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Belle von Hosoda Mamoru

Belle | Hosoda Mamoru

Wenn die Masken fallen

| Alexandra Seitz |
Anlässlich seines neuen Films „Belle“: das grenzgängerische Anime-Schaffen von Hosoda Mamoru.

In der Virtualität sind die Möglichkeiten unbegrenzt. In U – wie „you“, „Du“ – ist ein Neuanfang möglich, dort lässt sich die Welt – meine, deine – verändern. Behauptet jedenfalls die Stimme aus dem Off zu Beginn von Ryû to sobakasu no hime (Belle), Hosoda Mamorus im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes unter großem Beifall uraufgeführtem aktuellen Werk. Währenddessen zoomt die Kamera an eine vertikal orientierte, sich in jede Richtung erstreckende Struktur, die Rechner in einem gigantischen Serverraum sein könnte, tatsächlich aber U ist. Darin die form- und farbenfrohen Avatare der Userinnen und User umherhüpfen und herumschweben – alles so schön bunt hier!

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In U kann ein Mauerblümchen zum Star werden, die Beschränkungen der Persönlichkeit überwinden, die eigene Stimme (wieder)finden und kraftvoll wirksam werden lassen. Ein solcher Star ist Belle, die Schöne; eine bewunderte Sängerin mit zahllosen Followern und Fans. Belle ist im wahren Leben die siebzehnjährige Schülerin Suzu, die nicht mehr singen kann, seit sie, da war sie noch ein kleines Kind, ihre Mutter verloren hat. Belle ist Suzus Zuflucht vor der Trauer, aus der sie nicht herausfindet. Bis sie auf ungeahnte Weise gefordert wird, als das zerstörerische Negativenergie-Wesen Dragon aka The Beast – hier fließt der Volksmärchenstoff „Die Schöne und das Biest“ und mit ihm eine ganze Bildtradition in den phantastischen Raum ein – eines von Belles Konzerten sprengt. Instinktiv erkennt Belle im Beast eine verwandte, gequälte Seele – verlassen, verraten und hilflos – und macht sich auf, diese zu suchen, um sie zu erlösen, und bei der Gelegenheit sich gleich mit.

Nein, Belle ist kein Oberflächenfeuerwerk fürs Nebenher-Vergnügen, sondern ein tiefgreifendes Drama. Und ja, die von Hosoda Mamoru gestalteten Zeichentrickfilmwelten bieten ein paar mehr Möglichkeiten als die uns vertraute. Das liegt zum einen in der Natur der Sache – das ist die Freiheit der zeichnerischen Darstellung –, zum anderen aber daran, dass Hosodas Welten an sich schon raumzeitlich weniger fest gefügt sind als die unsrige und jederzeit durchlässig in Richtung des Phantastischen (das dann eben auch die Gestalt eines Multiversums/sozialen Netzwerks annehmen kann). Immer jedoch bleiben sie, und das ist das Entscheidende, dem verpflichtet, was im Allgemeinen als Realität akzeptiert wird. Sie sind also vor allem an den vertrauten Problemlagen wiedererkennbar, die sich in ihnen gestaltet finden; diese kreisen bei Hosoda oft und gerne um die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens.

Seit der unumstrittene Anime-Großmeister Miyazaki Hayao (81) das weltberühmte Studio Ghibli geschlossen hat – oder doch nicht? Seit er mit seiner Verabschiedung in den wohlverdienten Ruhestand droht – oder doch nicht? Seit unleugbar ist, dass auch ein Anime-Gott nicht ewig leben wird – oder doch? Seit einiger Zeit jedenfalls steht die Frage im Raum, wer das Erbe annehmen respektive in die ziemlich großen Fußstapfen treten könnte. Wobei es bekanntermaßen nicht allein um künstlerische Meisterschaft und die Bewahrung traditioneller Animationstechniken geht, sondern auch um die Ideen und Werte, die in den Erzählungen vermittelt werden. Vor diesem Hintergrund steht der 1967 in der Kleinstadt Kamiichi, Präfektur Toyama, geborene Hosoda – der zunächst für Toei Animation und danach für Madhouse tätig war und 2011 mit Studio Chizu sein eigenes Animationsstudio gründete – mit seinem bisherigen Werk nicht schlecht da. Zwar mag die ökologische Agenda, die in Miyazakis Schaffen von großer Wichtigkeit ist, in Hosodas Filmen nicht so sehr im Vordergrund stehen, doch an Herz und Wärme mangelt es ihnen nicht, und Empathie und Solidarität gelten ihnen als zentrale Tugenden.

Hosoda, der an der Hochschule für Kunst in Kanazawa studierte und seinen Abschluss in Ölmalerei machte, feierte seinen ersten großen Erfolg 2006 mit einem Werk, dessen Titel wörtlich zu nehmen ist: Toki o kakeru shojo (Das Mädchen, das durch die Zeit sprang) tut eben dies nicht in einem übertragenen Sinne; unterwegs begegnet Makoto zudem einem weiteren Zeitreisenden, der sich als die Liebe ihres Lebens in der Zukunft herausstellen wird. Coming-of-Age und Melodram, Fantasy und Komödie, Science-Fiction und Abenteuer – wie das Mädchen durch die Zeit, so springt Hosoda durch die Genres und scheucht sie am Ende alle unter einen Hut. Ein amibitioniertes Kunststück, das international Aufsehen erregt.

2009 folgt Sama uozu (Summer Wars), in dem Hosoda von Vereinzelung und Gemeinsinn erzählt, sowie davon, wie unberechenbare menschliche Beziehungen sich letztlich als stärker erweisen als mathematisch begründete virtuelle Relationen: Die Matriarchin eines altehrwürdigen Samuraigeschlechtes feiert ihren 90. Geburtstag, und die ganze vielköpfige Sippe kommt am Familienstammsitz zu einem rauschenden Fest zusammen. Doch die Stimmung wird empfindlich gestört, als jemand die Cyberspace-Kommunikationsplattform Oz hackt – ein riesiges soziales Netzwerk, dessen Angebote von Shoppen über Entertainment bis zur Organisation kommunaler Dienstleistungen reichen – und dort als Avatar namens „Love Machine“ unbeschreibliches Chaos stiftet. Ampeln fallen aus und verursachen Verkehrskollapse, willkürliche Notrufe schicken Feuerwehren, Polizeistreifen und Notärzte in die Irre. Da Netzwerke wiederum oft miteinander vernetzt sind, infiltriert „Love Machine“ bald empfindliche Bereiche, in denen personenbezogene, medizinische und militärische Daten verwaltet werden. Alles, was die virtuelle Welt in der realen schiefgehen lassen kann, geht nun schief und rasch wird aus anarchischer Spielerei blutiger Ernst. Und als ob das noch nicht reichte, lenkt „Love Machine“ auch noch geschickt den Verdacht auf Computer-Wizard und Mathe-Genie Kenji, der in Teilzeit als einer der Administratoren von Oz arbeitet. Nun besinnt sich die Sippe ihrer kämpferischen Tradition und greift statt zu Schwert und Lanze zu Mobiltelefon, Laptop, Satellitenschüssel, Blackberry und iPhone, um den Avatar im Cyberspace mit dessen eigenen Mitteln zu schlagen.

Seinen enormen Reiz bezieht Summer Wars, der wie Das Mädchen, das durch die Zeit sprang in Zusammenarbeit mit Drehbuchautorin Okudera Satoko entstand, aus der völlig unterschiedlichen Animation der beiden im Konflikt miteinander stehenden Handlungswelten: Da ist die Ebene der Realität am Handlungsort in der Präfektur Nagano, deren landschaftliche und architektonische Schönheit von Takeshige Youji eingefangen wurde, der als Art Director auch an zahlreichen Produktionen des Studio Ghibli beteiligt war. Und da ist die Cyber-Ebene Oz, die aussieht, als habe sich auf ihr Murakami Takashi ausgetobt, erster Protagonist der Superflat-Bewegung, die den in der japanischen Popkultur virulenten Niedlichkeitskult und Konsumismus kritisch hinterfragt. Durch die Kontrastierung dieser beiden unterschiedlichen Bildästhetiken bezieht sich Hosoda direkt auf einen gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen Diskurs und gewinnt Summer Wars zusätzliche unmittelbare Relevanz.

2012 erzählt Hosoda in Okami kodomo no Ame to Yuki (Ame & Yuki – Die Wolfskinder) vom Aufwachsen der titelgebenden Gestaltwandler-Geschwister, die der Liebe einer Menschenfrau zu einem Wolfsmann entspringen – eine transgressive Verbindung, deren zärtliche Selbstverständlichkeit so wohl nur im Reich der japanischen Legenden vorstellbar ist. 2015 schildert Bakemono no ko (Der Junge und das Biest) die wechselseitige Erziehung und Erlösung eines angriffslustigen Waisenknaben und eines ungehobelten, zotteligen Ungetüms, angesiedelt im gleich um die Ecke von Shibuya gelegenen Paralleluniversum der wohlmeinenden Fabelwesen. Und 2018 erscheint mit dem Oscar-nominierten Mirai no Mirai (Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft) ein ganz gegenwärtiges Märchen, in dem eine Familie Zuwachs bekommt und der vierjährige Kun lernen muss, der große Bruder von Mirai zu sein. Wenig verwunderlich stimmt er dazu ein alterstypisches Protestgeschrei an. Bis eben noch war er der Nabel seiner kleinen Welt, um den sich alles drehte, der Prinz im Haus; dann bringt Mama dieses Baby mit nach Hause, und alles ändert sich. Abgemeldet ist er plötzlich! Rücksicht nehmen soll er! Und: teilen! Wer würde da nicht auf die Barrikaden gehen? Kun, eifersüchtig bis zur Gelbglut, wehrt sich, er zetert und bockt – und wird im Garten des kleinen Anwesens, in dem die Familie lebt, ein ums andere Mal in eine traumartig-magische Wirklichkeit gezogen. Dort widerfahren ihm an der Seite von Urgroßvater, Mutter, Schwester und Hund in je eigentümlicher Gestalt einige hilf- und lehrreiche Abenteuer. So sortieren sich denn allmählich die Beziehungen ihrer Mitglieder neu, rüttelt sich die Familie unter den geänderten Bedingungen zurecht und findet damit eigentlich erst richtig zusammen. Es ist dies ein schmerzhafter, weil konfliktreicher Prozess, den Hosoda in keinem Moment auf die leichte Schulter nimmt. Mit leichter Hand hingegen und mit zartem Pinselstrich ist die zeichnerische Umsetzung der Erzählung gestaltet; farbenfroh und detailfreudig und im besten Sinne altmodisch malt Hosoda uns eine Welt, in der nicht nur die Phantasie die Wirklichkeit bereichert, sondern die obendrein auch noch glücklich macht.

Im Zentrum dieser Welt steht schließlich ein Menschenwesen, das bei sich selbst angekommen ist; das nicht nur seinen Charakter akzeptiert hat, sondern auch die mehr oder minder schweren Umstände, die es geformt haben. In Belle gestaltet Hosoda einen solchen rauschhaften Moment des Zu-sich-selbst-Findens als buchstäbliches Maske-Fallenlassen: Inmitten eines singenden Lichtermeeres gibt Belle sich in U als Suzu zu erkennen und ermöglicht es auf diese Weise auch Beast, aus seiner Verschanzung zu kommen. Ein Moment nicht nur der Ent-Tarnung und des Preisgebens der eigenen Schwäche, sondern vor allem auch der Ehrlichkeit, der Toleranz und der Solidarität. Was diese Szene so bedeutsam macht, ist ihre Strahlkraft in die digitale Gesellschaft hinein, die unsere Gegenwart oft recht unschön prägt: Versteckt und verborgen hinter Masken und Filtern sind weder aufrichtige Kommunikation noch authentische Begegnung möglich, geschweige denn mitmenschliche Wärme. Man mag diese hoffnungsvoll vorgetragene Erinnerung ans so leicht verwundbare Lebendige vielleicht sogar ein wenig banal finden. Das ändert aber nichts an jener Wahrheit, dass Flucht keine Rettung auf Dauer ist.