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Tenet

Tenet

Das Palindrom-Syndrom

| Roman Scheiber |
In seinem vertrackten Spionage-Actionthriller „Tenet“ bewahrt Hollywood-Visionär Christopher Nolan die Welt vor dem Untergang. Aber kann er damit auch das Kino retten?

Der Bösewicht ist ein russischer Superschurke und will den Dritten Weltkrieg anzetteln. Seine junge Gattin ist von ihm entfremdet, gleichwohl lässt er sie nicht ziehen, und so erhofft sie sich Rettung für sich und ihren kleinen Sohn von einem Geheimagenten. Jener wiederum hangelt sich von Schauplatz zu Schauplatz in sieben verschiedenen Ländern, ist äußerst geübt im Umgang mit Schusswaffen und setzt Hi-Tech-Gimmicks ein, um besagtem Bösewicht das Handwerk zu legen und die Welt zu retten.

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Schöner Zufall, dass Sean Connery dieser Tage seinen 90. Geburtstag begeht. Denn: kein Schelm, wer angesichts einer solchen Synopsis an James Bond denkt. Allerdings ist Bond diesmal ein Afroamerikaner (John David Washington), schläft mit keiner einzigen Frau, und Q ist in Personalunion mit M hinter die Kamera gewechselt; er heißt nun Christopher Nolan. Das britisch-amerikanische Mastermind, von dem derzeit nicht weniger als die Rettung des Kinos erwartet wird, hat Bond freilich mehr als die Lizenz zum Töten verliehen. Wie es seinem Science-Fiction-Naturell entspricht, hat Nolan seinen Spion mit der Fähigkeit ausgestattet, die Naturgesetze auszuhebeln. Genauer: jenes Naturgesetz, wonach die Zeit linear vorwärts verläuft. Der Protagonist von Tenet kann nämlich in einer ausgesuchten Zeitspanne der Vergangenheit rückwärts agieren, also gegen die vor seinen Augen ablaufenden Geschehnisse. Das bedeutet u.a., dass er abgeschossene Kugeln nicht bloß abfangen kann (wie einst Neo in Matrix), sondern sogar wieder einfangen.

Nun dreht Nolan nicht zum ersten Mal unbotmäßig an der Uhr. Vor zehn Jahren ließ er in Inception Leute einander ihre Träume stehlen und sie in verschiedenen Traumzeitebenen interagieren, nebenbei brachte er zu Ohren betäubendem Gedröhn und Hans Zimmers „Time“ ganze Welten zum Einstürzen; schon damals fühlte man sich mitunter (die Hochgebirgs-Actionszene!) wie in einem alten Bond-Film.

Nach diesem unterhaltsamen und technisch perfekten Hirngespinst reiste Nolan gleich weiter durch die Wurmlöcher seiner ausufernden Phantasie, sprich: machte sich mittels 70mm-Imax-Kameras und einer sentimentalen Vater-Tochter-Geschichte an die Erfahrbarmachung der fünften Dimension. Die vierte, also die Raumzeit, nahm er quasi im Vorbei-Navigieren und beim Überspringen diverser Plausibilitätsschranken mit (Interstellar).

Mehr allerdings als mit diesen – kommerziell durchaus überraschend erfolgreichen – Breitwandepen hat Nolans neuer präsumtiver Blockbuster mit Memento (2000) zu tun. Schon diesen kleinen, frühen Film um einen Unglücksraben mit schweren Gedächtnisproblemen, welcher vielen als veritabel „thought-provoking“ und manchen als Inbegriff innovativen Filmdenkens galt, erzählte Nolan in zwei zeitlich gegeneinander laufenden Erzählsträngen.

Nun also Tenet. Auf Deutsch: Grundsatz, Lehrsatz, Dogma. Es ist das Schlüsselwort des Agenten, ein Palindrom, wie die Zeit im Film kann man es zugleich von vorn und von hinten lesen. Ihm selbst ist das Wort so schleierhaft wie seine gesamte Mission, denn weder weiß er, ob die geheimnisvolle Inderin (Dimple Kapadia), die sich als seine Auftraggeberin ausgibt, tatsächlich die Strippen zieht, noch ahnt er zunächst, dass Superschurke Sator (Kenneth Branagh) dieselbe von der Zukunft in die Vergangenheit weisende Kulturtechnik namens „Inversion“ beherrscht, die er gerade im Theorieunterricht gelernt hat. Aber dafür wird er herzensgut von Buddy Neil (Robert Pattinson, zu dem sich später noch Aaron Taylor-Johnson gesellt) unterstützt.

Um die verwirrenden, aufs Erste kaum decodierbaren Actionsequenzen hinter der Netzhaut des Zusehers auflösbar zu machen, aber eigentlich um das Schlüsselmotiv des Films wirken zu lassen, werden die zwei vor dem Finale wichtigsten – eine Autoverfolgungsjagd bzw. ein Flughafendesaster – jeweils aus anderer Perspektive (und eben im anderen Zeitverlauf) ein zweites Mal abgespult. Ob sich das alles erzähllogisch irgendwie ausgeht, werden künftige Exegeten spätestens nach dutzendmaliger Ansicht des Films sicherlich ausloten können.

Warum Nolan die fast einsneunzig große, modeldünne Australierin Elizabeth Debicki (die jüngst mit der Rolle der erwachsenen Lady Diana in der Serie The Crown betraut wurde) und den gedrungenen, um fast einen Kopf kleineren Ex-Footballspieler John David Washington (der u.a. in Spike Lees BlacKkKlansman komödiantisch überzeugte) hier als Amour fou zusammengespannt hat, erschließt sich wohl nur ihm selbst. Die Gastauftritte der Nebendarsteller von Michael Caine bis Martin Donovan sind spätestens im Getöse der Actionszenen, welche wiederum unter dem mechanischen Lärm des Scores von Ludwig Göransson ächzen, wieder vergessen.

Mit seinem Augen öffnenden Dunkirk war Nolan ein multiperspektivischer, beeindruckend immersiver und frappant wortkarger Eintrag ins Kriegsfilmgenre gelungen. Hier dagegen müssen oftmals schwer verständliche (Erklär-)Dialoge das Geschehen rhythmisieren, sodass die gefühlte Million Meter Film, die Hoyte van Hoytema mit einer Imax-Spezialkamera für Tenet anfertigte, zu sprichwörtlichen Perlen vor die Säue verkommen. Nie wird der Film seine hohle Anmutung los, die sich von der spektakulären Eröffnungssequenz, einer Terrorszene in einem vollbesetzten ukrainischen Konzerthaus, bis hin zum finalen Twist zieht.

Einmal mehr erweist Nolan sich als Winkelzugsführer einer Science-Fiction-Imaginationsmaschine, die – in diesem Fall – zwischen London, der wunderschönen Amalfi-Küste Italiens, Südkalifornien, Estland, Skandinavien und Mumbai allerdings wenig mehr als Gefühlsversatzstücke im buchstäblich zeitraubenden Spionage-Actionmantel zu produzieren in der Lage ist. Ob Tenet dem internationalen Nach-Corono-Kino also wirklich die erhoffte Bresche schlagen kann, bleibt abzuwarten. Immerhin: Nur Christopher Nolan kann es sich derzeit leisten, geschätzte 200 Millionen Dollar für eine 150 Minuten lange Denksportaufgabe auszugeben, von der man nur rätseln kann, wieviele Kinogänger sich ihr unterziehen werden wollen.