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Birgit Gudjonsdottir

Die Rüden | Interview

Die Unbequeme

| Roman Scheiber |
Die österreichisch-isländische Bildgestalterin Birgit Gudjonsdottir im Gespräch über schicke Bilder, verstörende Geschichten, ferne Lebenswelten und gute Filme.

Sie wurde 1962 in Reykjavík geboren und wuchs in Island, Norwegen, Deutschland und Österreich auf. Ihre Mutter war eine österreichische Künstlerin, ihr Vater ein isländischer Zimmermann. Als junge Frau etablierte sie sich in der Männerdomäne Kinematografie. Sie hat von Werbung bis Kinospielfilm so gut wie alles gemacht, was Kameraleute so machen: Birgit Gudjonsdottir. 

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Für Florian Flicker hat sie die Bilder des Dokumentarfilms No Name City gestaltet, zum Beispiel, und mit Connie Walther u.a. die Filme Schattenwelt und – ganz aktuell – Die Rüden fotografiert. An ihrer Arbeit reizen sie das Geschichtenerzählen, das Rhythmusgefühl und die Frage, was hinter den Bildern ist. Schöne, schicke Bilder kann jeder, sagt sie. Mit visuellen Mitteln Subtext zu erzählen, das sei die wahre Kunst. 

Gudjonsdottir, auch als Dozentin tätig, ist Mitglied der Deutschen und der Europäischen Filmakademie und war Vorstandsmitglied des Europäischen Kameraverbands IMAGO. 2018 erhielt sie den Ehrenpreis des Deutschen Kamerapreises. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

 


 

Wie sind Sie eigentlich zum Filmemachen gekommen?
Birgit Gudjonsdottir: Ich bin ursprünglich gelernte Fotografin, habe in Wien an der Graphischen studiert und nach der Abschlussprüfung zufällig als Volontärin einen Job bei einer Spielfilmproduktion bekommen. 

Der Zufall hat die Hauptrolle gespielt?
Naja, ich hatte schon während der Graphischen überlegt, dass mir das Fotografieren eine zu einsame Sache ist. Film- als Teamarbeit hätte mich schon vorher gereizt, aber als alleinstehende Mutter mit Kind konnte ich es mir nicht leisten, auf die Filmakademie zu gehen. Aber Geschichten mit Bildern habe ich schon in der Schule erzählt und während der Ausbildung.

Was waren das für Sachen?
Es waren Slideshow-artige Geschichten, ich hab Musik dazu komponieren lassen, es ging um audiovisuelle, alle Sinne ansprechende Reisen, könnte man sagen. Bei dem erwähnten Spielfilm war Hanus Polak [1925–2016, Anm.] der
Kameramann, und der war für mich ein Riesenvorbild. Als ich ihn arbeiten gesehen hab, war für mich klar, den Job will ich auch machen. Diese Magie, die er durch Lichtstimmungen erzeugen konnte, hat mich fasziniert.

Sie haben alle möglichen Dinge gemacht als Kamerafrau, sozusagen vom Imagefilm bis zum radikalen Kinospielfilm. Was macht Ihnen am meisten Spaß?
Am wichtigsten ist mir, mit meiner Arbeit Geschichten zu erzählen. Der fiktionale Film gibt mir dabei die meisten Freiheiten, aber auch beim Dokumentarfilm geht es da-rum. Zwischen diesen beiden wechsle ich gern ab, beim Dokumentarfilm interessiert mich vor allem, dass man dabei Menschen trifft, die man wahrscheinlich sonst nicht treffen würde, deren Lebensgeschichten aber tief bewegend sein können. Für solche Begegnungen lohnt es sich, aus der eigenen Komfortzone herauszukommen. Dokumentarfilme kicken einen gewissermaßen aus der eigenen Blase heraus, um wieder ein Stück Welt neu zu entdecken.

Sie arbeiten auch schon lange als Dozentin. Warum?
Ich hab schon früh gedacht, bevor ich die x-te Episode einer Vorabendserie drehe, um meine Miete zu bezahlen, unterrichte ich lieber, weil bei analytischer Beschäftigung mit Film lerne ich selbst mehr dazu als wenn ich TV-Dutzendware drehe.

Als erfahrene Kamerafrau und Dozentin: Worauf sollten angehende Bildgestalterinnen und Bildgestalter besonders achten?
Man muss lernen, eine eigene Haltung zu entwickeln. Wir müssen ein Bewusstsein für die Wirkmacht der Bilder schaffen, wie Bilder gelesen werden können und warum. Durch die Inflation der Bilder, die ständige optische Reizüberflutung, geht die kritische Rezeption verloren. Um Bilder zu erzeugen, die etwas bedeuten, muss man auf eine Reise gehen: Was interessiert mich, was berührt mich, was tut mir weh, was hat das mit mir zu tun?

Sie sprechen unbequeme, vielleicht sogar verstörende Filme an.
Genau, mir fehlt an den meisten Spielfilmen das Unbequeme. Ein wenig findet man das im Avantgarde- oder im Trickfilm, aber der Spielfilm ist leider allzu sehr von Mainstream-Konventionen durchsetzt.

Beispiele für Filme, die Sie persönlich geprägt haben?
Also mir hat Ingmar Bergman die Welt eröffnet. Bergman und sein Kameramann Sven Nykvist waren Helden meiner jungen Filmkarriere. Aus meinen jüngeren Seherfahrungen würde ich Ruben Östlund hervorheben. Sein Film Play hat mich erzürnt, aber aufgewühlt. Und vor allem die folgenden, Höhere Gewalt und The Square, haben mich überzeugt. Die gehen in unbequeme Dinge rein.

Würden Sie gern einmal mit Östlund arbeiten?
Wahnsinnig gern. Ich hab ihn auch einmal kennengelernt, beim Reykjavík Filmfestival. Es war sehr spannend, sich mit ihm über die Welt und die Gesellschaft zu unterhalten. Andrea Arnold ist übrigens auch eine sehr interessante Filmemacherin, wie auch die Isländerin Isold Uggadottir.

Alles Menschen aus der nördlichen Hemisphäre. Zufall?
Das ist ziemlich sicher Zufall. Ein unglaublich toller Film, den ich unlängst gesehen habe, stammt von der mazedonischen Regisseurin Teona Strugar Mitevska: God Exists, Her Name Is Petrunya. Ein Genderthema, wirklich spaßig aufbereitet.

Mit diesen Vorgaben, schwierig zu finanzierende, verstörende Filme machen zu wollen, stoßen Sie sicher immer wieder an Grenzen …
Ja, aber zum Glück hab ich genau einen solchen gerade am Start. Das ist ein Film im Grenzbereich zwischen Fiktion und Dokumentarischem. Er heißt Die Rüden und darin spielen Laien. Vier junge Männer arbeiten mit aggressiven Hunden, ein dokumentarisches Geschehen also, aber wir – Connie Walther und ich – haben das Ganze in einen überhöhten Raum gestellt, und auch mit der Kamera sehr präzise fiktional eingefangen. So ist eine ganz eigene, besondere Atmosphäre entstanden. Wir haben uns für diese besondere Form entschieden, weil die Grundfrage des Films uns alle betrifft, nämlich: Wie gehen wir mit Aggression um, und wie verhalten wir uns, wenn sie in Gewalt zu kippen droht? Es sind ja nicht nur „diese Hunde, diese jungen Männer, diese Täter“ – wir alle befinden uns im Resonanzraum von Gewalt, ob wir wollen oder nicht. Es geht um unser System und, vor allem, um unsere Glaubenssätze. Was denken wir, wenn ein minderjähriger, traumatisierter Kriegsflüchtling zu uns kommt und hier straffällig wird? Geben wir ihm, wenn er aus der Haft kommt, nochmal eine Chance? Und wenn nicht, was sagt das über unser Verhältnis zu Strafe aus?

Mit Connie Walther haben Sie 2008 auch „Schattenwelt“ gemacht, über einen ehemaligen RAF-Täter.
Ja, dieser Film gehört zu denen, die einem wie Kinder immer mehr ans Herz wachsen. Den zeige ich auch immer noch meinen Studentinnen und Studenten, der ist gut gealtert, wie man so sagt, wie ein guter Wein. Schattenwelt wird eigentlich immer besser. Ein anderer Film, den ich bis heute sehr schätze, ist No Name City. Der zeigt eine Welt, die man in dieser Ehrlichkeit selten sieht.

Da geht es um eine sterbende Western-Stadt im südlichen Niederösterreich, die es heute nicht mehr gibt. Es war Ihre einzige Zusammenarbeit mit Florian Flicker …
Naja, ich hätte diese ganz besondere Zusammenarbeit gern fortgesetzt, aber der Florian hat ja bei jedem Film mit neuen Kameraleuten gearbeitet. Und dann ist er viel zu früh von uns gegangen.

Sollbruchstelle. Sie haben im Vorgespräch gesagt, irgendwann noch ziemlich zu Beginn Ihrer Karriere sei Ihnen aufgefallen, dass die männlichen Kollegen Sie überflügeln.
Ich war als Kamera-Assistentin und Schwenkerin wirklich gut im Geschäft. Aber als ich beschlossen habe, nur noch Kamera machen zu wollen, wurde es schwierig. Ein Produzent hat mich mit der Begründung abgelehnt, die 35mm-Handkamera wäre für mich als Frau zu schwer. Natürlich ein Totschlagargument. Eine Handkamera wiegt in etwa so viel wie ein drei- bis vierjähriges Kind. Aber auf die Idee zu sagen, die Kinder dürften nur von ihren Vätern getragen werden, kommt niemand.

Ganz im Gegenteil haben Sie ja damals auch bei ein paar Actionfilmen mitgemacht, obwohl das doch eher eine Männerdomäne ist.
Ja, das hat Spaß gemacht, aber als Assistentin und Schwenkerin wird man ja schnell einmal genommen. Als ich dann in Deutschland war, ging es leichter: Da hat niemand gefragt, was macht die junge Kamerafrau da bei einem Actionfilm? Genauso die Amerikaner, die hatten damit viel weniger Probleme als die Männer hier in Österreich.

Sie waren später sogar als Second-Unit-Kamerafrau bei „The Bourne Supremacy“ dabei, nicht?
Ja, es war sehr faszinierend, old school Auto-Action zu drehen. Da wurden wirklich verdammt viele Autos geschrottet. Ich glaube, von diesem sündteuren Mercedes-Modell damals wurden an die zehn Stück kaputt gefahren. Grüne Produktion sieht anders aus, aber es war aufregend zu sehen, wie da gearbeitet wird.

Was haben Sie in Ihrer langen Karriere eigentlich noch nicht gemacht, was Sie gern machen würden?
Ein Thriller fehlt noch in meiner Vita. Aber vor allem geht es mir darum, gute, spannende und auch unbequeme
Geschichten zu erzählen. 
Es gibt noch so viel zu erzählen, vor allem gibt es ein großes bisher vernachlässigtes Potenzial an weiblich dominierten Geschichten. Oder auch Filme aus Afrika und dem Nahen Osten, denn über diese Regionen wissen wir in Europa viel zu wenig.

Und ein weiteres österreichisches Projekt mit Kamerafrau Birgit Gudjonsdottir?
Alma Magic ist ein Film nach dem Drehbuch von Ursula Scheidle, in dem sich unsere Hauptfigur auf den Spuren des Schicksals der österreichisch-jüdischen Emigrantin Melitta Urbancic nach Island aufmacht. Die Figuren folgen vor allem der Prämisse: „Wer wahrhaft auszieht, kehrt nie heim, doch er verwandelt.“ Dies ist ein Vers aus dem heute noch hoch aktuellen Werk der Dichterin Melitta Urbancic. Island ist für die Essenz dieses Films wohl die beste Kulisse. Denn in keinem anderen Land kann man dem Werden und Vergehen unserer Erde, unserer Existenz besser zusehen als dort, tatsächlich, live. Lassen Sie sich davon überraschen und verstören!

„Die Rüden“ feierte seine Welturaufführung am 25. Oktober bei den Hofer Filmtagen.