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Christoph Schlingensief – Methode Wahnsinn

Methode Wahnsinn

| Harald Mühlbeyer |

Christoph Schlingensief ist nicht nur Enfant terrible des Kulturbetriebs, sondern auch und ursprünglich Filmemacher. Sein filmisches Werk ist nun auch auf DVD erhältlich.

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100 Jahre Adolf Hitler: Weihnachtsfeier im April im Führerbunker, auf dem Soundtrack „Ich hatt´ einen Kameraden“, Goebbels lässt sich von seiner Tochter einen blasen, Hitler drückt seinen in Farbe getauchten Arsch gegen die Wand, Eva Braun heiratet nach des Führers Tod Magda Goebbels, die eine Stoffpuppe gebiert, die als Moses im Fluss ausgesetzt wird, kurz vor dem Ende.

Oder United Trash: Der kleinwüchsige Peter Panne, der von vielen als Erlöser gefeiert wird, hat nach einer Operation eine ejakulierende Fotze am Kopf. Er wird vom afrikanischen Diktator als Antrieb für eine vom schwulen deutschen UN-General geschenkte V2 benutzt, weil die Rakete mit normalen brennenden Negern nicht funktionieren will, Peters Kopf aber genügend Druck entwickelt, um die Rakete ins Weiße Haus zu lenken. Wenn da nur nicht Pater Pierre wäre, der die Rakete gegen den Vatikan richten will.

Oder Die 120 Tage von Bottrop: Sönke Buckmann, ein behinderter, erfolgreicher Regisseur, dreht auf der Großbaustelle am Potsdamer Platz mit überlebenden Fassbinder-Schauspielern ein Remake von Pasolinis Saló, Leni Riefenstahl führt die Kamera, ihr Assistent, gespielt von Oskar Roehler, ist gekleidet wie Helge Schneider, der die Filmmusik komponierte, und auf dem Set rennt Christoph Schlingensief herum, gespielt von Martin Wuttke, während der echte Schlingensief in Holly-
wood zusammen mit Udo Kier den Visconti-Schauspieler Helmut Berger engagieren will.

In Christoph Schlingensiefs Filmen ist alles überspannt. Aggressiv rückt die Kamera auf die Protagonisten, diese schreien und grölen und lassen in abgehackter Sprache vollkommen unsinnige Dialoge los – Brigitte Kausch in Das deutsche Kettensägenmassaker laut schreiend ins Telefon: „Margit? Wir haben zu tun, mach deine Scheißarbeit alleine!“ Alfred Edel, der neben ihr steht, auch laut: „Wer war’s?“ Brigitte, noch immer laut: „Margit! Sie soll ihre Scheißarbeit alleine machen!“ Die grobkörnigen, scharfkantigen Bilder zeigen Naziuniformen, einen Fuß, der Kakteen zertritt, die Suche nach einer Handtasche im Wald, Hexen, die einen nackten Bärtigen über Felsen tragen: Alles bei Schlingensief steht unter dem Anfangsverdacht des Bedeutungsvollen, hat den Anschein des Symbolischen – und ist nur ein weiteres Element in einem absurden Universum, das durch und durch ironisch ist und sich dabei aus Versatzstücken der Wirklichkeit speist. Den Entstehungsprozess seiner Filme hat Schlingensief mit Koprolalie verglichen, dem zwangsweisen Ausspucken unanständiger Wörter (im Hitler-Film leidet der Verräter Fegelein am Tourette-Syndrom).

Tanz der Systeme

„Mich interessiert, verschiedene Systeme aufzufordern, miteinander zu tanzen“, so erklärt Schlingensief sein Grundprinzip in Paul Poets Dokumentarfilm Ausländer raus – Schlingensiefs Container (siehe ray 03/06) über Schlingensiefs „Bitte liebt Österreich“-Aktion während der Wiener Festwochen 2000. Wenn Schlingensief die Systeme tanzen lässt, dann vermischen sich die Themen, die im gesellschaftlichen Diskurs gerade im Schwange sind: Die Regierungsbeteiligung der FPÖ mit dem RTL2-„Big Brother“. Das Gladbecker Geiseldrama, Neonazismus und Asylantenschwemme in Terror 2000. Horrorsplatterfilm und deutsche Wiedervereinigung im Deutschen Kettensägenmassaker. Aids, inzestuöser Ruhr-Adel, Fernsehsoaps und Veit Harlans Melodram Opfergang von 1944 in Mutters Maske. In seiner Aktion „Freakstars 3000“ persifliert Schlingensief mit Viva-TV-Show, Auftritten in der Berliner Volksbühne und einem Dokumentarfilm den RTL-Superstar-Hype, indem er die Castingshow in ein Behindertenheim verlegt.

Als Filmemacher ist Schlingensief vor allem ein Filmzerstörer, der in aufreizendem Dilettantismus filmische Strukturen bloßlegt und dekonstruiert. Er weigert sich, sich dem Diktat von Dramaturgie oder Handlung zu unterwerfen, mengt unbekümmert Tabuthemen zusammen und ergeht sich in umgestülpten Kitsch- und ironisierten Trash-Elementen, bis alles dermaßen ins Aberwitzige übersteigert ist, dass die Schmerzgrenze überschritten und die Scherzgrenze erreicht wird. Bereits im Alter von acht Jahren drehte er zusammen mit Grundschulfreunden seinen ersten Film, eine kleine Räuber-und-Gendarm-Slapstickfarce, die er mit ironischem Erzählerkommentar unterlegte, der nicht den Film, nicht den Zuschauer, nicht sich selbst ernst nahm: Schon damals waren ihm die Regeln und Mechanismen filmischen Erzählens bewusst, und schon damals hat er diese Gesetze unterlaufen.

Arschbomben-Kunst

Schlingensief versucht, die starren Formen künstlerischen Ausdrucks zu öffnen, sie aufzubrechen und gewaltsam ins „wirkliche Leben“ zu überführen. Deshalb demontiert er mit seinen Filmen die Kinematografie an sich. Deshalb überspringt er die Theaterrampe in den Zuschauerraum, platziert seine aktionistischen Kampagnen wie Arschbomben mitten hinein in die Gesellschaft. Das Plantschen in der Welt, die er zur Bühne ernennt, sichert Schlingensief die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, derer, die von ihm nassgespritzt werden, wie auch derer, die auch gerne mal so richtig reinplatzen würden – indem sich also Schlingensiefs Kunst, die vor allem eine Kunst des Wellenmachens ist, in den öffentlichen Raum hineinbegibt, verwandelt sie das „wirkliche Leben“ zu einer künstlerischen (und künstlichen) Performance. Der Betrachter ist einkalkuliert in seiner Rolle als Betrachter, und seine Reaktion wird nachträglich von der Inszenierung einverleibt.

Weil Film angewiesen ist auf die Projektion auf zweidimensionaler Leinwand, weil ein Ausbruch der Kunst in den Kinosaal nicht möglich ist, muss Schlingensief den Zuschauer indirekt attackieren, indem er seinen Angriff zunächst nach innen, auf das Medium Film selbst, lenkt. Er inszeniert skatologische, obszöne, schamlos unanständige Exzesse in geballter Ladung und schließt dabei den Zuschauer hermetisch aus: Das Anstößige stößt ab, distanziert den Zuschauer. Durchaus in brechtschem Sinne verfremden Schlingensiefs Filme die Wirklichkeit, tauchen alles in die Sphäre des Wahnsinnigen, des Hysterischen, um in diesem Zerrspiegel eine ohnehin entstellte Realität noch einmal zu verunstalten. Seine Filme füllt er bis zum Bersten mit divergierenden Motiven an, die sich mal ergänzen, mal widersprechen. Die Suche nach Sinn, nach einer eindeutigen Aussage in dieser Maßlosigkeit der verschlungenen Plots, des beißenden Witzes, des beziehungslosen Nebeneinanders von Kannibalismus, Inzest, Neo-Nazismus und Wahnsinn führt zu einem Nullsummenspiel. Die Metapher, dass Ossis im deutschen Westen zu Wurst verarbeitet werden, ist einerseits gruslig wahr, andererseits mit höhnischer Ironie erzählt. Und die elegischen Kunstfilm-Manierismen, die bedeutungsvoll klingenden Aphorismen („Nagt an dir ein Gedanke, denk ihn weg – oder leide“) in Egomania sind zugleich ernst gemeint und Parodie.

Der Kern der Zwiebel

In einem Interview auf der DVD zum „Deutschen Kettensägenmassaker“ vergleicht Schlingensief seinen Film mit einer Zwiebel. Hinter der schreienden Oberfläche fänden sich andere Bedeutungen, andere Ebenen, die man eine nach der anderen abschälen könne, bis am Ende die Angst als innerer Kern herauskomme. Vielleicht hat Schlingensief Recht mit seiner Zwiebelmetapher, und vielleicht ist sie richtiger, als er ahnt: Wenn man eine Zwiebel immer weiter schält, wenn man immer tiefer dringt, dann muss man erstens immer mehr heulen; und zweitens findet man innen keinen Kern, es bleibt einfach nichts übrig außer Zwiebelschalen. Mit seinen Filmen, mit seinen Mitteln der Kunstgestaltung will Schlingensief genau in diese Leerstelle im Inneren der Zwiebel, des Kinos, der Kunst, der Gesellschaft vordringen.