der deutschen Kolleginnen und Kollegen so sehen, jedenfalls geht es aus deren Bewertungen und Kritiken hervor. Aber in denen findet sich auch häufig, was man salopp „professionelles Meckern“ nennen könnte. Nachtreten gegen Kosslick? Geschenkt, der hatte ja von Filmkunst tatsächlich nicht viel mehr als eine Ahnung, und gemeckert wurde ja schon während seiner Ära oft genug über alles Mögliche: Schwacher Wettbewerb, zu viele Nebenreihen, zu wenige Stars, zu viele Stars, zu viel Essen, was nicht noch alles.

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Nun aber: Meckern über die neue Berlinale. Sehr beliebter Gegenstand: Der vom neuen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian kreierte Zusatzwettbewerb „Encounters“. Gedacht als Plattform für jüngere, innovative oder niedrig bugetierte oder besonders gewagte, radikale Positionen des Kinos – so etwas Ähnliches, was der verstorbene Viennale-Papst Hans Hurch einst mit seiner verstreuten Reihe „Propositions“ im Sinn gehabt haben mag. Nur halt mit einem wesentlichen Unterschied: Hier wird es Preise dafür geben, hier quetscht sich ein prominent platziertes neues Ding zwischen lang etablierte Reihen. Darüber wird nun gemeckert. Wenn ein so toller Film wie z.B. Shirley von Josephine Decker gewissermaßen in diesen Nebenwettbewerb verräumt werde, dann könne er ja keinen Goldenen Bären mehr gewinnen! Wie könne man es außerdem wagen, für diesen Nebenwettbewerb vampirartig Regisseure aus dem Forum „abzusaugen“, die dort seit Jahr und Tag mit Essayfilmen oder mit nicht minder radikalen Ansätzen und sicher nicht mit teureren Produktionen entdeckt und aufgebaut wurden? Naja, man kann es wagen, wenn man halt ein bisschen mutig ist. Nur zwei von vielen möglichen Gegenfragen: Passen Cristi Puius gedehnte philosophische Betrachtungen namens Malmkrog wirklich besser in den Hauptwettbewerb? Sollte man einem Heinz Emigholz mit The Last City nicht die Chance geben, einmal aus dem Gemischtwarenladen Forum heraus- und ins Preisrampenlicht zu treten? Hat nicht der österreichische Beitrag The Trouble with Being Born eine veritabel unheimliche Begegnung mit einem überraschend wendigen Cyborg gebracht? Passen nicht außergewöhnliche Werke wie Victor Kossakovskys sauguter Tierfilm Gunda oder das eigenwillige, extrem aufwändige Animationsatmosphärenkunstwerk Kill It and Leave this Town von Mariusz Wilczynski wie die Faust aufs… pardon, wie die variablen Deckel auf den imaginären Begegnungstopf?

Kosslick-haft gefragt: Schmeckt man da nicht viel eher die einzelnen Essenzen des 350-Filme-Eintopfs namens Berlinale heraus?

Oder post-Kosslick unlukullisch gefragt: Ist die ganze Chose jetzt nicht viel übersichtlicher geworden, also jedenfalls, wenn man sich überhaupt schert um die Einteilung der Filme in die diversen Kategorien? Der Hauptwettbewerb, soviel lässt sich sagen, ist  angenehm schlanker geworden. Und man hat jetzt eine bessere Vorstellung von der Art Filme, die in den beiden Wettbewerbssektionen auf das internationale Publikum warten.

Vorletzte Frage: Ist es ein falsches oder unerreichbares Ziel, mit  der zusätzlichen kompetitiven Reihe „neue Stimmen des Kinos“ zu unterstützen und den verschiedenen Formen des Kinos „mehr Raum im offiziellen Programm zu geben“, wie es im Statement der Direktion heißt? Hierzu zur Abwechslung eine Antwort: Nein, es ist ein lohnenswertes und realistisches Ziel.

Was ist eigentlich das Problem dabei, dass Josephine Decker nun  ziemlich sicher eine Bären-Plakette erhalten wird (und nicht vielleicht einen „richtigen“ Bären bekommen hätte)? Man kann ja immer debattieren, wer welchen Preis verdient. Ob Christian Petzold für Undine einen Preis kriegen soll (nicht jeder Film freilich kann so grandios wie Transit sein), oder eher Kelly Reichardt für ihren fabelhaften, unterhaltsamen „Western“ First Cow, dessen Titel alles andere als in die Irre führt (wir finden: sie soll ihn haben), oder aber Eliza Hittmans sensibles Teenagerporträt Never Rarely Sometimes Always, in dem eine Siebzehnjährige so unaufgeregt wie bewegend auf eine Abtreibungs-Odyssee geschickt wird (wird an dieser Stelle mit Nachdruck gefordert).

Und ja, Abel Ferraras in Form von Siberia geronnenes schlechtes Lebensgewissen hätte auch in „Encounters“ gepasst, damit hätte man der Reihe auch gleich einen originellen Schlusspunkt verpassen können. Am Ende von Siberia spricht nämlich ein toter Fisch. Man versteht nicht genau, was er sagt. „Gebt Carlo doch eine Chance mit seinen Ideen“, könnte er gemurmelt haben, vielleicht aber auch: „Was müsst ihr eigentlich alle immer rummosern, bevor sich etwas entfalten kann?“

Der ray-Spezialpreis für das beste (preislose) Berlinale Special geht übrigens an Johannes Nabers Curveball: Die Wahrheit über irakkriegsrechtfertigende Biomassenvernichtungswaffen in Form einer Rodelkomödie über den deutschen Bundesnachrichtendienst – zum Schießen!