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Rote Sonne

Dossier 1970

Das Blei der Blumenmädchen

| Morticia Zschiesche |
„Rote Sonne“ von Rudolf Thome kam am 1. September 1970 in die Kinos: ein Klassiker des Neuen Deutschen Films mit Sex & Crime in Pop-Art-Farben.

Die Morgensonne geht auf und glitzert sanft über dem Starnberger See. Eine junge Frau in weißem Minikleid und ein junger Mann im weißen Hemd liegen am Strand, neben ihnen steht ein VW-Käfer – ein Traum für viele junge Paare der Bundesrepublik der sechziger Jahre.

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Rudolf Thome taucht in der Schlusssequenz seines zweiten Films Rote Sonne noch einmal ganz tief in die bürgerliche Symbolwelt ein, um sie vor unseren Augen komplett auszulöschen. Denn die Idylle trügt: Peggys Kleid und Thomas’ Hemd sind blutgetränkt, ihre Körper zucken noch über den Waffen, mit denen sie sich gerade gegenseitig in einem absurden Shoot-out über den Haufen geschossen haben. Es ist eine Bluthochzeit, der Unschuld beraubt, mit der Thome wenig hoffnungsvoll den Tag anbrechen lässt – ein Jahr nach dem Sommer der Liebe 1969 gedreht und im September 1970 uraufgeführt.

In den Hauptrollen agieren die Rebellen ihrer Zeit, für die dieser Film wie maßgeschneidert wirkt. Peggy wird gespielt vom damaligen „It-Girl“ der Kommunarden, Uschi Obermaier, bekannt für ihre sexuelle Freizügigkeit und ihren Drogenkonsum, Thomas vom „deutschen Belmondo“ Marquard Bohm, ein ebensolcher Kerl mit markanter Visage. Sie verkörpern damit authentisch ihre Film-Figuren und führen ihre symbolische Aufladung ad absurdum. Das „wild girl“ und der „bad boy“, die nicht mit und nicht ohne einander leben können – eine Paarbeziehung auf Augenhöhe zwischen Mann und Frau, die nicht überlebensfähig ist. Die Geschichte des mittlerweile zu den Höhepunkten des Neuen Deutschen Films zählenden Werks lässt sich schnell zusammenfassen. Die Inszenierungsweise, die Thome dafür bereitstellt, bedarf weitaus mehr Würdigung, ist sie doch gespickt mit zeitlosen geschlechtsspezifischen Schemata und Anspielungen auf genderthematisierende Werke seiner damaligen Filmkollegen, die eine Rezeption auch 50 Jahre später noch lohnenswert machen.

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Vier Frauen leben in einer WG und haben sich geschworen, jeden ihrer Liebhaber nach spätestens fünf Tagen umzubringen („Bevor du dich verliebst“) und die Leiche im Moor zu versenken. Das eiskalte Prozedere, meist mit schallschutzgedämpften Schusswaffen vollzogen, wird gleich zu Anfang ohne Schnitt als alltägliches Ritual gezeigt. Die Kaltblütigkeit und Brutalität der Frauen begleiten uns den ganzen Film über und werden mit dem mädchenhaften Äußeren der Blumenmädchen in knapper Kleidung kontrastiert. Zutritt in diese Welt der Frauen verschafft sich gleich zu Beginn des Films Thomas, der frühere Liebhaber von Peggy. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Peggy arbeitet in einem Nachtclub, der zugleich zur Rekrutierung der meist gut situierten machohaften Opfer dient. Um in den Club zu kommen, muss Thomas, und damit beginnt auch die symbolische Überhöhung des Films, seinen femininen Schal ablegen, eine Krawatte leihen und von Peggy binden lassen. Thomas wird damit als ein Hybrid zwischen der typisch männlichen und weiblichen bürgerlichen Welt eingeführt, der zwischen beiden Schemata changiert, und wir können uns an seinem Rollenspiel als „Tramp“ erfreuen. 

 

Aufgeweichte Geschlechterrollen

Der Film ist von seiner Sprache, seinen Stilmitteln und seiner Musik her vor allem eine Verbeugung vor der französischen Nouvelle Vague und dem amerikanischen Exploitation-Film, die sich bereits Ende der fünfziger Jahre bis in die sechziger Jahre in zum Teil drastischer und innovativer Erzählweise der Aufweichung der Geschlechterrollen fern vom statischen Studiodreh gewidmet haben. Die emotionslosen Dialoge zwischen Peggy und Thomas ähneln denen von Camille und Paul in Jean-Luc Godards Film Le mépris (Die Verachtung, 1963) mit Brigitte Bardot und Michael Piccoli in den Hauptrollen, deren Filmfiguren ebenfalls das Ende des Films nicht überleben sollen. Und auch sie galten zur damaligen Zeit als Sexsymbole. Die Kunstsprache und das gegenseitige Einfordern von Handlungen, die der jeweiligen typischen Mann-/Frau-Rolle entsprechen, karikieren die Vorstellungen von Zusammenleben und Ehe. Peggy und Thomas wird dabei ein Liebesmotiv zugestanden, das ihre Szenen dezent musikalisch untermalt und ihre Gefühle füreinander andeutet, die den Mord an Thomas für Peggy zunächst unmöglich machen. Im weiteren Verlauf des Films wird sich die Musik dann steigern, und die Situationen werden sich zuspitzen, in denen eine finale Entscheidung von Peggy gefordert wird.

Mit einem Augenzwinkern und als Zitat eines ganz anderen Genres wird der erste Test einer selbstgebauten Bombe von drei der Frauen in Szene gesetzt. Vergnügt erinnert sie an den damals noch in kommerzieller Hinsicht ebenso erfolglosen US-Low-Budget-Film Faster Pussycat! Kill! Kill! von Russ Meyer aus dem Jahr 1966, in denen drei Frauen männermordend durch die Mojave-Wüste ziehen – damals aus Geldmangel in Schwarzweiß gedreht. Doch keine amerikanische Wüste, sondern ein Acker vor den Toren Münchens ist Thomes farbenfrohes Setting. Kein schwarzes Lederoutfit, sondern bunte Blumenkleider. Kein Porsche, der sie zum Ort des Geschehens bringt, sondern ein Käfer. Und doch ist das Gruppenbild, das beim Hochjagen des Holzhaufens entsteht, nahezu identisch, allerdings ohne die Aggressivität einer Tura Satana von Uschi Obermaier einzufordern. Denn auch so funktioniert die Botschaft: Achtung, hier räumen sich Frauen ihren Weg frei und das mit einem großen Knall („wegen der Aufmerksamkeit“). So sieht Wilder Westen „made in West-Germany“ aus – noch weit vor der Gründung der RAF und doch inspiriert von realen radikalen Feministinnen wie Valerie Solanas, die kurz zuvor auf Andy Warhol geschossen hatte, oder Helke Sanders Revolte gegen den männerdominierten SDS in Frankfurt.

 

Weibliche Herrschaftswelt

Das psychologische Spiel mit den Insignien der Geschlechter ist dabei das prägende Stilmittel, das Rote Sonne noch heute zu einem lohnenswerten Objekt der Filmbetrachtung macht, auch wenn oder gerade weil vieles davon laut Thome eher unterbewusst und während des Drehens entstanden sei. Allein die WG-Wohnung lässt sich als ein wahres Highlight der Requisite betrachten. Ähnlich wie beim Kostümbild war das Filmteam auf authentische Drehorte angewiesen, wäre doch aufgrund des kleinen Budgets eine eigens für die Dreharbeiten durchgeführte Renovierung nicht möglich gewesen. Als Hauptdrehort ist die ausgewählte Wohnung – in ihrer Buntheit und ohne Filter abgefilmt – ein Glücksfall für die Dramaturgie. Jedes Zimmer hat eine andere Farbe, keines ist jedoch einer der Frauen zugeordnet („Wir schlafen überall“). Der riesige Flur mit seinen Rundbögen und den Eingängen zu diesen Zimmer-Welten wirkt fast surreal, als führe er ins Innere dieser weiblichen Herrschaftswelt. Es ist ein abgründiges Szenario, in dem sich die Männer verlieren. Die Zimmer dienen entweder dem Liebesvollzug oder dem Ausruhen davon. Die Frauen bauen ihre Bomben darin, als würden sie gemeinsam handarbeiten. Die Morde werden nach dem Frühstück ausgeführt. So ist auch die Küche letztlich der Ort, in der der misstrauisch gewordene Thomas eine der Frauen zu einem Geständnis bringt. Der brachiale Hunger nach Rache weicht dem Bedürfnis des Bekennens und wird ihr zum Verhängnis, weshalb auch sie am Ende sterben muss.

Auf ihrem schicksalhaften Weg werden die Protagonistinnen mit Symbolen der Männlichkeit ausgestattet, ob Zigaretten, Schusswaffen oder Sprengstoff. Ihr rund geformter grauer VW-Käfer hebt sich ab von den blitzenden Ford Mustangs und Rennwagen ihrer männlichen Opfer. Verbalen Einforderungen nach Ehe, Unterordnung und dienender Rolle („Schäl mir die Orange!“) der Männer wirken bei dieser demonstrativ dargestellten Autonomie der Frauen nur noch lächerlich, die Mordmotive werden plausibel. Thomas als Irrender in den Rollenklischees – ganz ohne Auto – hilft es wenig, von Peggy aus der „Über-WG“ gebracht zu werden, sein Tod wird trotzdem von den anderen Frauen immer vehementer eingefordert. Mit einem Revolver aus einer der Handtaschen bewaffnet, fährt er schließlich mit Peggy an „ihren“ gemeinsamen Ort am See und provoziert den finalen Schusswechsel, über dem die rote Sonne aufgehen wird. Zwanzig Jahre später lässt Rudolf Thome seinen männlichen Helden im Film Der Philosoph (1988) den Morgen mit gleich drei Frauen harmonisch im Bett vereint beginnen. Ende der sechziger Jahre legt er für dieses Szenario bereits die Weichen: Die klassische Paarbeziehung ist nicht überlebensfähig, kein Happy-End in dieser Form möglich. Ein damals wie heute polarisierender Film, der sich überzeugend in seiner Filmsprache auszudrücken vermag, ob man seine Geschichte mag oder nicht. Mit nur 15.000 Zuschauern im Kino gefloppt und mit sehr zwiespältiger Aufnahme durch die Presse, gehört er heute zu Recht zu den Schlüsselwerken des deutschen Films und findet nun, gefeiert in zahlreichen Retrospektiven und DVD-Editionen, sein verdientes Publikum.