Davos

Filmkritik

Davos

| Jakob Dibold |
Die Welt ist in einem Dorf. Eine österreichisch-schweizerische Koproduktion über einen lange schon aktuellen Ort der Gegensätze

Man habe nicht mehr bloß Ort für die Kranken sein wollen, weiß die Kunsthistorikerin der von ihr geführten Gruppe im Kirchner Museum, neben E. L. Kirchners Gemälde „Davos mit Kirche (Davos im Sommer)“ stehend, zu berichten, man habe modern werden wollen. Spätestens ein paar Jahrzehnte, nachdem dessen Farben 1925 aufgetragen wurden und getrocknet sind, ist das Ziel erreicht: Der Kurort aus Thomas Manns „Der Zauberberg“ beherbergt seit den siebziger Jahren das Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums, im Rahmen dessen Granden aus aller Welt darüber beraten, wie weiter tun mit ebendieser, der Welt nämlich – „committed to improve the state of the world.“

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Davon sehen und hören wir zunächst wenig. Daniel Hoesls und Julia Niemanns (die schon Hoesls fiktionalen Vorgänger WINWIN mitproduzierte) Film versetzt uns erst in das raue Setting eines Stalls und setzt uns der Teilhabe an Komplikationen einer nächtlichen Kalbsgeburt aus. Doch bald schon kommen sie, die Medien, die Politik, die Geschäftstreibenden, und der Ort verwandelt sich in eine unwirklich erscheinende Ansammlung jener, die die Zügel unserer Welt in ihren Händen zu haben scheinen. Zügel-losigkeit ist dementsprechend auch nicht weit, wie wiederum ein portugiesischer Barkeeper einer der Luxusunterkünfte nicht ungern preisgibt. Vielleicht mehr noch als hinter die Kulissen der Weltwirtschaft blickt Davos überhaupt in die Leben jener, die den ganzen Trubel durch verschiedenste Arbeiten mitermöglichen: Während Gäste des Forums doch tatsächlich an einem Rollenspiel teilnehmen (müssen?), das ihnen die Erfahrung von Krieg, Folter und Fluchtgrund ermöglichen soll, bevor es wieder zum Dinner geht, studieren junge Geflüchtete, wenn sie nicht gerade in der Gastronomie schuften, mit ihrem Betreuer einen Rap-Song über ihre Geschichte ein, eine Choreografie der kleinen Hoffnung.

Challenge accepted: Hoesl und Niemann beweisen exzeptionelles Gespür dafür, wie man einem Ereignis begegnen kann, an dem Kameras bereits an allen Ecken und Enden mitlaufen. Sie versuchen sich daran, mittels der geschickten wie gewitzten Inszenierung von sowohl Dorfleben als auch Superkapitalismus das absurde Nebeneinander der Strukturen eines Alpendorfs mit jenen des dort seit einem halben Jahrhundert stattfindenden Gipfeltreffens nicht als zwei Blöcke zu behandeln, sondern in einer einzigen Spirale sich simultan abstoßender wie anziehender Entitäten zu zeigen. Dabei gelingt ihnen vieles. Das Bizarre ist normal, das Ordinärste mutet unwirklich an: Viel treffender lässt sich der Zustand der Welt vielleicht auch gar nicht beschreiben. Weshalb es auch nicht gravierend stört, dass der Spannungsbogen doch etwas früh abflacht. Pünktlich startet der schon festivalerprobte Film nun jedenfalls jener dieser Tage per Stream (nähere Infos und Termine siehe unten), an denen auch Davos als „Davos Agenda“ nur online über die Bühne geht. Das physische Jahresmeeting soll sich heuer nämlich Ende Mai in Singapur ereignen: „The first global leadership event to address worldwide recovery from the pandemic“1 – und das ganz ohne Alpenblick und Bergluft.

1 Quelle: weforum.org/press/2020/12/special-annual-meeting-2021-to-take-place-in-singapore-in-may/