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Patric-Chiha
Patric Chiha © Elsa Okazaki

Interview

Das Gegenteil von Kategorien

| Jakob Dibold |
Regisseur Patric Chiha im ausführlichen Gespräch über seinen fabulösen neuen Film „Das Tier im Dschungel“ und seinen Zugang zum Medium Kino.

Das folgende Interview ist die Langversion des Interviews aus der ray-Ausgabe 03/23. Die Filmrezension finden Sie im aktuellen ray 09/23 sowie hier.

 

„Das Tier im Dschungel“ ist eine Literaturverfilmung, erzählt von Sehnsucht und einem besonderen Ereignis, einer Sache, die schlussendlich doch etwas Menschliches ist. Gleichzeitig ist es ein Film über den Club als sich der Welt entziehender Raum. Warum wollten Sie diesen Ort miteinbringen?
Patric Chiha: Der Club war eigentlich der Schlüssel zu diesem Film. Die Kurzgeschichte von Henry James kenne ich schon sehr lange, sie war lange schon um mich herumgeschwebt. Ob es das Warten war, dieses Paar, das Mysteriöse … sie hat mich nie losgelassen, war immer in mir. Eines Tages in Paris, am Fußweg nach Hause, ist es mir klar geworden: Der Film muss in einem Club spielen. Als ich dann gleich meine französische Produzentin anrief, hat die erstmal gelacht. Wenn man die Geschichte kennt, weiß man, wie wenig Story in diesem Text eigentlich steckt, dass er alles andere als einfach zu verfilmen ist und auch, wie wenig er mit Clubs oder der Nachtwelt zu tun hat. Aber das war der Schlüssel – was natürlich im Nachhinein leichter zu sagen ist. Am Anfang war es ein Gefühl, eine Idee. Die Idee vom Club als einem Ort, an dem man das Leben vielleicht mehr lebt, als ob in der Künstlichkeit des Clubs das echte Leben stecken würde. Und der Club ist natürlich auch ein Theater – wir kennen das alle, wir sind einerseits Tanzende als auch Zusehende. So entstand die Idee dieses Balkons, diese erste Etage, von der May und John hinunterblicken und von wo aus sie warten. Im Club ist man eigentlich auch immer in der Gegenwart, es herrscht eine endlose Gegenwart. Man tanzt, um zu tanzen, ist da, um da zu sein. Und meistens sind die guten Abende ja die, an denen man kein Ziel hat, da liegt die Freude ganz im Jetzt. Dieses absolute Jetzt macht die immense Energie eines Clubs aus. Gleichzeitig gibt es aber Melancholie, denn dieses Jetzt gibt es im Leben nicht, man ist ja immer mit einer Vergangenheit verbunden und will in eine Zukunft. Auch mit dem Tod hat dieses Jetzt zu tun, weil es die Zeit quasi anhält. Es kam der Punkt, an dem ich verstanden habe, dass es sich hier um eine Geschichte zweier Menschen handelt, die versuchen, aus der Zeit herauszukommen, den Tod zu vermeiden. Das Zeitlose im Club hat schließlich auch mit einer Art endloser Jugend zu tun. Ohne den Club hätte ich diesen Film jedenfalls nicht gemacht, diesen Stoff nicht verfilmen können. Auch als ich dann zu meiner ersten Drehbuchautorin Axelle Ropert – die ich noch nicht gekannt hatte; sie ist auch Regisseurin und ich kannte ihre Filme – gesagt habe, ich würde gerne „Das Tier im Dschungel“ verfilmen und dabei gerne mit ihr arbeiten, wollte sie erst nein sagen, weil sie keinen 19.-Jahrhundert-Kostümfilm machen wollte – und ich als ich ihr dann gesagt habe, dass der Film im Club spielen soll, wurde sie neugierig.

Die Moral bei Henry James liegt darin, dass John in seinem Warten das Eigentliche verpasst. Wenn man sich einer Sache voll hingibt – Stichwort Rave als Lifestyle –, verpasst man ja unweigerlich „das Andere“. Im Film bringt das Pierre, Mays Ehemann ein, als er John sagt, dass er ohne Club eigentlich nichts ist, nichts hat. Wie sind Sie an diese Spannung des Verpassens herangegangen?
Patric Chiha: Grundsätzlich ist das ganz einfach: Jedes Leben ist das Verpassen eines anderen Lebens. Die Kurzgeschichte finde ich auch deshalb so toll, weil sie etwas tief Menschliches erzählt, über das wir eigentlich nur selten sprechen: Was bedeutet es, ein bestimmtes Leben zu wählen? Welche Rolle spielen unsere Ängste, etwas zu verpassen, oder neben unserem Leben zu leben, so wie John? Wir kennen diese Fragen aber alle, im Grunde führen wir jeden Tag einen Kampf damit, wir kennen sie sowohl aus unseren Liebesgeschichten als auch aus unserer Arbeit, unserem Alltag. Die Geschichte ist ganz einfach, ganz klar, wir können uns alle darin erkennen – das allein aber ist kein Grund, einen Film über etwas zu machen. Das Tier im Dschungel ist wie ein altgriechischer Mythos, klar und doch mysteriös. Was ist dieses Tier? Was ist die Gefahr, die da lauert? Aber eben auch: Was verpassen wir, wenn wir etwas verpassen? Genau dort, wenn es im Leben oder in einem Roman so etwas gibt, das ich nicht genau benennen oder erklären kann, fängt bei mir die Lust zu filmen an. In dieser Geschichte ist etwas unheimlich, unklar, und doch spricht es direkt von uns Menschen – also schauen wir genau hin. Wahrscheinlich gehöre ich generell zu den Regisseuren, die wenig zu sagen haben und gerade deshalb Filme machen, weil sie etwas nicht benennen können.

Vielleicht ist es aber die Ironie des Buches, und ich hoffe auch des Films, dass schlussendlich doch alles erlebt wurde, es ist eine Liebegeschichte. Jedenfalls May hat sie erlebt. Das ist noch einmal ein anderer Schlüssel zu diesem Film. Die Frage nach der Moral haben wir uns so nicht gestellt, jedoch wurde uns früh klar, dass in der Verfilmung auf eine Art und Weise May die Hauptfigur ist. Der Film geht von ihr aus. Und ich selbst bin auch eher wie May. Sie sagt, dass sie es mag, wenn das Leben wie ein Roman ist – sie will etwas Größeres, ein anderes Leben, etwas Extravagantes, jedenfalls irgendwie mehr. Und dann kommt da eben dieser Mann und schlägt ihr ein größeres, ein verrückteres Leben vor. Beide träumen von etwas Größeren, doch sie sind darin asynchron, die verstehen die Sache nicht im gleichen Moment und verpassen einander. John versteht erst, nachdem es zu spät ist.

Wenn Sie sagen, Sie sind wie May, bietet es sich an, etwas Generelles zu Ihrem Filmschaffen zu fragen. In Ihrem vorigen Film „Si c’était de l’amour“ (2019) fragen die Performenden (der Film begleitet das Stück „Crowd“ von Gisèle Vienne, Anm.) einander: „Was bringst du aus deinem Leben mit?“ Was bringen Sie in Ihre Filme mit?
Patric Chiha: Ich überlege, wie ich aus der Frage herauskomme (Lacht.) Zum ersten Punkt, also was ich damit meine, ich sei wie May: Ich habe das schon während des Drehs oft gesagt, wahrscheinlich strahle ich auch am Set und in meiner Arbeit viel aus, das ebenso Mays Charakter auszeichnet: Ich bin neugierig, exaltiert und bringe eine gewisse Energie mit, eine Freude an den anderen, eine Freude daran, mit ihnen zu spielen, zusammen zu spielen. Das Fröhliche von May, die Einstellung, dass doch alles möglich ist, und wir aus dem Leben doch ein Spiel machen können. In Si c’était de l’amour gibt es ja auch die umgekehrte Frage: Was nehme ich von der Bühne ins Leben mit? Das geht in beide Richtungen. Und dieses Spielerische oder diesen Glauben ans Kino und die Künstlichkeit des Kinos als Mittel, um zu einer Wirklichkeit zu kommen, zu einem Gefühl von Leben zu kommen, das habe ich im Laufe der Jahre verstanden. Vielleicht bin ich auch erst zu May geworden. Wenn man jung ist, in den ersten Filmen, da will man noch zeigen, was man kann, was man sagen will, wie man es machen will, Beherrschung und Wille sind anfangs sehr wichtig. Von Film zu Film wird der Wille weniger wichtig für mich – mir geht es fortlaufend weniger darum, was ich will, sondern darum, was wir zusammen erleben. In diesem Sinne verhalte ich mich wie May hinsichtlich des Tiers im Dschungel: Sie hat keine Ahnung, was sie will, involviert sich aber vollkommen. Die Frage nach Leben und dem ständigen Spiel mit dem Leben – da kommt man wieder zum Club zurück, sind wir im Club echt oder spielen wir? –, das ist eine interessante Frage für mich.

Um es noch konkreter zu sagen: Mein Bezug zu Kino und Regie ist wahrscheinlich der gleiche wie zu den Menschen und zum Leben, ich würde das nicht trennen. Regisseur und Zuschauer sein ist auch beinahe dasselbe, das habe ich vor allem bei der Arbeit an Brüder der Nacht gelernt, den ich in Wien gedreht habe. Die Menschen, die ich dort gefilmt habe, habe ich bald sehr gemocht und ich habe ihren Gefühlen vertraut und darauf, wo sie mich hinführen – da bin ich zum Zuschauer geworden. Natürlich mache ich ein paar Dinge am Set und schneide den Film, aber eigentlich suche ich Emotionen, die mich überraschen. Und das trifft auch auf die Rolle als Zuschauer zu: Wenn ich im Kino sitze und einen Film anschaue, ist eine echte Emotion eine Überraschung, etwas, das ich nicht vorhergesehen habe, das nicht programmiert wurde, das mir nicht vorgeschrieben wurde. Etwas, das mir erlaubt, die Welt und die Menschen neu und anders zu sehen und doch als Menschen zu erkennen … Diese Art der Überraschung ist sehr wichtig. Das habe ich bei Brüder der Nacht verstanden: Heißt Regie nicht einfach – wir sind wieder bei May –, so offen wie möglich für Überraschungen zu sein? Im Schnitt lassen sich diese Überraschungen dann organisieren, sodass man sie mit anderen teilen kann. Bemerkenswerterweise war es der Dokumentarfilm, der mir die Sicherheit und das Gefühl wieder bestätigt hat, dass man im Spiel, in der Künstlichkeit des Kinos eine Wirklichkeit finden kann.

Heißt das, dass eine bestimmte Künstlichkeit und Mystik für Sie Voraussetzungen sind, um Kino in den Ort einer überraschenden, wenn nicht sogar überwältigenden Realität zu verwandeln?
Patric Chiha: Zunächst möchte ich sagen, dass „Das Tier im Dschungel“ für mich auf jeden Fall mit Kino an sich zu tun hat, sonst hätte ich mich gar nicht getraut, es zu verfilmen. Als Filmliebhaber wissen wir genau, worum es geht, worauf wir im Kino warten: Darauf, dass auf der Oberfläche etwas erscheint, ein Tier im Dschungel uns aus der Leinwand heraus anspringt. Wir gehen ins Kino, um etwas Größeres zu erleben als uns selbst, ein anderes Leben zu erleben. Die Filme, die ich wirklich mag, geben mir dieses Gefühl. Wir gehen mit einer gewissen Erwartung ins Kino, und die großen Filme sind die, die uns damit überraschen, uns mit diesem Gefühl beinahe erschrecken. Und auch May und John sind gewissermaßen im Kino, sind Zuschauende – wie wir in Clubs es eben sind, wenn wir etwa im Berghain oben auf den Treppen stehen und hinunterschauen und die Szenerie durch das Licht wie eine Leinwand wirkt und wir Geschichten auf die Gesichter der Leute projizieren.
Ich habe für mich verstanden, die Künstlichkeit des Kinos immer mehr zu akzeptieren. Es ist doch die künstlichste Kunst, die es gibt: Wir zerschneiden die Zeit und den Raum, und es ist eigentlich alles „falsch“ – das merken wir als Menschen, wenn wir gefilmt werden. Sobald ich gefilmt werde, bin ich schon nicht mehr ich, spiele ich schon. Ich mag auch Filme sehr – Fassbinder, Douglas Sirk, Todd Haynes wäre da eine Linie –, die ihre Mittel zeigen, ihre Werkzeuge ein Stück weit offenlegen. In meinen letzten Filmen zeige auch ich, glaube ich, sehr wohl, wie das Licht funktioniert und welche Mittel ich sonst verwende, etwa Rauch, Kamerabewegungen, Musik oder plötzliche Stille. Es geht mir also darum, die Künstlichkeit des Kinos zu akzeptieren und mit ihr zu spielen. Wie wir es auch mit der Künstlichkeit des Ortes Club tun. Und vielleicht erscheinen wir am Ende der Nacht, am Ende dieses Spiels wieder als Menschen, wieder ganz „nackt“. So wie bei Kindern, die sich verkleiden, auch da erzählt die Art und Weise, wie das Kind in seiner Verkleidung agiert, sehr viel von ihm selbst.

Man kann „Das Tier im Dschungel“ dementsprechend auch stark als selbst-reflexiv in Bezug auf Ihr Filmemachen lesen: Der Wille weicht einer Neugier und ein Vertrauen darauf, dass etwas erlebt, erschaffen werden wird. Was nun öfters fiel, ist der Begriff des Spiels: Spielerisch eine Wirklichkeit erlebbar machen, und auch die Kraft des Spielens im Realen. So kommt man zur Figur von Béatrice Dalle, sie ist ja eine Art Spielleiterin – einmal wollen May und John aus dem Club, ihrem Refugium, ausbrechen und sie holt die beiden wieder zurück; dabei betont sie, dass es hier doch alles gäbe. Sie ist über den Dingen, in Kontrolle. Eine bemerkenswerte Entwicklung oder Umkehr gegenüber ihrer Figur in Ihrem ersten Langfilm „Domaine“, wo sie eine Mathematikerin, eine Person der Ordnung spielt, der ihre Ordnung verloren geht. Die Arbeit mit ihr scheint sehr vielschichtig.
Patric Chiha: Béatrice Dalle bewundere ich schon seit langer Zeit, sie ist eine meiner Lieblingsschauspielerinnen in Frankreich und ich finde, sie hat eine ganz spezielle Filmografie, mit ganz verschiedenen, tollen Filmen. Bei der Arbeit an Domaine war ich ein junger Regisseur, wir haben uns in einem Kaffeehaus oder Hotel getroffen und sie sagte sofort: „Ich lese keine Drehbücher. Erzähl es mir in zehn Minuten, wenn du willst.“ Ich war noch sehr schüchtern damals und spielte ihr also in zehn Minuten den Film vor. Ich versuchte nicht, ihr etwas zu verkaufen, sondern ihr das Herz des Films zu vermitteln. Und sie sagte dann: „Ja, super. Den machen wir.“ In Domaine geht es um Ordnung, Unordnung, Mathematik, Alkohol … beim Dreh mit Béatrice Dalle habe ich natürlich sehr viel gelernt, und auch ihre Idee, keine Drehbücher zu lesen, fand ich grandios, das ist wohl eine der besten Ideen überhaupt. Sie weiß, dass das Herz eines Films nicht im Drehbuch steht. Dass es eine Frage der Beziehung und des Vertrauens ist. Dieses Vertrauen, das wir nun haben, half uns dabei, die Figur der Türsteherin in Das Tier im Dschungel zu entwickeln, die ja auch eine Hommage an Béatrice Dalle selbst ist – das Strenge, diese schwarze Kutte von Yves Saint Laurent … Alles sehr symbolisch und metaphorisch, aber wofür oder wovon, bleibt offen, das weiß ich selbst nicht. Vielleicht ist sie der Tod, vielleicht ist sie die Regisseurin des Ganzen? Sie scheint allwissend, doch man weiß nie, was oder wie sie denkt. Das liebe ich an ihr: Wenn man ihr Gesicht sieht, spürt man, dass da viel gedacht wird, aber was es genau ist, das ist nicht so wichtig.

Über das Spiel haben wir sehr viel gesprochen, mit Béatrice Dalle, mit Anaïs Demoustier, mit Tom Mercier und auch den meisten anderen. Es sollte immer alles ein bisschen zu viel sein, mit ein bisschen Übertreibung. In den ersten Proben mit Anaïs haben wir zum Beispiel Modefotografien aus den Vierzigern nachgestellt, sehr komplizierte Posen, die man kaum halten kann. Also, ich arbeite mit den Darstellenden eigentlich nie zum Sinn eines Films, das könnte ich auch gar nicht. Wenn ich ihnen einen solchen erklären würde, würde ich lügen – ich suche ja nicht das, was ich erklären kann, sondern genau das Gegenteil: Mich interessiert das, was ich nicht erklären kann. Daraus ergibt sich dann eine sehr physische Arbeit, das haben auch alle verstanden, weil wir im Club in der Nacht ja ohnehin alle immer übertreiben. An dieser Grenze zum falschen Spiel zu arbeiten, das war besonders aufregend bei diesem Dreh.

Weil Sie von neugierigem Zuschauen und gemeinsamem Erleben sprechen: Man könnte in ihren filmischen Arbeiten eine Art Queer Gaze ausmachen, in „Domaine“ (2009) und „Si c’était de l’amour“, am deutlichsten sicher in „Brüder der Nacht“ (2016), zu dem Sie sicher schon oft über die Verbindung zu Fassbinder gefragt worden sind. Häufig, und auch in ihrem neuesten Film, sind es die Raumstimmung und die Lichtsetzung, die markant sind – die Beleuchtung erinnert oft an die Ästhetik der Ballroom-Bewegung.
Patric Chiha: Die Frage nach einem Queer Gaze kenne ich natürlich und ich verstehe sie auch. Nur, kann man seinen eigenen Blick analysieren? Ich schaue, nehme auf, filme, schneide, natürlich denke ich da immer mit – aber analysieren, wie ich die Welt anschaue? Ich glaube, dann könnte ich nicht mehr filmen. Jedenfalls, es gab einen besonderen Moment in meinem Leben, ich war fünfzehn, es war 1990 und mein Stiefvater sagte, im Filmcasino läuft ein Film, der dich interessieren könnte, gehen wir da hin. Ich lebte damals in Wien, habe mich sehr für Mode interessiert, wollte Modedesigner werden, und ging auch selbst schon gern ins Kino. Als wir ins Filmcasino kamen, waren ganz spezielle Leute da, ich erinnere mich an eine Frau in schwarzem Leder, einen Mann in einem Frauenkleid … Damals verstand ich nicht ganz, was los war, mein Stiefvater auch nicht; heute verstehe ich es natürlich vollkommen, es war ein queeres Festival. Der Film, der lief, war Paris Is Burning von Jennie Livingston. Ich habe ihn seither auch wieder gesehen, ich weiß zwar nicht, ob es ein großer Film ist, damals hat er mich aber sehr beeindruckt. Er hatte alles, was ich vorhin beschrieben habe: eine einzige, riesige Überraschung, große Emotion, die Erkenntnis, dass es diese Welt gibt und gleichzeitig das Gefühl, dass ich in dieser Welt leben will, dass es vielleicht auch meine Welt ist. Du hattest Ballroom ja explizit angesprochen. Wahrscheinlich ist mir viel davon geblieben, ein Hinterfragen gesellschaftlicher Strukturen, um sich selbst zu finden; der Glaube daran, dass durch Spiel und Kino und künstliches Licht vieles möglich ist; dass wir nie etwas bloß darstellen. Ich habe noch nie jemanden gefilmt, um etwas über ihn zu sagen, ich möchte mich vielmehr in den Menschen verlieren, in ihren Konstellationen, darin, wie sie die Welt für sich neu erfinden. Vielleicht ist das ein Queer Gaze – daran zu glauben, dass alles möglich ist, alles immer in Bewegung ist. Und bezüglich der Frage der Identität, die ich schwierig finde, aber wohl in meinen Filmen immer wichtig ist, vorzuschlagen, dass wir verschiedene Identitäten haben und das Identität etwas Fluides ist. Bei Brüder der Nacht ist das offensichtlich, sie sind das Eine und das Andere, Kinder und Männer, Stricher und Kunden … Diese Ambivalenz der Dinge hat mich danach auch an Gisèle Viennes Stück „Crowd“ so interessiert: Was ist das Spiel, was ist erlebt, was ist die Kunst, was ist das Dokumentarische, was die Fiktion? Natürlich hat man mich oft auf Fassbinder angesprochen, Brüder der Nacht war ja auch eine klare Hommage. Einerseits weil die Bar, in der ich die jungen Männer kennengelernt habe, jener in Querelle sehr ähnlich ist, andererseits war Fassbinder für mich generell eine Entdeckung einer anderen Welt, die ich aber als meine erkenne, in ihrer Schönheit und in ihrer Brutalität. Fassbinder selbst hat – ohne schlecht zitieren zu wollen – einmal in etwa gesagt, dass jeder Film wie ein Haus ist und es eben Häuser gibt, in denen man gerne lebt. Und ich lebe gerne in den Häusern von Fassbinder.

Eigentlich wollte ich noch fragen, ob Sie ein solches queeres Schauen ganz bewusst planen, ob man das exakt vorbereiten, sich zum Ziel setzen kann, während man es auch so benennt …
Patric Chiha: Ich muss sagen, dass ich immer weniger plane. Bei der Arbeit an Das Tier im Dschungel hatte ich zwar gewisse Ideen und Vorstellungen, aber im Grunde war ich DJ. Meine Editorin Karina Ressler musste bei den Rushes (Sichtung von Rohmaterial eines Drehtags, Anm.) oft lachen, weil alles voller Musik war. Man hörte mich dauernd Platten auflegen. Ich war eigentlich ein Stimmungsmacher, wie ein DJ. Ein DJ entscheidet nicht, wie ich mich im Club fühle, aber er gibt doch einen Raum aus Klang vor, in dem ich Gefühle haben kann. Regie-Arbeit ist auch so: es wird beleuchtet, frisiert, geschminkt, angekleidet, rundherum beschallt, alles ausgestattet, alles vorbereitet, damit dann etwas passieren kann. Wir sind Stimmungsmacher. Auch das habe ich bei Brüder der Nacht erst so richtig verstanden: Ich sitze oder stehe zwar da, habe zwar nicht viel zu sagen, aber doch eine gewisse Energie. Ich möchte dafür sorgen, dass das Fest stattfinden kann, dass die Menschen, die ich filme, aufblühen können und sich etwas trauen. Das Licht ist dabei etwas ganz Wichtiges. Es geht mir nicht darum, schöne Bilder zu machen, das ist leicht, das Licht soll für die Person, die gefilmt wird, eine Einladung sein, dass es hier nicht um Realität geht, nicht darum etwas zuzugeben – das war bei Brüder der Nacht besonders wichtig –, dass man lügen darf, etwas erfinden, sich selbst erfinden darf. Wenn ich jemanden rosa beleuchte, hat die Person nicht mehr das Gefühl, dass die Kamera einem Polizisten ähnlich etwas von dir verlangt, sondern es gibt eine Einladung: Lasst uns doch spielen. Was passiert, wenn wir uns neu erfinden? Diese Künstlichkeit des Spiels deckt dann doch wieder uns auf, das interessiert mich sehr.

Sie haben selbst Platten aufgelegt während des Drehs, im Gegensatz etwa zu „Si c´était de l’amour“ / „Crowd“ ergreift hier aber (beinahe?) ausschließlich eigens komponierte Musik den Raum, stimmt das? Auch dies zum Zweck des Betonens der Künstlichkeit?
Patric Chiha: Fast die gesamte Musik wurde von Dino Spiluttini und Yelli Yelli komponiert, zwei genialen und sehr unterschiedlichen Musikern. Ich wusste von Anfang an, dass ich im Film niemals Hits verwenden wollte – ich habe das Gefühl, dass sie immer die gleiche Emotion erzeugen, eine Emotion des Wiedererkennens. Ich träumte davon, dass man sich in der Musik verliert, in ihr „schwimmt“, sich an Klangempfindungen erinnert … Die Musiker hatten ein Jahr lang gearbeitet. Es ist sehr schön, was sie gemacht haben.

Es ist auch eine spannende Frage, wie man Ekstase inszeniert, weil man jedes Loslassen ja doch auch strukturieren muss.
Patric Chiha: Das ist eine Frage des Vertrauens. Wenn ich jemandem sage, „Sei locker, hab einfach Vertrauen“, dann spürt die Person, dass ich etwas von ihr will. Loslassen ist nur möglich, wenn wir uns einig sind: Wir wollen nichts, es gibt kein Ziel. Deshalb hat für mich Regie auch sehr wenig mit Wille zu tun. Ein Beispiel ist die Szene in Das Tier im Dschungel, als sich Leute auf der Tanzfläche übergeben. Im Drehbuch stehen da vielleicht fünf Zeilen, niemand wusste genau, was wir da machen werden, ich auch nicht. Aber ich spürte, es ist eine der wichtigsten Szenen des Films. Anaïs war dann verblüfft, wo es hinging, sie hat losgelassen und sich der Musik, der Stimmung hingegeben, auch Tom konnte vollkommen loslassen, bei ihm hat es zu einem Schrei geführt.

Regie hat einfach sehr wenig mit Zielen zu tun. Natürlich plane ich Dinge, wir müssen in gesetzten Zeiträumen arbeiten, ich plane, weil es von mir erwartet wird. Aber eigentlich tue ich mehr so, als ob ich planen würde. Das erwarte ich mir auch als Zuschauer: Was der Regisseur will, kann mir egal sein, mich interessiert, was auf der Leinwand passiert, was mich bewegt.

Trotzdem ergeben sich kleine Ordnungen in Ihren Filmen, die auch der Mathematikerin in Domaine vielleicht gefallen würden, Abläufe und Elemente, die man in aufeinanderfolgenden Filmen Ihres Werks findet: „Domaine“ beginnt am Fluss, mit Tanz, in einem ganz anderen Kontext beginnt „Brüder der Nacht“ ebenfalls am Wasser, später gibt es dort die Dusch-Show im Café Rüdiger. Dann am Anfang von „Si c’était de l’amour“ diese Umkehr: Ein Mann hinter der Bühne bewässert die Performenden, die dann aus dem Bild in ihre große Perfomance gehen. Am Ende sind dort dann Archivaufnahmen von Club-Szenerien zu sehen – und die Anfangssequenz von „Das Tier im Dschungel“ erinnert erst auch an Found Footage. Passieren solche Dinge einfach oder steckt da doch Planung oder zumindest eine Logik dahinter?
Patric Chiha: Ich spüre wieder zwei Fragen und antworte zunächst bezüglich des Wassers. Es gibt sehr oft oder immer Flüsse und Wasser in meinen Filmen, den Grund verstehe ich nicht vollständig. Vielleicht hat Wasser einfach mit Bewegung zu tun, dem Tanz, dem Physischen. In meinen Filmen wird auch viel gesprochen, aber man sollte sich nicht täuschen – es geht nicht so sehr darum, was gesagt wird, auch die Sprache ist bei mir vielmehr Aktion, eine Bewegung. Und die Emotionalität von Bewegung ist ja an sich etwas sehr Großes im Kino. Denken wir nur an die Gebrüder Lumière und ihren Zug, der in den Bahnhof einfährt. Man erzählt immer, dass die Zuschauer aus Angst, überfahren zu werden, aus dem Saal gerannt sind. Ich halte das für etwas absurd, aber vielleicht war die Emotion vor dieser Bewegung so groß, die Schönheit dieses Zuges, der einfährt, dass sie überwältigt hinausgelaufen sind. Im Kino funktioniert die Bewegung ohne Sinn; der Zug sagt uns nicht wirklich etwas, ein Fluss, der fließt, sagt uns auch nichts, von einer Tanzszene erwartet man es ebenso wenig. Auf Englisch ist dieser Gedanke ganz klar: motion ist emotion. Deshalb filme ich so gerne Tanz, vielleicht auch Wasser, oder Menschen, die gehen. In meinen Filmen wird viel gegangen, darauf vertraut, dass die bloße Schönheit der Bewegung etwas vom Leben erzählen kann.

Zur Arbeit mit Found Footage: In Si c’était de l’amour ist es ganz speziell, dort sind es Bilder aus dem Paris Ende der Achtziger, keine Raves, sondern die ersten House-Partys in Clubs. Die erste Szene in Das Tier im Dschungel haben wir an einem Ort gedreht, den ich sehr, sehr gut kenne, im Süden Frankreichs, wo jeden Sommer auf einem Parkplatz dieses Fest stattfindet. Es ist ein ganz einfaches Sommerfest, aber ich liebe es über alles und träumte davon, dass es in meinem Film vorkommt. Natürlich war nichts inszeniert außer der junge Bursche und das junge Mädchen, die hatten wir zwei Stunden davor am Strand gefunden und gefragt, ob sie das spielen wollen. Es war ein grandioser Abend, denn sobald eine Kamera da ist, ist die Stimmung noch aufgeheizter, aufgeregter.

Auf beide Themen bezogen kann man sagen, dass die Inszenierung von Zeit im Kino ja eine zentrale Rolle spielt, und auch mich sehr beschäftigt. Alle Filme, die mich interessieren, zeigen die Zeit immer auf eine ganz spezielle Art und Weise, erfinden ihre Darstellung neu. Mich interessiert die Zeit vor allem als Schleife – wie anfangs über den Club gesagt als endlose Gegenwart; aber auch der Moment, in dem die Zeit zurückkommt, oder die gleiche scheint – etwa in Bildern der Achtziger, die auch von heute sein könnten. Das bringt uns zur ersten Frage zurück, zum Phänomen des Clubs als Illusion davon, wie wir aus der Zeit ausbrechen können; dass wir dem Leben wie auch dem Tod entrinnen können.

Was bedeutet Außenwirkung überhaupt für Sie, auch in Bezug auf andere Filmschaffende und die Frage der Inspiration? Ihre Filme wirken in mehrfacher, positiver Hinsicht ziemlich eigensinnig.
Patric Chiha: Es ist wirklich seltsam: Wenn man einen Film macht, glaubt man immer, man macht den normalsten Film der Welt. Ich habe immer das Gefühl, dass ich fast Fernsehfilme mache. Meine Produzentin lacht dann und verneint, davon seien wir weit entfernt. Aber es ist so, ich stelle die Welt nicht komisch und seltsam dar, ich zeige eine Welt, die ich erkenne, die mir normal erscheint. Wenn man die Filme dann zeigt, passieren Dinge, dann versteht man: Aha, das überrascht Leute, das verstehen sie weniger, das ist ihnen zu brutal, das nervt sie, langweilt sie … Ich denke jedoch immer weniger an die Zuschauer, wenn ich Filme mache. Natürlich hoffe ich, dass der Film bei ihnen ankommt, aber ich kann es nicht kontrollieren. Immer, wenn ich an das Publikum gedacht habe, habe ich mich geirrt, und wenn ich gar nicht daran denke, scheint es zu funktionieren: Brüder der Nacht mochten zum Beispiel Studierende sehr, plötzlich wurde ich an viele Schulen eingeladen, um zu unterrichten oder Workshops zu halten. Dass die junge Generation von Filmschaffenden da so viel findet, was sie interessiert, hat mich sehr überrascht. Ich fand den Film sogar eher altmodisch.

Viele Festivals haben mittlerweile eigene Schienen für sogenannte „queere Filme“, und/oder spezielle Preise dafür. Bei der Berlinale etwa waren Sie bereits zweimal für den Teddy Award nominiert und gewannen ihn für „Si c’était de l’amour“. Wie stehen Sie dieser Herangehensweise gegenüber?
Patric Chiha: In unserer Branche gibt es viele Probleme, viel zu verbessern. Diese Schienen und Festivals haben andere Filmemacher und andere Filme hervorgebracht und dazu beigetragen, dass sich unsere Branche weiterentwickelt hat. Jedoch sind mir Kategorisierungen eher fremd, so geht es wahrscheinlich allen Filmschaffenden. Wie gesagt, man denkt ja, den „normalsten“ Film der Welt zu machen. Die Trennung von Dokumentarfilm und Spielfilm ist zwar nachvollziehbarer, es gibt ja auch Unterschiede in der Finanzierung und Machart. Aber auch dort können die Emotionen, die in mir ausgelöst werden, dieselben sein. Heutzutage gibt es dann noch dieses Wort „hybrid“, das ich ziemlich lächerlich finde. Ist nicht alles in unserem Leben hybrid? Wir sind immer hybrid, zwischen Wirklichkeit und Fantasie, zwischen den banalsten Dingen wie Stromrechnungen und unseren Träumen. Man kann hier vielleicht zum Queer Gaze zurückkommen: Was mich interessiert, sind Möglichkeiten, wo ist Platz für Überraschungen, wo passiert etwas Unerwartetes? Das ist schöner, als die Sache zu kategorisieren und damit zu schließen. Und es gibt ja auch Festivals, die das offener lassen.

Rohmer macht diesen schönen Unterschied zwischen Sagen und Zeigen. Der Filmemacher/die Filmemacherin zeigt Dinge und Filme haben ihr eigenes Leben – und auf dieses vertraue ich sehr. Ich kann nicht wissen, wie mein Film ankommt, ich versuche nur einen Raum für Gefühle zu erschaffen, in dem man sich finden oder verlieren kann.

Sie finden ihren Weg und eigenen Fluss, könnte man sagen. Da ist man auch wieder beim Identitätsbegriff, bei fluiden Identitäten, die in Ihren Filmen auch sehr eindrücklich vorgeschlagen werden.
Patric Chiha: Ganz genau, es geht um das Fluide. Das Gegenteil von Kategorien.