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Suzume / Suzume no Tojimari

Suzume

Damit die Wunden heilen können…

| Alexandra Seitz |
… müssen die Geister der Vergangenheit beschworen werden. Zum Werk von Shinkai Makoto, anlässlich „Suzume“.

Seit geraumer Weile teilen sich Shinkai Makoto (*1973) und Hosoda Mamoru (*1967) nun schon die Anwartschaft auf den Thron von Anime-Großmeister Miyazaki Hayao (*1941). Hosoda feierte 2021 mit Belle einen enormen Erfolg (lesen Sie hierzu das Porträt in der ray-Ausgabe Juni 2022), Shinkais Suzume (Suzume no Tojimari) bricht seit der Heimpremiere vergangenen November alle Rekorde und schaffte es in den Wettbewerb der zurückliegenden Berlinale. Doch sind es weniger die kommerziellen Verdienste als vielmehr der emotionale Reichtum und die spirituelle Kraft ihrer Geschichten, die beide Filmemacher als würdige Nachfolger ausweisen. Vielleicht lässt sich der Thron ja ein bisschen verbreitern, dereinst …

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Multiversen

Shinkai Makoto wird am 9. Februar 1973 in der Kleinstadt Koumi, Präfektur Nagano, geboren. Nach dem Studium der japanischen Literatur in Tokyo arbeitet er als Grafikdesigner bei einer Firma, die Videospiele entwickelt. 1999 veröffentlicht er im Eigenvertrieb seinen ersten Animationsfilm, den schwarzweißen Fünfminüter She and Her Cat (Kanojo to Kanojo no neko), der einen wichtigen Nachwuchspreis gewinnt und schließlich die Aufmerksamkeit von CoMix Wave Inc. (vormals Manga Zoo, später CoMix Wave Films) erregt, für die Shinkai in der Folge zu arbeiten beginnt und die seither seine Filme produziert. 2002 legt er den 25-minütigen OVA (Original Video Animation) Voices of a Distant Star (Hoshi no koe) vor, in dem das Motiv der raumzeitlichen Trennung von Liebenden handlungsbestimmend ist; ein Motiv, das in Shinkais gesamtem Oeuvre virulent werden wird und in dem Raum Parallelrealität meinen und Zeit Millenia umfassen kann. Oder auch fantasmagorische Bereiche und diffus wabernde Ewigkeiten. Oder eben konkrete Regionen und bestimmte Momente. In jedem Falle mehr als jenes armselige, langweilige, dreidimensionale Raum-Zeit-Kontinuum, das dass wissenschaftlich-technische Weltbild bereit hält.

Das kann dann schon mal etwas komplizierter werden. Wie in The Place Promised In Our Early Days (Kumo no muko, yakusoku no basho, 2004) Shinkais erstem Langfilm, in dem die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Jungs und einem Mädchen vor dem Hintergrund eines sowohl in technischer wie politischer Hinsicht komplexen Sci-Fi-Szenarios existenzphilosophische Dimensionen erreicht.

Your Name. (Kimi no na wa.) – mit dem der Animationsfilmer 2016 einen gewaltigen Erfolg feiert und international Aufmerksamkeit erregt – macht es seinem Publikum da doch um einiges einfacher, freilich ohne den multiversen Ansatz aufzugeben: Eines Morgens wacht Oberschüler Taki auf und hat einen Busen! Und Oberschülerin Mitsuha fasst nicht, was sich zwischen ihren Beinen findet! Ein Körpertausch über Geschlechtergrenzen hinweg bringt die Dinge ins Rollen. Dass dieser Tausch immer nur jeweils einen Tag währt, erweist sich sodann als großes Glück. Denn Taki und Mitsuha sind nicht nur räumlich – der eine lebt in Tokyo, die andere in einer kleinen Provinzstadt – voneinander getrennt, sondern existieren – gemessen am Einschlag eines Kometen, der den Nullpunkt setzt – auch in unterschiedlichen Zeitsphären, ja, möglicherweise sogar in anderen Dimensionen. Da kommt die alles überwindende Macht der Liebe, die Taki und Mitsuha alsbald verbindet, natürlich sehr gelegen. Und irgendwo zwischen romantischem Märchen und melodramatischem Katastrophenfilm erfüllt sich schließlich das alles verwebende Schicksal.

Mit Weathering With You (Tenki no Ko) – einem Riesenpublikumshit, der es im deutschsprachigen Raum sogar zu einigen Kinoeinsätzen bringt – legt Shinkai 2019 nach und noch einen drauf. Neuerlich mit einer Liebesgeschichte, deren turbulenter Verlauf fantastischen Prämissen geschuldet ist, die also neben der einen Wirklichkeit auch noch andere Möglichkeiten kennt – und in der Folge munter zwischen den selbigen hin und her springt: Zwischen Himmel und Erde. Zwischen Coming-of-Age- und Familien-Drama. Zwischen Mystery und Romanze. Zwischen leiser Komik und von einem schmissigen Popsong begleiteter Tragik. Es wird auch hier heftig geschmachtet, von dem 16-jährigen Hodaka nämlich, der von Zuhause ausgerissen ist und sich in Tokyo mehr schlecht als recht durchschlägt. Er lernt die etwa gleichaltrige Hina kennen, der es auch nicht viel besser ergeht, muss sie sich doch nach dem Tod der Mutter allein um ihren kleinen Bruder kümmern. Gemeinsam bildet man eine Notgemeinschaft und setzt Hinas Fähigkeiten, das Wetter zu kontrollieren, gewinnbringend ein – und dann dauert es nicht lange, bis Hodaka sich mit der ganzen Kraft seiner jungen Jahre in Hina verknallt. Geht es nach ihm, dann sind die Tage, in denen ein Mensch sich opfert, um den Wettergott gnädig zu stimmen, lange schon vorbei. Und so setzt er im blinden Vertrauen darauf, dass die Liebe alles zwingt, wortwörtlich Himmel und Erde in Bewegung, um seine Hina zu retten.

Trost und Heilung

Die Liebe und die Katastrophe und der kosmische Gesamtzusammenhang – sie bilden selbstverständlich auch das Fundament, in dem die Erzählung von Suzume (Suzume no Tojimari) wurzelt, mit dem Shinkai Makoto seine Meisterschaft nunmehr unmissverständlich und überall bekannt macht. Auf der nach oben offenen Skala der Möglichkeiten des Anime, fantastische Welten zu entwerfen, erreicht Suzume Werte in der Größenordnung jenes Seebebens, dessen Auswirkungen (Tsunami und Super-GAU) vor 12 Jahren die Präfektur Fukushima für immer verwüsteten. Und nein, das ist jetzt nicht zynisch, handelt Suzume doch eben davon. Respektive von den Traumata, die die durch zahlreiche Vulkane geologisch erschwerten Bedingungen des Inselreichs im Gefolge mit sich führen.

Den dem Shinto¯ und damit einer Variation des Animismus verpflichteten Japanern fällt es leicht, das Gerumpel (unter) der Erde zu personifizieren oder es sich, wie im vorliegenden Fall, als das aufbäumende Gewusel eines riesigen Wurms vorzustellen,der, von fesselnden „Schlusssteinen“ losgelöst, durch unbedacht geöffnete Türen zwischen den Welten in die Freiheit will – um dort dann aus der Welt der Menschen Kleinholz zu machen. Also muss Suzume, die 17-jährige Titelheldin, die an der Sache mit den Schlusssteinen nicht ganz unschuldig ist, die Türen wieder schließen. Gemeinsam mit einem dreibeinigen Kinderstuhl, in den der eigentliche Türhüter vermittels eines Fluches verwandelt worden ist, und zwar vom Schlussstein selbst, der wiederum in Gestalt einer sprechenden Katze mit einem überlangen, buschigen Schwanz auf der Flucht ist. Wie gesagt, die Skala ist nach oben offen.

Zwar mag die gemeine Mitteleuropäerin zwischendurch ein wenig den Durchblick verlieren angesichts einzelner kosmisch-energetischer Abläufe sowie differierender Seinszustände und Erscheinungsformen unterschiedlicher Wesenheiten. Nie aber vergisst man, dass es hier um die existenzielle Katastrophe geht, um ein kleines Mädchen, das die Mutter verloren hat und dessen Welt unterging. Shinkais Erzählung ist jedoch nicht bloß verwurzelt in der jüngeren Geschichte Japans, sondern auch als Kommentar lesbar zu einer global die Menschen beängstigenden, krisengeschüttelten Gegenwart. Dass er die Hoffnung nicht verliert und als Zuversicht in das Erreichen kosmischer Harmonie gestaltet, zeichnet diesen Film aus – und macht ihn zu einem aufrichtigen und seelenvollen Vertreter seines Genres.

Allerdings greift es zu kurz, Suzume allein dem japanischen Konzept des „Iyashi“ (d. h. Trost und Heilung) zuzuordnen, das seit Mitte der neunziger Jahre (Erdbeben in Kobe, Anschläge der AUM-Sekte in Tokyo, Wirtschaftskrise) in Form von Manga und Anime, Ratgebern und Katzenliteratur Verbreitung findet. Denn weniger seelische Wellness und Resilienz – Kampfbegriffe im modernen Kapitalismus, wenn es um die Wiederherstellung der Konsumbereitschaft endgestresster Erstwelt-Bewohner geht – stehen am Ziel von Suzumes Reise, die von einer Hafenstadt in der Präfektur Miyazaki über Ehime, Osaka und Tokyo schließlich nach Fukushima führt, zu einem Heim, von dem nur noch die Fundamente geblieben sind.

Mit jeder Tür, die Suzume und ihr Begleiter Souta schließen, wird ein Teil der verlorengegangenen kosmischen Ordnung wiederhergestellt, wird das Aufbäumen der (Natur-)Gewalten befriedet, indem der Schmerz der Menschen über den Verlust beglaubigt wird. Denn alles hängt mit allem zusammen und nichts davon ist lauwarm oder gemächlich. Weder das sonnenglitzernde Meer, das von seiner Gefährlichkeit nichts spüren lässt und dessen Schönheit einen zu Beginn und zum Ende der Geschichte schier aus dem Sessel reißen will, noch die verwunschenen Ruinenlandschaften, die vom vergangenen Leben zeugen und von der Entvölkerung des ländlichen Japan, noch die Beziehungen der Menschen selbst, die von heftigen Gefühlsausbrüchen auf Zerreißproben gestellt werden.

Am Ende steht da ein kleines Mädchen, das verzweifelt ist und untröstlich und hemmungslos heult. Und das große Mädchen, das vor ihm steht, sagt: „Auch wenn Du jetzt traurig bist, so wirst Du doch aufwachsen.“ Da fragt das kleine Mädchen das große Mädchen, wer es sei, und dieses gibt zur Antwort: „Ich bin Dein Morgen.“ Jene Zukunft, in die hinein eine Jede und ein Jeder jeden Morgen aufs Neue aufbricht, auch wenn das Heute einen Verlust mit sich gebracht haben mag, der jedes Weiterleben unmöglich erscheinen lässt. Vorläufig. Auch davon erzählt Suzume.