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Das Fahrrad im Film – Von Speichen und Rollen

Von Speichen und Rollen

| Roman Scheiber |

Film ist Bewegung. Radfahren ist Bewegung. Das Drehmoment bestimmt den Fortgang von Etappen und Geschichten. Fahrräder im Film: Drei Bergankünfte.

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Jojo ist 18 und liebt den schnellen Beat der Technomusik. Er will alles, und das sofort. Und er hat einen coolen Job: Jojo rast als Fahrradbote durch Wien. Tempo heißt der Film, der Jojos Geschichte erzählt. Der damalige Video- und Werbefilmer Stefan Ruzowitzky, der mittlerweile hochbudgetierte Hochglanzthriller wie Anatomie inszeniert, fegte 1996 wie ein Wirbelwind durch die Austrofilmszene. Tempo war neu, frisch, ein vitales Stück junger Lebenskultur, ein Rave-Film. Jojo radelt im Techno-Rhythmus durch die Stadt, spinnt sich tagträumerisch schräge Geschichten zu seinen Botenaufträgen zurecht und gerät schließlich in eine handfeste Crime Story. Mit Clip-Ästhetik, Handkamera und Stroboskop-Blende fing Ruzowitzkys Film ein, wofür Fahrradkultur auch stehen kann: Geschwindigkeit, Mobilität und nicht zuletzt eine ordentliche Dosis Anarcho-Freiheit.

Tempo ist nur ein Beispiel von vielen im Kino, wo ein Fahrrad den Fortgang der Geschichte bestimmt.

Das Spektrum der Rollen, die Räder im Film spielen, könnte breiter nicht sein: vom Existenz sichernden Arbeitsgerät eines Tagelöhners in de Sicas neorealistischem Meisterwerk Fahrraddiebe (1948) über das corpus delicti eines Versicherungsbetrugs im DDR-Klassiker Das Fahrrad (1982) zum Fetisch in Tim Burtons Pee-wee’s Big Adventure (1985). Vom Sinnbild schwebender BMX-Jugendkultur im Mondschein (Spielbergs E.T., 1982) zum klitoralen Orgasmusbringer in der deutschen Teeniekomödie Mädchen, Mädchen (2001). Von der Rennmaschine in Pepe Danquarts Dokumentarfilm Höllentour (über die Helden der Tour de France, 2004) oder im Animationsjuwel Das Grosse Rennen von Belleville (2003) zum Transportgerät im handbikemovie von Martin Bruch, der den Rollstuhl gegen ein Fahrrad getauscht hat.

Denkt man an Fahrräder im Film, heben sich die unterschiedlichsten Szenen ins Bewusstsein, und sie können äußerst unterschiedlich konnotiert sein. Als chinesische Mischung aus Tempo und Fahrraddiebe könnte man zum Beispiel Beijing Bicycle (2000) von Wang Xiaoshuai sehen. Oder das Rad als Symbol für oder gegen den Fortschritt: Während Jojos Bike in Tempo atemlos der urbanen Mobilität und dem Weiterkommen zuarbeitet, bleiben Jacques Tati und sein radelnder Postbote Monsieur Hulot (in Jour de Fête) in steter Distanz zu großstädtischen Errungenschaften. Hulot hechelt mit seinem klapprigen Rad dem technischen Fortschritt hinterher, Tati als Filmemacher aber wusste sich modernster filmtechnischer Mittel versiert zu bedienen.

Subjektive Kamera

Kino ist Bewegung. Radfahren ist Bewegung. Was beide miteinander zu tun haben, liegt in der Natur der Sache, und hängt schon in der Begrifflichkeit zusammen: Filme werden gedreht, Filmrollen abgespult, so wie sich Räder drehen und Kilometer abgespult werden. Ein Fahrradfahrer, eine Fahrradfahrerin nimmt mit jeder Fahrt einen neuen Film auf – aus der subjektiven Perspektive des Helden, an dem die Welt vorbeirauscht. Das muss nicht immer in der Rasanz geschehen, von der eine Abfahrt vom Col du Galibier lebt.

Der Tiroler Martin Bruch ist seit 1998 als Handbike-Fahrer unterwegs, täglich, bei jeder Witterung. 16.000 Kilometer hatte er bereits abgespult, meist zwischen geschlossenen Fahrzeugen mit kaum erkennbaren Insassen hinter spiegelnden Scheiben, als er für sein handbikemovie 2004 den großen Diagonale-Filmpreis erhielt. Bruch über seine Erfahrung der Welt: „Als langsamer Teilnehmer, besonders bei Steigungen, aber fast gleich schnell bei abschüssigen Strecken erlebe ich die Straße – eine Berg- und Talfahrt – schweigend, einsam, isoliert und amüsiert. Die Perspektive beim Handbike-Fahren, im Freien sitzend, ist ungewöhnlich, für mich aber normal.“

handbikemovie ist eine elementare Erzählung, ein „cinéma brut“ in 56 ungeschnittenen Einstellungen. Durch die am Helm des Filmemachers befestigte Kamera nimmt der Zuschauer an einer waghalsigen Reise teil – nach New York, Paris, London und Istanbul. Die schier unendliche Kurbelbewegung Bruchs trägt seinen Film voran, ähnlich der Arbeit früher Kameraleute, die zum Beispiel eine Bolex mit der Handkurbel betätigten.

Die Tour der Schmerzen

Steht man als Zuschauer am Rand einer Radrenn-Etappe, hat man nur Bruchteile von Sekunden Zeit, die Helden zu be-obachten. Dass man die Bilder vom Taktieren und Ausreißen, vom Fahren für sich selber oder für die Mannschaft in der Fernsehübertragung viel deutlicher verfolgen kann, hindert Millionen Menschen nicht, Jahr für Jahr zum berühmtesten Radrennen der Welt zu pilgern. Eine Akkreditierung dafür ist kostbar wie ein Sitzplatz in den ersten drei Reihen der Oscar-Verleihung. 2003 wurde die Tour de France 100 Jahre alt. Die Jubiläumstour nahm der Filmemacher Pepe Danquart zum Anlass für seinen Film Höllentour: Drei Kamerateams begleiteten den Tross und fingen nicht nur die Magie des Rennens ein, sondern zeichneten inmitten der Schönheit der Landschaft das Leiden, die Schmerzen und die Schwächen der Menschen auf dem Sattel auf.

Für Roland Barthes bestand die Dynamik der Tour in nur vier Bewegungen: Führen, Verfolgen, Ausreißen, Eingehen. In seinem Essay Die Tour de France als Epos schrieb Barthes: „Diese vier Bewegungen werden natürlich dramatisiert, im emphatischen Vokabular der Krise miteinander verschmolzen; oft gibt eine von ihnen bildhaft der Etappe ihren Namen wie einem Romankapitel … Die Sprache hat hier eine ungeheuer wichtige Funktion; sie gibt dem Ereignis, das unfassbar ist, weil es unaufhörlich in eine Zeitfolge aufgelöst wird, die
epische Übersteigerung, die es ermöglicht, dieses zu verfestigen.“

Homerische Geographie

Wie Homers Odyssee sei das Rennen zugleich eine Rundreise mit Prüfungen und eine vollständige Erforschung der ir-dischen Grenzen. Barthes: „Odysseus hatte mehrere Male die Pforten der Erde erreicht. Auch die Tour streift an mehreren Punkten die unmenschliche Welt: auf dem Ventoux, sagt man uns, hat man schon den Planeten Erde verlassen, man bewegt sich in der Nachbarschaft unbekannter Sterne.“ Die „homerische Geographie“ hat sich seit Barthes Beobachtungen wenig verändert, die Stars 1955 (zum Beispiel das „gefürchtete Phantom“ Coppi oder Gaul, der „Erzengel des Gebirges“, der „Rimbaud der Tour“) haben ihre Nachfolger gefunden (zum Beispiel Armstrong, Ullrich), Doping und Wassertragen wurden effizienter.

Danquart hatte Glück bei seiner Höllentour: Kein Drehbuch hätte die Dramaturgie besser planen können als die Realität der Tour 2003: Komatöse Bergkämpfe, spektakuläre Massenankünfte, Jan Ullrichs Sturz im Regen-Zeitfahren. „Es war vollkommen unberechenbar“, sagt Pepe Danquart über seinen Film und seine Odyssee, „das größte Unterfangen, das ich jemals gestartet habe. Im Grunde war alles verboten, und das Objekt der Begierde war ständig unterwegs. Die Tour ist ein ungeheuer komplexes Unternehmen, das etwa 15 Millionen Leute auf die Straße bringt. Allein 4.500 Menschen sind täglich mit Autos als Begleiter auf der Straße. Du musst ständig genau überlegen, wo du stehen willst; bei einer falschen Entscheidung ist in Sekunden alles vorbei, und du hast gar nichts.“ So ähnlich geht es auch den Rennfahrern. Schlecht im „Peloton“ positioniert, nicht rechtzeitig mit ausgerissen, und schon ist ein Schüppel Konkurrenten weg. Bleibt nur die Hoffnung, sie beim nächsten Anstieg wieder einholen zu können. Die wahren Helden in Danquarts Höllentour sind die Freunde Erik Zabel und Rolf Aldag: Selten hat man Sportsmänner so offen über ihre Angst vorm Versagen sprechen gehört.

Das Prinzip Täuschung

Je schneller sich ein Rad bewegt, desto unklarer wird für das Auge des Betrachters, in welche Richtung es sich dreht. Dasselbe Prinzip liegt vielen Filmtricks zu Grunde, mit denen das frühe „Kino der Attraktionen“ die Schaulustigen wie in den Zirkus lockte. Film heißt 24 Bilder pro Sekunde. Wenn alle Speichen gleich aussehen, hängt es von der Änderung der Drehgeschwindigkeit und vom subjektiven Empfinden ab, welche Drehrichtung man wahrzunehmen glaubt.

(Optische) Täuschungen gerinnen zu subjektiver Realität, Phantasien werden Wirklichkeit. So geht es auch Jojo in Ruzowitzkys Fahrradbotenposse Tempo. Gerade war er noch als Postillion d’Amour unterwegs, da findet er sich plötzlich als Drogenkurier missbraucht. Am Ende wird Jojo nur ein paar Blessuren davongetragen haben, wir aber wissen: Filmschauen und Fahrradfahren machen süchtig.

Fahrrad-Momente im Film
Text ~ Michael Pekler

Butch Cassidy and the Sundance Kid (USA 1969, George Roy Hill)

„Do you know what you’re doin’?“, fragt Kathy Ross, und Paul Newman antwortet wahrheitsgetreu: „Theoretically.” Es ist früh am Morgen, und Ross ist an der Seite von Robert Redford aufgewacht. Das Sonnenlicht bricht durch die kleinen Fenster hindurch, und draußen gurkt Newman auf einem Fahrrad herum. „Meet the future“, sagt er zu Ross, als sich diese auf die Lenkstange setzt, weil theoretisch weiß Newman ja, wo’s langgeht. Es folgt eine jener Szenen, die man auswendig kennt und dennoch immer wieder sehen will: Burt Bacharachs Raindrops Keep Fallin’ On My Head begleitet die Bilder, die Conrad Hall aus der Scheune heraus im Gegenlicht fotografiert. Schnell unter dem Apfelbaum hindurchgefahren, ein kurzer Ausflug ins Heu, eine akrobatische Einlage. Am Ende liefert Newman Ross natürlich wieder vor der Haustür ab, dort, wo sie hingehört. Doch das ganze Leben an der Seite Redfords ist nichts gegen diese drei Minuten, und alle wissen es.

E. T. – The Extra-Terrestrial (USA 1982, Steven Spielberg)

Das Ding mit den Kulleraugen will einen ganzen Film lang nach Hause, doch die Welt der erwachsenen Menschen ist dagegen. Die Kinder jedoch wollen ihn zurück auf die Lichtung bringen, wo das Raumschiff landen und ihn heimfliegen soll, und tatsächlich sind die wendigen kleinen Fahrräder den großen Automobilen überlegen, die auf ebenso große Straßen angewiesen sind. Und als es doch noch knapp wird, folgt die Szene des Films, ja vielleicht die Szene der 80er Jahre im Kino: Vor der riesengroßen Mondkugel heben die drei Fahrräder ab und die Kinder fliegen durch die Luft. Eine typisch amerikanische Kleinstadt hinter sich lassend – wer möchte das nicht? Der Außerirdische wird es schaffen, sein Schöpfer es zumindest versuchen, obwohl es ihm, wie wir wissen, nie gelingen wird. Aber wenigstens diese Szene wird völlig zu Recht zum Logo seiner Produktionsfirma werden.

Pee-wee’s Big Adventure (USA 1985, Tim Burton)

De Sicas Fahrraddiebe, gesehen durch die imaginäre rosarote Riesenbrille des Tim Burton: Paul Reubens als Pee-Wee Herman hat nur eine einzige große Liebe, und die ist sein Fahrrad. Nein, kein gewöhnliches Fahrrad, sondern ein rotes Super-Fahrrad mit blitzenden weißen Reifen. Doch natürlich wird es ihm gestohlen, dem armen Kindmann, und die Rückholung kann, nein muss beginnen. Was folgt, ist ein einziges (auch dramaturgisches) Durcheinander, das den Spaß indes nicht schmälert. Das Fahrrad nicht als Arbeitsgrundlage zu sehen, sondern als Fetisch, das passt wunderbar zu Burton. Denn einer einzigen Idee nachzuhängen oder in diesem Fall besser: nachzuhecheln, bleibt immer etwas Gutes. Kinderfahrrad hin oder her.

El Viaje / Die Reise
(Argentinien/Frankreich 1992, Fernando E. Solanas)

Wer wirklich auf der Suche nach etwas ist, muss zu Fuß gehen oder wenigstens mit dem Fahrrad fahren: Natürlich, Südamerika ist groß und seine Durchquerung auch mit dem Motorrad anstrengend genug (wie es der junge Che vorgemacht hat), doch Fernando Solanas weiß, dass man selbst in Bewegung sein muss, um die wirklich wichtigen Erfahrungen des Lebens zu machen. Von Feuerland, dem südlichsten Zipfel des Kontinents, aus bricht der junge Martin auf, um seinen Vater zu suchen – und die Schönheit des Lebens zu finden. Das kann der Poetische Realismus am besten: Dinge sehen, die gar nicht wahr sind, aber alle glauben machen, dass sie wahr sein könnten.