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Viennale 2019 | Interview

Lieben und lieben lassen

| Pamela Jahn |
Céline Sciammas fulminanter Liebesfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ eröffnet die Viennale 2019. Die französische Filmemacherin im Gespräch über ihre Ambitionen, die Liebe und darüber, warum sich auf Männer im Film ganz gut verzichten lässt.

Sie sieht sich selbst gerne als Filmaktivistin, und ein Blick auf ihr Werk bestätigt die Aussage. Céline Sciamma ist eine Wucht im französischen Kino, die international immer noch viel zu geringe Wellen schlägt. Nach ihrer Coming-of-Age-Trilogie (Water Lilies, Tomboy, Girlhood) hat die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Céline Sciamma mit Porträt einer jungen Frau in Flammen nun einen großen, anmutigen und zugleich radikalen Historienfilm gedreht. Erzählt wird darin die Geschichte der Malerin Marianne (Noémie Merlant), die im späten 18. Jahrhundert von einer verwitweten Landadligen den Auftrag erhält, ein Porträt ihrer Tochter Héloïse (Adèle Haenel) anzufertigen, die demnächst verheiratet werden soll. Héloïse stellt sich dem Plan ihrer Mutter jedoch quer, und zwar energisch. Sie verweigert sich dem Modelsitzen, was Marianne dazu zwingt, sich zunächst als Gesellschaftsdame auszugeben und das Gemälde heimlich aus der Erinnerung zu malen. Erst ganz langsam kommen einander die beiden Frauen schließlich näher, wird aus Entschlossenheit Zurückhaltung, aus Neugier Begehren, und Sciammas große Kunst besteht darin, die tiefe Intimität, die sich zwischen ihren Protagonistinnen einstellt, auf der Leinwand absolut sinnlich erfahrbar zu machen. Ihre Klugkeit und Versiertheit in der Anwendung filmischer Verführungskünste aller Art machen den Film zu einem Erlebnis und geben den Blick frei auf eine neue Art des Sehens und des Denkens.

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Ein Teil der Faszination, die von Ihrem Film ausgeht, liegt im Prozess des Endeckens, in der Art und Weise wie wir, das Publikum, langsam das Gesicht, den Körper, die Gesten von Héloïse wahrnehmen. Wie haben Sie diesen Vorgang aus Ihrer Perspektive als Drehbuchautorin und Regisseurin für sich erschlossen?
Céline Sciamma:
Zunächst einmal liegt dem ein ziemlich langer Prozess des Schreibens zugrunde. Und damit meine ich eigentlich nicht das Schreiben an sich, sondern eher ein Träumen. Die Idee zu dem Film war mir eigentlich direkt nach Girlhood gekommen, also vor zirka fünf Jahren. Aber zunächst habe ich mir zwei, drei Jahre lang lediglich erlaubt, davon zu schwärmen, ohne zu schreiben, abgesehen von ein paar Notizen, mal eine Seite hier und da, in denen ich versucht habe, die richtige Balance zu finden zwischen den verschiedenen Ansätzen, die mir für den Film vorschwebten. Da war zum einen das, worauf Sie angespielt haben, also diese Idee, eine Choreografie des Entdeckens zu entwickeln, um zu zeigen, wie jemand sich in eine andere Person verliebt, und gleichzeitig zu vermitteln, wie das Kino mit als seinen Möglichkeiten, diesen Prozess akkurat nachvollziehen kann, Schritt für Schritt. Mit anderen Worten, es ging mir um die Freude am Entdecken, aber auch um die Verzögerung und die Frustrationen, die dabei entstehen können. Andererseits wollte ich auch den Verlauf einer Liebesgeschichte aufzeigen, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft, diesen epischen Zeitraum, in dem alles möglich scheint. Ich wollte einen Film über den Dialog der Liebe drehen, über ihre Philosophie und Poesie. Und dafür brauchte ich Zeit, um das nötige Gleichgewicht zu finden, aber auch, um den Film in eine Richtung zu lenken, die mir radikal genug erschien. Es war mir wichtig, die richtige Struktur zu finden, um sowohl den Dialog der Liebe als auch den Dialog der Kunst einzubinden. Das war meine Aufgabe, mein persönlicher Auftrag. Ich hatte die Ambition, all diese Ideen zu transportieren, ohne allzu theoretisch zu werden. Stattdessen sollte der Film verspielt wirken, aufregend sein und Spaß machen – Spaß beim Drehen und Spaß bei Schauen.

Haben Sie sich als Inspiration für die Ästhetik des Films an bestimmten Gemälden orientiert?
Céline Sciamma: Mein Kameramann und ich, wir haben ziemlich intensiv darüber diskutiert, was das Licht und die Bildeinstellungen angeht, und irgendwann meinte er: „Okay, wir machen es so, wir konstruieren das alles nicht bewusst wie ein Gemälde, aber insgeheim wissen wir beide, dass es so ist.“ Das heißt, wir haben nicht gesagt, das Ganze soll genauso wie ein Gemälde von Georges de La Tour oder wem auch immer aussehen. Im Gegenteil. Unsere Referenzen kamen in erster Linie aus dem Kino, besonders wenn es darum geht, wie man einen Film mit Kerzen beleuchtet. Aber uns war natürlich schon klar, dass im Nachhinein alle sagen würden, es sieht aus wie gemalt. Denn immerhin geht es Kino um ähnliche Dinge: Es geht um Licht, um Komposition, um Gesichter und Silhouetten. Also, konkrete Bezugspunkte aus der Malerei gab es eigentlich nicht, bis auf einen, aber der war eher unzeitgemäß, weil er nicht aus der Zeit stammt, in der der Film spielt. Trotzdem mussten wir immer wieder an [Jean-Baptiste-Camille] Corot denken, einen französischen Maler des 19. Jahrhunderts, der hauptsächlich Landschaften malte. Darüber hinaus hat er aber auch ein paar wenige Porträts von Frauen angefertigt, Frauen in Landschaften. Und wir waren ganz begeistert von der Art und Weise, wie in seinen Bildern das Licht von den Figuren her zu strahlen scheint. Die Figuren erleuchten sozusagen das Bild, und wir haben intensiv daran gearbeitet, an den Farben sowie in Bezug auf die Kleidung der Figuren, um einen ähnlichen Effekt zu erzeugen.

Was waren Ihre filmischen Referenzen?
Céline Sciamma: Barry Lyndon hatte sicher den größten Einfluss, nicht nur auf mich, sondern ganz allgemein auf das Kino, wenn es darum geht, einen historischen Film zu beleuchten. Was nicht heißen soll, dass wir alles genauso machen wollten wie Kubrick. Barry Lyndon ist ein Film, in dem so unheimlich viele Ideen stecken, die einen zum Denken anregen, und es ist ein Film, der einen selbst mutiger macht in dem, was man tut. Das heißt, anstatt zu kopieren, geht es eher darum, einen Standard zu schaffen, den man nicht zwingend übernehmen muss, aber auf den man konstant hinarbeitet. Und dafür haben wir unsere eigenen Methoden entwickelt, um eine bestimmte Stimmung und Ästhetik zu erzeugen. So wie auch Kubrick viel für seinen Film erfunden hat. Er hat sogar eine eigene Linse entwickelt, um genau die Atmosphäre zu kreieren, die er haben wollte. Und so ähnlich haben wir es auch gemacht. Wir haben Dinge gebastelt und uns überlegt, wie wir es schaffen, ohne Kerzen im Bild auszukommen, was schon sehr früh eine ganz klare Entscheidung war.

In beiden Filmen, Ihrem wie Kubricks, spielt der Ort des Geschehens eine wichtige Rolle. Er entwickelt gewissermaßen einen eigenen Charakter.
Céline Sciamma: Das stimmt. Das Gebäude, in dem wir den Film gedreht haben, hatte einen unschlagbaren Vorteil: Es war über die Jahre so gut wie unangetastet geblieben. Es handelt sich dabei um ein altes Rathaus in einem kleinen Vorort einer Gemeinde namens La Chapelle-Gauthier, ungefähr siebzig Kilometer von Paris entfernt. Als wir es fanden, war es nicht einmal sicher. Es schien wie ein Ort aus einer anderen Zeit. Aber sobald wir auch nur einen Fuß in die Tür gesetzt hatten, wussten wir, das ist es. Und wir wussten, dass alles genauso bleiben sollte, wie es war. Was eigentlich ungewöhnlich ist, weil es in einem Historienfilm ja eigentlich immer darum geht, die Zeit zu rekonstruieren, in der die Geschichte spielt, um einen höchst möglichen Grad an Echtheit und Wahrheitstreue zu erreichen. Davon abgesehen, waren alle meine Filme bisher größtenteils im Studio entstanden. Die Wohnungen, in denen die Protagonisten lebten, waren alle nachgebaut gewesen. Und nun hatte ich auf einmal mit einer vierten Wand zu kämpfen. Dabei hätte es viel mehr Sinn gemacht, gerade nicht an einem Originalschauplatz zu drehen. Es ist eigentlich ein Paradox, aber das mag ich sehr.

Sie haben noch eine weitere Entscheidung bewusst getroffen, nämlich dass es in Ihrem Film so gut wie keine Männer gibt.
Céline Sciamma: Ja, auch das stand für mich bereits von vornherein fest. Es war also nicht so, dass ich die Männer erst im Schneideraum gekillt habe. Der Hauptgrund dafür war, dass ich eine Liebesgeschichte erzählen wollte, die gelebt wird. Und ich wollte über die Möglichkeit ihrer Liebe sprechen, nicht über die Unmöglichkeit. Wenn ich allerdings Männer ins Spiel gebracht hätte, hätte es nicht funktioniert, denn dadurch wären die Grenzen des Möglichen allzu sichtbar geworden. Dabei kennen wir diese Grenzen sowieso, und ich finde, wir müssen doch nicht ständig immer wieder und wieder darüber reden. Ich wollte diesen beiden Frauen den nötigen Raum geben, sich auszudrücken und ihre Liebe voll und ganz auszuleben. Anders gesagt: Ich wollte ihnen Zeit geben, sich vorzustellen, wie ihr Leben in einer Welt aussehen könnte, in der sie sich nicht permanent gegenüber Männern behaupten müssen.

Vor allem gegenüber Männern, die sich in ihre Liebe einzumischen versuchen.
Céline Sciamma: Genau. Diesen Konflikt wollte ich bewusst vermeiden. Ich wollte nicht einmal, dass sie untereinander in Frage stellen, ob ihre Liebesgeschichte überhaupt möglich ist oder nicht. Aber auch das ist eine Frage der Dramatik, nicht des Geschlechts. Es ging mir darum, die Geschichte so zu erzählen, dass sie den Figuren die größtmögliche Freiheit lässt, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Und damit meine ich nicht nur eine imaginäre Freiheit, sondern eine ganz konkrete. Ich wollte, dass sich die Liebe echt anfühlt. Aber natürlich ist das im Grunde nur ein anderer Weg, um auf jene Grenzen hinzuweisen, die zweifelsohne für diese beiden Frauen existieren. Nur dass wir sie eben nicht zeigen, weil sie ohnehin auf der Hand liegen. Ich hatte das Gefühl, die beiden Frauen konnten sich kein anderes Leben vorstellen. Warum sollte ich sie also in die Situation versetzen, einen Kampf zu kämpfen, den sie sowieso nicht gewinnen können?

Es scheint fast so, als hätte der Schritt zurück ins 18. Jahrhundert auch Ihnen als Regisseurin eine größere Freiheit beschert, die Geschichte zu erzählen.
Céline Sciamma: Ja, es war in jedem Fall auch für mich ein befreiender Prozess. Ein Prozess, der mich als Regisseurin mutiger gemacht hat. Zwar waren meine Filme bisher immer sehr stark im Hier und Jetzt verankert und in dem Sinne gewagt, weil politisch motiviert. Diesmal wollte ich jedoch einen Schritt weiter gehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil es hier um eine Künstlerin bei der Arbeit geht. Der Film sollte auf spielerische Art und Weise mit dem Thema umgehen, damit man ihm auch meine eigene Liebe zum Kino ansieht. Deshalb wirkt er mitunter auch so intim. Nicht, weil ich meine persönliche Geschichte erzähle, sondern weil ich meine Arbeit weniger verschlossen halte, sie weniger als ein Geheimnis ansehe und mehr als ein Geschenk offenbare.

Interessant ist, dass Sie nicht nur auf Männer, sondern fast gänzlich auf Musik verzichten.
Céline Sciamma: Auch das war eine Wahl, die ich gleich zu Beginn getroffen habe, beziehungsweise treffen musste, denn es bedeutete, dass ich das Drehbuch mit dem Gedanken im Hinterkopf schreiben würde. Was natürlich nicht heißt, dass ein Film ohne Musik nicht auch musikalisch sein kann. Aber man schreibt dann anders. Und es bedeutet, dass man am Set ein starkes Gefühl für Rhythmus beweisen muss. Für mich war das kein Problem, weil ich ohnehin von Rhythmus besessen bin. Und ich habe mich auch nicht im Hinblick auf die Herausforderung gegen Musik entschieden, sondern ich wollte die Zuschauer in den Zustand versetzen, dass auch für sie die Kunst unerreichbar ist. So dass das Hören von Musik auch für sie kostbar wird. Der Film behandelt ja das Verhältnis zwischen Kunst und Liebe und was für eine wichtige Rolle Kunst in unserem Leben spielt. Das Hören sollte demnach zu einer organischen Erfahrung werden. Es ging mir darum zu zeigen, dass sich die Kraft der Musik auch Kino zurückerobern lässt. Und wenn Sie einmal genau überlegen: Das Stück von Vivaldi, das im Film vorkommt, ist eine Hymne, aber es ist auch die typische Musik in Telefon-Warteschleifen. Und ich fand es spannend, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man dieses Stück, das man so unendlich viele Male gehört hat, neu für sich entdeckt, und zwar in einem komplett anderen Kontext und mit einem neuen Bild im Kopf.

Die letzte Szene im Film ist atemberaubend. Aber ich kann mir vorstellen, dass es sowohl für Sie als auch für Adèle Haenel ein ziemlicher Kraftakt gewesen sein muss, die Einstellung für eine derart lange Zeit zu halten.
Céline Sciamma: Ganz ehrlich, das ist die wichtigste und schwierigste Einstellung, die ich je gedreht habe. Und mit schwierig meine ich auch technisch nicht ohne, weil man dafür sorgen muss, dass der Fokus gewahrt bleibt. Und der arme Kerl, der sich darum kümmern musste, hat den ganzen Take über Blut und Wasser geschwitzt. Denn immerhin waren wir ja auch nicht in Hollywood. Das heißt, er saß auf einem kleinen Stuhl, der auf einem selbstgebastelten Gefährt montiert war, das ein paar andere Männer langsam auf Adèle zu durch den Raum schoben. Alles war extrem improvisiert. Andererseits ist Kino ja oft auch genau das: Technik. Man kreiert etwas, mit den wenigen Mitteln, die man hat, um damit einen kurzen Moment auf die Leinwand zu zaubern, der die Menschen bewegt.

Wussten Sie ebenfalls von Beginn an, dass Sie den Film mit dieser Einstellung enden lassen wollten?
Céline Sciamma: Ja, es war das erste Bild, das ich im Kopf hatte, als ich anfing zu schreiben. Es ist eines dieser Bilder, die einen vorantreiben, wenn die Zweifel überhandnehmen. Und glauben Sie mir, ich habe diesen Film mehr als einmal aufgegeben. Aber ich wusste immer, dass er, wenn, dann so enden sollte. Für mich liegt in dem Bild eine Mischung aus purem Leben und einem vorzeitlichen Traum. Ich kann es nicht besser beschreiben. Vielleicht ist es das letzte Geheimnis, das mir noch bleibt.