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Das Jahrhundert des Kinos – Geschichte ist Film ist Geschichte

Geschichte ist Film ist Geschichte

| Thomas Hein :: Karin Schiefer :: Verena Teissl :: Andreas Ungerböck :: Roman Scheiber |

Die arte-DVD-Edition „Filmgeschichte weltweit“ kann ihrem Namen kaum gerecht  werden, bietet aber einen brauchbaren Tour d‘Horizon durch einzelne nationale Filmhistorien.

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Die namhaftesten Regisseure für eine weltweite Archäologie des filmischen Gedächtnisses zu gewinnen, war das Ziel des British Film Institute (BFI), als 1995 der 100. Geburtstag des Laufbilds anstand. Namhaft sind die meisten Beiträger der Century of Cinema-Reihe tatsächlich, von Scorsese über Godard bis Oshima, nur mussten die Aus-grabungen aufgrund der Komplexität der vielen verstreuten Fundorte a priori äußerst lückenhaft bleiben. Als Überblick, als Anregung, als Suchentwurf eignen sich die 16 entstandenen Dokumentationen überwiegend. Zehn Jahre nach den hundert Jahren sind sie in einer arte-Edition unter dem Titel Filmgeschichte weltweit als DVD-Sammelbox oder sieben einzeln erhältliche Teile bei absolut Medien erschienen und wirken ein wenig wie der Nachhall zur allmählich wieder verebbenden Kanonisierungswut der vergangenen Jahre. Neben teilweise schlampig übersetzten Untertiteln und insgesamt dürftiger redaktioneller Bearbeitung ist leider auch die fehlende Alternative zu bemängeln, den jeweils erzählenden Regisseur ausschließlich im Originalton zu hören.

The Director‘s Dilemma: USA
Text ~ Roman Scheiber

Im Mai 1975 gewann Martin Scorsese mit Taxi Driver die Goldene Palme von Cannes. Seinem Freund Paul Schrader, dem anderen verhinderten Priester unter Amerikas berühmten Filmemachern, ebnete dieser Erfolg den Weg vom Drehbuchautor zum Regisseur. Scorsese selbst war schon ein Star. Das ist der Grund, warum A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies 1975 endet. Die damaligen jungen Wilden des New Hollywood hatten längst das alte Studiosystem unterwandert und Marty Scorsese wurde allmählich selbst Teil der amerikanischen Filmgeschichte. Weder wollte er sich in seiner Abhandlung mit dem Werk befreundeter Zeit-genossen beschäftigen (Ausnahme: Coppola), noch mit dem eigenen.

Scorsese ordnet seine dreiteilige Lecture nach Themenbereichen. Leicht nachvollziehbar beginnt er mit dem ewigen Streit zwischen Regisseuren und Produzenten, zwischen Visionären und ihren Geldgebern, welche nicht selten zu Verhinderern von Visionen werden. Das rohe Geschäft, in dem sich beide Seiten bewegen, illustriert Scorsese mit Vincente Minellis The Bad and the Beautiful / Die Stadt der Illusionen (1952, mit Kirk Douglas als Produzent). Später schließt er diese Klammer mit Minellis Two Weeks in Another Town (1962, wieder mit Kirk Douglas), für ihn „ein erschreckendes Spiegelbild des Abstiegs Hollywoods in den zehn Jahren zwischen der Entstehung der beiden Filme”.

The Director‘s Dilemma, das Dilemma des Regisseurs zwischen eigenem Experiment und Anpassung an die Wünsche des Studios, zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch Scorseses Reise, die von Gregory Peck, Billy Wilder und vielen anderen begleitet wird. Nach seiner Auffassung mussten amerikanische Regisseure nicht nur Geschichtenerzähler sein, sondern auch „Illusionisten, Schmuggler oder sogar Bilderstürmer”, zumindest sofern sie ihre persönlichen Visionen ausdrücken wollten. Von Griffith, DeMille und Borzage bis zu Fuller, Cassavetes und Kubrick spannt er den filmhistorischen Bogen, präsentiert auch weniger bekannte und B-Picture-Regisseure, zeigt nicht immer nur die naheliegendsten Ausschnitte. Der Cut von Kubricks Historiengemälde Barry Lyndon (1975, die unendlich langsame Verführung der Lady Lyndon durch die opportunis-
tische Titelfigur) zu Cassavetes Faces (1968, die verlassene Ehefrau wird nach einer Überdosis Schlaftabletten von einem jungen Lover wach gehalten) mag kühn wirken, doch für Scorsese sind das die äußere und die innere Komponente der im Kino entscheidenden Kategorie: Emotion.

Der Stummfilmära widmet Scorsese einige längere Strecken, beschäftigt sich mit Drama, Form, Farbe und Technik des Films, mit dem Film Noir und dem berüchtigten Production Code, aber Genres greift er nur drei ausführlicher heraus: Den Western, den Gangsterfilm (sein ureigenes Metier) und das Musical (nicht ohne den Hinweis, My Dream Is Yours von Michael Curtiz habe großen Einfluss auf sein New York, New York gehabt). Anhand dreier Western von John Ford mit John Wayne erläutert Scorsese, wie sich Filmfiguren parallel zur Gesellschaft verändern: Von Stagecoach (1939) über She Wore a Yellow Ribbon (1949) bis zu The Searchers (1956) wird der Charakter der Hauptfigur immer differenzierter und komplexer.

Den riesigen Fundus aus dem größten imaginären Museum der Geschichte auf knapp vier Stunden zu verdichten, bedingt einen persönlichen Zugang und den Mut zur Lücke. Die große Tradition des amerikanischen Gerichtsfilms beispielsweise vermisst man auf der Reise mit Scorsese. Bemerkenswert sind andererseits seine Stationen abseits klassischer Trampelpfade. Das Angstkino eines Jacques Tourneur (Cat People, 1942) bezeichnet er als auf seine Weise ebenso wichtig für die Reifung des amerikanischen Films wie Welles‘ viel zitierten Citizen Kane (1941). Nicht nur Gangsterfilme und prächtige Historien- und Bibeldramen beeindruckten ihn nachhaltig, auch Sam Fullers Shock Corridor (1963), die glasklare Metapher Amerikas als Irrenhaus, oder auch ein kleiner Noir des aus Österreich emigrierten Außenseiters Edgar Ulmer (Detour, 1945). Und selbstverständlich sämtliche Regisseure, die gegen die Zensur zu Felde zogen und Themen wie Rassismus, Gewalt in der Großstadt, Drogen oder Kriegsverbrechen anpackten.

Am Ende seiner Reise würdigt Scorsese in einer Slide Show die naturgemäß sehr vielen nur am Rand oder gar nicht berücksichtigten Filmkünstler – und schlägt schließlich wie gewohnt die Brücke zwischen Kirche und Kino. „Der Glaube und die Filme”, so der verhinderte Priester, „befriedigen die uralte Suche des Menschen nach dem kollektiven Unbewussten.”

Gewalt und Leidenschaft: ASIEN
Text ~ Andreas Ungerböck

Schöner Zufall oder gelungene Absicht, dass man zum Filmschaffen der drei großen ostasiatischen Nationen drei äußerst avancierte und idiosynkratische Regisseure engagierte: Stanley Kwan für China, Nagisa Oshima für Japan und Jang Sun-woo für Korea. Sie bringen sich mit sehr persönlichen Positionen ein, auch wenn die Zugänge unterschiedlich sind. Stanley Kwan referiert in Yang ± Yin das chinesische Kino vor allem entlang von Körperpolitik, Gender und sexueller Identität – ausgehend von der Faszination, die die männlichen Körper der Kampfkunst-Filme der 60er und 70er Jahre während seiner Jugend auf ihn ausübten. Mit diesem Paradigmenwechsel veränderte sich das traditionell sehr an weiblichen Stars orientierte chinesische Filmschaffen nachhaltig. Kwan bietet in der 79-Minuten-Version seines Films eine Überfülle an Beispielen und Interviews – von den großen Klassikern der 30er Jahre bis in die 90er und beleuchtet die auffällige Häufung von bewusst unklaren geschlechtlichen Zuordnungen. Zu Wort kommen praktisch alle großen chinesischen Filmemacher der Gegenwart, von Hou Hsiao-hsien über Ang Lee und Edward Yang bis hin zu Chen Kaige, Wong Kar-wai und Tsui Hark.

Nagisa Oshima, der große Stürmer und Dränger, verzichtet in 100 Jahre japanisches Kino auf Interviews und macht sich auf einen furiosen Streifzug durch die japanische Filmgeschichte. Breiten Raum nimmt, verständlich bei der Position des Regisseurs, die Erneuerungsbewegung der 60er und 70er Jahre ein, die einer von Kriegsschuld und der Demütigung durch die amerikanische Sieger-Politik gezeichneten Nachkriegsgeneration eine wild drängende Jugend gegenüberstellte. Das Individuum und seine Haltung gegenüber Politik und Tradition rückten in das Zentrum, wie Oshima anhand exzellenter Filmausschnitte (auch seiner eigenen Filme) darlegt. Vorrangig von Politik spricht auch Jang Sun-woo, dem 1997 mit Timeless, Bottomless Bad Movie einer der überragenden asiatischen Filme der Dekade gelang. Korea – Kino im Aufbruch erzählt von den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, die Geschichte und Filmgeschichte Koreas prägten: der Widerstand gegen die japanischen Besatzer, die schmerzhafte Teilung des Landes und die Zensur und Unterdrückung durch die jahrzehntelange Diktatur im Wirtschaftswunderland Südkorea.

Aus all den Filmausschnitten auf dieser DVD, das ist die Kehrseite der Medaille, erkennen westliche Filmliebhaber die zutiefst bedauernswerte Tatsache, dass ein ganzer Kosmos voll unendlich faszinierender Filme leider hierzulande – bis auf die gelegentliche Kurosawa-Retrospektive – so gut wie unbekannt ist. Wir wissen jetzt (wieder einmal), dass wir nichts wissen.

Ein Grund zum Feiern? Westeuropa
Text ~ Karin Schiefer

Wenn der britische Regisseur Ken Loach in Cannes die Goldene Palme für einen Film holt, der von Konflikten innerhalb der irischen Unabhängigkeitsbewegung in den 20er Jahren erzählt und als Koproduktion zwischen fünf europäischen Ländern entstanden ist, dann sind schon einige Besonderheiten der nationalen Kinogeschichten auf den Punkt gebracht, die unter dem Titel Westeuropa unter die Lupe genommen wurden. England, Irland und Frankreich hat das BFI ausgewählt, um jeweils einen renommierten Filmemacher  die Entwicklungen des Kinos im eigenen Land skizzieren zu lassen.

Stephen Frears entschied sich in Typisch Britisch für Subjektivität und Gemütlichkeit, plaudert aus der Schulzeit, lässt sich gerne bei seinen Dreharbeiten mit Julia Roberts (Mary Reilly) über die Schulter blicken und setzt sich schließlich mit Kollegen, zunächst dem Kritiker Gavin Lambert und dem Filmemacher Alexander Mackendrick, später mit Alan Parker und Michael Apted an den Teetisch, um über die Zerrissenheit der englischen Filmemacher zu sinnieren: der Wunsch, die eigene Gesellschaft zu thematisieren, lokal ohne provinziell zu sein, reibt sich an den ungenügenden Verwertungsmöglichkeiten am nationalen Markt, eine fragile Filmindustrie drängt die Filmemacher nach Hollywood, das wiederum den Preis der Eigenständigkeit verlangt. Den Teeplausch rundet Frears mit Filmausschnitten und am Ende mit einem raschen Abriss an Filmplakaten ab, und entzieht etwaiger Kritik sogleich den Boden, indem er uns versichert, „was immer man über das britische Kino sagt, man könnte auch das Gegenteil behaupten“.

Der Ire Donald Taylor Black stellt die Frage Irland: Sind wir allein? Gibt es einen wunden Punkt in der Filmgeschichte Irlands, so ist es der, dass Irland häufig Thema im Film ist, allzu oft und allzu lange jedoch mit dem Blick von außen betrachtet wurde und irische Filmemacher erst in den letzten Jahrzehnten vehemente Gegenbilder entwarfen. Mit Interviews von Filmschaffenden und Ausschnitten umreißt Black hundert Jahre Kino in Irland ebenso wie die Identitätssuche eines kleinen, ambitionierten Filmlandes. Sein konventionelles Kurzportrait bleibt ebenso wie jenes von Frears im Schatten des Herzstücks dieser Westeuropa-Schau: Jean-Luc Godards und Anne Miévilles 2 x 50 ans de cinéma français. Weder Identität noch Chronologie des französischen Kinos sind Thema der komplexen Collage, die sich rund um ein inszeniertes Treffen zwischen Godard und Michel Piccoli in dessen Funktion als Präsident des Kommitees für die Feiern zu Hundert Jahre Kino in Frankreich aufbaut. Godard hinterfragt im Gespräch mit Piccoli die Notwendigkeit, dieses erste Jahrhundert der – genau genommen – kommerziellen Verwertung von Filmbildern mit aufwändigen Feiern zu begehen. Er splittet bereits im Titel die zu viel zitierten hundert Jahre in zwei Mal fünfzig – halb/halb – und nimmt das Jubiläum der Siebten Kunst zum Anlass, weniger das Vorhandene, sondern vielmehr das längst schon wieder Verlorene, nicht mehr Verfügbare, Vergessene – die Flüchtigkeit des Mediums bewusst zu machen.

Sichtweisen und Emotionen:
Mittel- und Osteuropa
Text ~ Thomas Hein

Der „Neue Deutsche Film“ als Terminus der Filmgeschichte ist aufs Engste mit den Sichtweisen seiner Autoren verbunden. In Die Nacht der Regisseure von Edgar Reitz, einem der Unterzeichner des Oberhausener Manifests und (mit Alexander Kluge) Mitbegründer der ersten deutschen Filmhochschule, entlockt der Regisseur (als Primus inter Pares im Hintergrund) seinen Kolleginnen und Kollegen bruchstückhafte Erinnerungen aus dieser Blütezeit des Deutschen Films. Filmausschnitte von Murnau, Ophüls, Staudte, Käutner oder Fassbinder illustrieren diese Geschichte(n) von RegisseurInnen wie Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta, Hans Jürgen Syberberg, Jeanine Meerapfel, Wim Wenders, Werner Herzog, Leni Riefenstahl, Hanna Schygulla oder Detlev Buck im großen Vorführsaal einer imaginären Kinemathek im Herzen Münchens, durch die Edgar Reitz gemeinsam mit Enno Patalas, Filmhistoriker und ehemals Leiter des Münchner Filmmuseums, führt. Es ist eine Reflexion über die filmische deutsche Geschichte (der Regisseure) ebenso wie über die Einbindung in eine Tradition des Films in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg und den internationalen Filmdiskurs. Ihre Filme reflektieren Krieg und Wiederaufbau und leuchten deren psychologische Folgen in der Gesellschaft präzise aus. Ihr Leben ist der Film ist die Kunst ist das Leben. Mit ihnen bricht eine Sichtweise des Realismus und des filmischen Aufbruchs, wie man sie aus Frankreich und Italien kannte, auch über Deutschland herein, eine fruchtbare Zeit für die Filmkunst, was man an der großen Zahl an wichtigen Werken aus dieser Zeit ablesen kann. Und es beginnt mit dem Trommeln des kleinen Oskar Matzerath …

100 Years of Polish Cinema von Pawel Lozinski nach einer Idee von Krzysztof Kieslowski stellt dem eine völlig andere Sichtweise auf das Kino, das polnische Kino gegenüber. Nicht der Blick hinter der Kamera und die Gedanken der AutorInnen bestimmen die Wirkung des Kinos als einem Gesamtkunstwerk, sondern die Augen und Gefühle der Betrachter. Die Bilder der Leinwand als Konzentrat einer traumhaften Wirklichkeit: Kino als Fluchtpunkt und Ort der Sehnsüchte, die Erinnerungen von heute alt gewordenen Kindern des Kinos, die ihre ersten tiefen Erlebnisse im Kino von damals schildern. Der polnische Film als Traumfabrik jener Zeit steht im Gegensatz zum Kino der Nachkriegszeit, das nicht nur Regisseure wie Andrzej Wajda, Krzysztof Zanussi oder Krzysztof Kieslowski bei uns bekannt gemacht, sondern auch einen wertvollen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs Polens geleistet hat. Filmausschnitte aus beiden Perioden illustrieren diese unterschiedlichen Lebens- und Filmwirklichkeiten, zeigen aber auch auf, dass die internationalen Entwicklungen der Moderne nicht nur in Filmen wie Der Kanal (1957) von Andrzej Wajda sondern auch in bei uns unbekannten Filmen wie Die Tage des Mathäus (1967) von Witold Leszczynski sichtbar die polnische Filmlandschaft geprägt haben.

Männlicher Blickwinkel:
Russland, Indien, Lateinamerika
Text ~ Verena Teissl

Einen interessanten formalen Versuch unternimmt der vor allem als Produzent tätige Sergej Selyanow in seinem Beitrag Die russische Idee: Er montiert Ausschnitte aus den emotionsgeladenen Monumentalfilmen der 20er und 30er Jahre zu einer Collage, unterteilt einzig durch aussagekräftige Kapitelüberschriften, und unterlegt von einem dichten Off-Kommentar über die rasche Abfolge der fundamentalen Umwälzungen in Russland – vom Fall des Zarentums über die Revolution zum „neuen Glauben: die kommunistische Utopie“. Selyanow referiert nicht die filmsprachlichen Errungenschaften, sondern reflektiert über die „russische Seele“ in diesen Bildkompositionen, über die Metaphern des Patriarchen und des Volkshelden sowie über die Instrumentalisierung des Glaubens – sei er religiös-orthodox oder politisch-kommunistisch. Die russische Idee ist mehr Essay als konventionelle „Filmgeschichte“, eine Geschichtsbetrachtung im Spiegel der nationalen Kinematografie, eine Verflechtung der Ideologiebekenntnisse der Regisseure und der Reflexionen von Autor Selyanow über den wuchtigen Eintritt Russlands ins 20. Jahrhundert – historisch wie kinematografisch.

Altmeister Mrinal Sen diskutiert in India – And the Show Goes On die sprachliche und kulturelle Vielfalt der indischen Kinematografie, von Pionier Dhundiraj Govind Phalke bis zu den Filmemachern der 1980er Jahre. Statements von Regisseuren, Kritikern und Archivleitern wechseln mit Filmausschnitten, die erzähldramaturgische Linie folgt dabei den Regiegrößen, aber auch jenen Bruchlinien, die das „Indische“ trennen beziehungsweise aneinander grenzen. Sen stülpt kein künstliches nationales Konzept über die Unterschiede zwischen Genrekino aus Bollywood und kritischen Autorenfilmen, die Geografie der Independent-Bewegungen (Bengalen, Kerala) lässt er allerdings aus. Dennoch zeichnet das Grundmotiv der Diversität diesen Beitrag aus, dessen konventionelle Gestaltung ganz der Information und dem Aufwerfen vieler nützlicher Fragen dient.

Als Brasiliens Regiegröße Nelson Pereira dos Santos 1995 seinen Film Cinema de lágrimas (Kino der Tränen) vorstellte, war das internationale Echo gleich null. Sein Versuch, anhand einer homoerotischen Rahmenerzählung über die klassischen mexikanischen Melodramen und ihre emotionale Rückkoppelung beim Publikum zu reflektieren, fand um 40 Minuten und etliche Filmausschnitte kürzer Aufnahme in diese Kompilation. Ein Unternehmen, das allein durch die vom Reihen-Titel Filmgeschichte weltweit erweckte Erwartung zum Scheitern verurteilt ist. Denn hier erfährt man nichts über Aufstieg und Fall der klassischen Unterhaltungsfilmindustrie in Mexiko oder Argentinien, nichts über die richtungsweisenden Bewegungen des „militanten“ und „ungeschönten Kinos“ (Octavio Getino, Julio García Espinosa), über die „Ästhetik des Hungers“ (Glauber Rocha) und Institutionen wie die kubanische Filmproduktion ICAIC.

Leider erschließen sich alle drei vorgestellten Filmgeschichten sowohl in der Auswahl der vorgestellten Regisseure als auch in der Interpretation durch ihre Autoren aus rein männlichem Blickwinkel. Und auch in der redaktionellen Bearbeitung lassen die Filme zu wünschen übrig, wie durch die fehlende Untertitelung der russischen Ausschnitte und Kapiteleinschübe sowie Irrtümer auf der deutschen Tonspur zum indischen Beitrag.

Am Rand der Welt: Skandinavien, Australien, Neuseeland
Text ~ Michael Pekler

Während sich George Millers 40.000 Years of Dreaming (Australien) und Sam Neills Cinema of Unease (Neuseeland) bereits im Rahmen der Century of Cinema-Ausgabe 1996 gemeinsam auf einer Ausgabe einfanden, ist für die vorliegende arte-Edition Stig Björkmans neugieriger Blick auf Skandinavien dazugerutscht. Dafür gibt es eigentlich keine Erklärung, am ehestens aber dürfte wohl die Meinung gegolten haben, dass das nordische Kino (zunächst noch bei Deutschland und Frankreich beheimatet) als Sammelbecken ohnehin nirgendwo besonders gut dazupasst – und somit wieder am anderen Ende der Welt am besten aufgehoben ist.

Tatsache ist, dass Björkmans mühsame und um Kunstanspruch bemühte Dokumentation Skandinavien – Kino der Neugier von den kompakten Arbeiten Millers und Neills stark abfällt, weshalb wir uns hier schon aus Platzgründen nicht länger mit der durch die Doku führenden Lena Nyman in blauem Dunst und Gegenlicht beschäftigen wollen. Nur soviel: Die Isländer haben keine natürlichen Feinde, deshalb ist ihr größter Feind die Natur, Aki Kaurismäki geht gerne einen trinken und Lars von Trier sagt, dass er jetzt nichts mehr sagt.

George Miller, mit seinen Mad Max-Filmen heute ja schon beinahe ein Veteran des australischen Kinos, hat es da natürlich etwas leichter und – ganz im Gegensatz zur geografischen Größe des Landes – ein vergleichsweise kleines Feld zu bearbeiten. Diese Aufgabe löst er auch mehr als passabel: Sein Fokus fällt relativ chronologisch aus, kehrt aber doch immer wieder zu bestimmten Topoi zurück, etwa zum Verhältnis zum britischen Mutterland, zur Figur des Pioniers oder zur für lange Zeit untergeordneten Rolle der Frauenfigur (als verspätetes Zerrbild der ehemaligen britischen Gefangenenkolonie). Natürlich bleibt vieles rudimentär, auch das Schicksal der Ureinwohner, auf die sich der Titel 40.000 Years of Dreaming bezieht, doch der Überblick von den stummen Anfängen über Heroen wie Ned Kelly bis zu den Arbeiten von Peter Weir gelingt überraschend gut.

Dass der Australier Peter Weir seinem neuseeländischen Kollegen Peter Jackson beim Geldverdienen in Hollywood nur ein paar Jahre voraus war, wird am Ende der dritten und besten Dokumentation ersichtlich, Sam Neills Cinema of Unease. Neill endet damit, dass er die Filmproduktion der letzten Jahre (also bis 1995) lobt und gleichzeitig die Namen der Erfolgreichen aufzählt, die das Land verlassen haben, wie Jane Campion und Roger Donaldson. Alle Auswanderer würden sich darüber beklagen, dass sich in Neuseeland nichts verändere, so Neill, und alle Heimkehrer, dass sich so vieles verändert habe. Als einen solchen inszeniert sich Neill auch selbst, wenn er hauptsächlich von Land und Leuten erzählt und diesen nationalen Eigenheiten in Filmausschnitten nachspürt. Neill weiß, dass man in knapp 50 Minuten keine nationale Kinematographie, nicht einmal die Neuseelands, erzählen kann, und deshalb versucht er es auch gar nicht. Cinema of Unease ist vielmehr ein persönlich gefärbtes Album, bei dessen Einträgen mit Ironie und politischer Kritik („In diesem hässlichen Gebäude arbeiten die Leute, die das Sozialsystem demontiert haben“) nicht gegeizt wird und das durch die fruchtbare Mischung von emotionaler Nähe und analytischer Distanz von Regisseur und Reiseführer einen besonderen Mehrwert erfährt. Dass das Land aus der Schauplatz-Verwertung von Peter Jacksons Ring-Fabel heute eine lukrative Einnahmequelle mehr hat, konnte Neill, der wenige Jahre später eine Rolle in der Erlösungssaga ablehnen sollte, ja noch nicht wissen.

Through Neoverismo and beyond: Italien
Text ~ Lukas Maurer

Die These, dass Italien die Wiege des modernen Kinos ist, lässt sich ebenso schlagkräftig behaupten wie widerlegen. Auf jeden Fall hat der italienische Neorealismus in seiner Neudefinition des filmischen Erzählens das Kino maßgeblich verändert, den Weg freigegeben für alle wirkungsmächtigen Strömungen von 1945 bis heute. Die Nouvelle Vague, New Hollywood, Dogma sind ohne ihn nicht zu denken. Für Martin Scorsese, einen der letzten großen Filmautoren alter Schule, war der Neoverismo gleich in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Er sah in ihm nicht bloß eine ästhetische Inspirationsquelle, sondern auch „die erste Verbindung mit dem alten Sizilien“, dem Herkunftsort seiner Großeltern. Dementsprechend autobiografisch beginnt Scorsese seine imposante Film-Lecture über das italienische Kino Il mio Viaggio in Italia. Mit viel Liebe und ungebrochener Begeisterung erzählt er von seiner Kindheit in Little Italy, New York, von prägenden Fernsehabenden im Beisein seiner emotionsgeladenen Verwandtschaft, als Filme wie Roberto Rossellinis Paisà (1946) oder L´oro di Napoli (1954) von de Sica ausgestrahlt wurden (Il mio Viaggio ist auch ein Film über das Fernsehen als zweite Wirkungsstätte des Kinos). Anders als in A Personal Journey with Martin Scorsese through American Movies (siehe oben), ordnet er die einzelnen Kapitel nicht nach Themenkomplexen, sondern widmet sich ganz den von ihm geschätzten Regisseuren und ihren Filmen, fokussiert weniger auf stilistische Merkmale als auf die Modellierung der Figuren und ihre Entwicklung im Lauf der Handlungen. Scorsese hält sich in der Erörterung der filmspezifischen Methoden des Neorealismus eher allgemein, ihm geht es, als folge er streng der neorealistischen Maxime von der Rückkehr zum Menschen, vornehmlich um die exis-tenziellen Erfahrungen der einzelnen Charaktere, ihre sozialen Miseren und Demütigungen im von Faschismus und Nazismus schwer gezeichneten Nachkriegsitalien – freilich ohne dabei jemals aus den Augen zu verlieren, dass die Form den Inhalt bestimmt und umgekehrt.

In aller Ausführlichkeit zeigt Scorsese das Schicksal des ver-
armten Pensionisten Umberto D. (De Sica, 1952) und solidarisiert sich unverhohlen mit den Müßiggängern von Fellini (1953), die einen beträchtlichen Einfluss auf die Protagonisten seines Films Mean Streets (1973) ausübten. Seine Reise beschränkt sich aber nicht auf die Schauplätze des Neoverismo, sondern macht etwa auch bei Rossellinis titelgebendem Opus magnum Viaggio in Italia (1954, siehe Seite 124) oder Viscontis frühem Kostümdrama Senso (1954) Station und endet mit Antonionis verstörend konturierter Einsamkeitsstudie L´Avventura (1960) und Fellinis surrealem Film-im-Film-Fresko 8 1/2, in denen diese ihren neorealistisch geschulten Blick in bis dahin kaum gekannter Form auf die komplizierten Innenwelten der Figuren richten. Am Schluss von Il mio Viaggio in Italia angekommen, wünscht man sich nichts sehnlicher, als eine Reise von Martin Scorsese ins Herz der Nouvelle Vague.