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Gunda

Den Wind einfangen

| Pamela Jahn |
Für Viktor Kossakovsky ist Gunda, die „Titelfigur“ seiner Tierdokumentation, ein besonderes Schwein. Ein Gespräch mit dem russischen Regisseur über Ignoranz, Mitgefühl und darüber, wie wir die Welt mit anderen Augen sehen können.

Gunda seufzt. Als Mutter von zehn Neugeborenen hat sie es nicht leicht. Ihr Nachwuchs ist hungrig, tollpatschig, neugierig auf die Welt und entsprechend schwer zu bändigen. Das kostet Kraft, und Gundas Blick verrät oft die Müdigkeit, die in ihr steckt. Aber auch den Glanz in den Augen einer stolzen Sau, die ihre Kleinen beim Toben im Freigehege beobachtet, fängt Viktor Kossakovsky in seinem sanft fesselnden Tierporträt mit der Kamera ein. Mal ganz nah dran, mal mit respektvollem Abstand aus der Ferne, beobachtet der russische Regisseur den Alltag des Schweins und ihrer Ferkel auf einem geradezu paradiesisch erscheinenden Bauernhof, zu dem auch ein einbeiniges Huhn und eine kleine Rinderherde gehören. Von Massentierhaltung keine Spur.

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Kossakovsky hat seinen Dokumentarfilm ganz in Schwarzweiß gedreht, mit viel Liebe, Licht und Ruhe – und doch steckt auch eine ungestüme Wut dahinter, die in dem Filmemacher gärt. Seine Empörung gilt allem und jedem, der sich gegen die Erhaltung unserer Natur mit all ihren Lebens- und Landschaftsformen stellt. Mit Aquarela hatte er 2019 bereits ein zutiefst poetisches Werk über das wichtigste, lebensnotwendige Element unserer Erde gedreht. Jetzt legt er mit Gunda nach und trifft mit seinem freien, unkommentierten Blick mitten ins Herz. Schauspieler Joaquin Phoenix war sogar so begeistert, dass er noch nachträglich als Produzent einstieg, um dem Film eine größere Aufmerksamkeit auf internationaler Ebene zu garantieren. Am Ende hätte es fast zu einer Oscar-Nominierung gereicht. Die Faszination liegt in der Schlichtheit ebenso wie in der Wärme des Films. Und in der Wahrheit. Denn auch das Leben einer Sau ist von Höhen und Tiefen geprägt, die Schmerz, Verlust und Trennung nicht ausschließen. Kossakovsky hat das verstanden und schafft es mit seinem Film auf raffinierte Weise, auch beim Publikum einen Nerv zu treffen.

Herr Kossakovsky, Sie bezeichnen sich selbst als der „erste Vegetarier der Sowjetunion“. Was war der Auslöser für Ihre große Tierliebe und den Film, der jetzt daraus entstanden ist?
Viktor Kossakovsky: Die Tierliebe war immer ein Teil meines Lebens. Als kleiner Junge habe ich eine Zeit lang auf dem Land verbracht, und so kam es, dass ich mich mit einem Ferkel anfreundete. Wir spielten jeden Tag miteinander, wurden quasi unzertrennlich. Es ist eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Aber natürlich kam irgendwann der Tag, wo das Schwein geschlachtet werden sollte. Ich habe protestiert, aber es half nichts. Daraufhin beschloss ich, kein Fleisch mehr zu essen. Ich sagte: „Nein, ich esse meinen Freund nicht.“ Es war also keineswegs die Entscheidung meiner Eltern, die wollten, dass ich mich gesünder ernähre. Ich bin aus eigener Überzeugung bereits als Kind Vegetarier geworden. Und diese Erfahrung damals hat mich so stark geprägt, dass ich immer einen Film über Schweine machen wollte.

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Sie zeigen die Tiere in Ihrem Film, wie sie sind, auf Augenhöhe, ohne Kommentar. Warum war Ihnen das so wichtig?
Ich wollte die Menschen darauf aufmerksam machen, was uns fehlt: die Empathie, das Mitgefühl. Wir denken über Lebewesen wie Kühe, Schweine und Hühner nur als Nutztiere für den Verzehr. Und aus irgendeinem Grund sind wir der Meinung, dass diese Tiere nicht leiden. Oder zumindest interessiert es uns nicht, dass sie es tun. Aber sie haben Gefühle, sie helfen einander, machen Witze und sie träumen. Sie können glücklich sein und eine Art von Freiheit erleben, die uns Menschen vorenthalten bleibt. Im Film kann man es sehen, man kann es spüren. Und jeder, der einen Hund oder eine Katze zu Hause hat, der weiß, dass Tiere ähnlich wie wir empfinden. Nur bei Kühen und Schweinen scheint das keine Rolle zu spielen. Dabei gehören Schweine zu den intelligentesten Tieren überhaupt. Es ist Wahnsinn, dass wir das einfach nicht wahrhaben wollen, geschweige denn, dass wir gewillt sind, etwas an unserer Haltung diesen Tieren gegenüber zu ändern.

Warum ist es so schwer, die Menschen in der Hinsicht aufzuklären und zu bekehren?
Es liegt daran, dass wir immer noch glauben, wir seien die wichtigsten Lebewesen auf Erden. Und wir erziehen unsere Kinder auf eine Art und Weise, die daran nichts ändert. Wir geben ihnen Fleisch zu essen, ohne sie darüber zu informieren, dass ein Tier dafür sterben musste. Ich wollte meinen Film eigentlich „Meine Entschuldigung“ nennen, weil ich weiß, dass ich als Regisseur die Welt nicht verändern kann. Weil selbst die klügsten Menschen heute noch der Meinung sind, dass wir an der Spitze der Pyramide stehen, dass wir das Recht haben, Tiere zu töten, wie es uns beliebt. Und dagegen komme ich nicht an. Aber ich wollte zumindest ein Gespräch anregen über unser Leben mit den anderen Kreaturen auf diesem Planeten. Wir können ohne Wasser kaum drei Tage überleben, ohne Luft keine drei Minuten. Und wir halten uns trotzdem für die Größten. Es ist schon erstaunlich, wie eingebildet die Menschen sind.

Es gibt berühmte Ausnahmen, wie Joaquin Phoenix, der sich sehr für Ihren Film eingesetzt hat.
Das war schon verrückt. Als er den Oscar für Joker bekam und seine Rede hielt, war ich nicht dabei. Ich habe die Preisverleihung nicht angeschaut. Aber plötzlich bekam ich lauter Anrufe und Nachrichten von Freunden, die fragten, ob ich die Rede für ihn geschrieben hätte. Als wir Gunda filmten, rief ich mein Team jeden Morgen zusammen, um eine kleine Ansprache zu halten. Sie waren alle sehr jung, kamen aus verschiedenen Ländern, und ich wollte sie motivieren. Und als ich mir Joaquins Rede später ansah, hörte ich mich reden. Meine Ko-Produzentin in New York schickte ihm daraufhin die Rohfassung des Films. Er sah ihn sich an und meldete sich umgehend bei mir. Er meinte, er würde sich gerne an dem Projekt beteiligen. Und dann schickte er den Film gleich an ein paar Freunde weiter, Paul Thomas Anderson und andere. So kam ein großer Stein ins Rollen.

Der Film offenbart nicht nur die rosigen Seiten eines Schweinelebens. Es gibt auch ein paar sehr intime, sehr schmerzliche Szenen. Wie geht es Ihnen, wenn Sie solche Momente filmen?
Es gibt zwei Dinge zu beachten: Wenn wir einen Propagandafilm für Veganer gedreht hätten, wären diese Szenen rausgeflogen, weil sie zu ambivalent sind. Aber ich wollte keinen Propagandafilm drehen. Ich zeige die Dinge, wie sie sind. Und ich kann Gunda nicht dafür verurteilen, was sie tut. Sie hat gute Gründe, eines ihrer Ferkel zu töten. Während des Drehens will man natürlich am liebsten hinrennen, eingreifen, sie davon abhalten. Aber diese Rolle steht mir nicht zu. Ich filme das Leben, ob es mir gefällt oder nicht, ob ich damit einverstanden bin oder nicht, das spielt in dem Moment keine Rolle.

Was kann ein Blick in Schwarzweiß eher bewirken als ein Film in Farbe?
Es ging mir dabei weniger darum, ein künstlerisches Stilmittel zu beanspruchen, als um den Versuch, eine Art von Zeitlosigkeit zu erzeugen. Ich wollte keinen Film machen, der nur heute relevant ist. Und ich habe das Gefühl, es gehört zum allgemeinen Glauben, dass Bilder in Schwarzweiß irgendwie echter, zeitloser und „dokumentarischer“ sind. Dass mehr Wahrheit in den Bildern steckt. Und ich hoffe, dass der Film auch in zehn oder in fünfzig Jahren noch dieselbe Bedeutung hat, weil es um die Tiere geht und nicht um uns. Das ist auch der Grund, warum wir auf Augenhöhe gedreht haben. Wir haben mit der Kamera fast das Gras berührt, sind in die Knie gegangen, auf dem Bauch gerobbt. Aber das war wichtig, genauso wie der Verzicht auf Farbe, weil wir sonst unser Ziel verfehlt hätten. Heutzutage schaut jeder ständig YouTube-Videos mit Katzen und Hunden, und das hat diesen Verniedlichungseffekt. Wenn wir die Ferkel in Farbe gefilmt hätten, wären wir Gefahr gelaufen, dass die Leute gesagt hätten: Ach wie niedlich, schau mal! Und Gunda wäre einfach ein großes Schwein. Aber hinter den Schwarzweißaufnahmen kommt ihre ganze Persönlichkeit zum Vorschein. Das hat etwas Magisches.

Wie haben Sie Gunda eigentlich gefunden?
Es war die einfachste Sache der Welt, fast ein Unfall. Als ich eine ungefähre Vorstellung von dem Film hatte, ging ich zu meiner Produzentin, um sie für das Thema zu interessieren. Aber sie verstand nicht genau, worum es mir ging. Ich meinte zu ihr, wir müssten auf einen Bauernhof fahren, dann könne ich es ihr zeigen. Ich weiß mehr über Tiere als viele andere Menschen, weil ich sie studiert habe. Also sind wir erst zu einer Universität gefahren, wo sie Tierverhalten unterrichten, um mit ein paar Wissenschaftlern zu reden, die sich speziell mit Schweinen befassen. Und dort machte man uns auf diesen besonderen Bauernhof aufmerksam. Normalerweise werden Schweine unter grausamsten Bedingungen gehalten, in denen sie ihr kurzes Dasein fristen. In Kastenständen und auf Betonboden. Aber dieser Hof war anders. Und als wir dort ankamen, öffneten wir die Tür zum Stall, und Gunda kam gleich auf uns zu. Sie war so freundlich und ohne jede Scheu. Ich musste lachen und sagte zu meiner Produzentin: „Da haben wir unsere Hauptdarstellerin.“

Worin lag die größte Herausforderung, den Film umzusetzen?
Das kann ich gar nicht sagen. Bei jedem Film hat man seine Schwierigkeiten. Es gibt immer Momente, die man lieber vergessen würde, oder bestimmte Sachen, die man nicht erreichen konnte. Aber ganz konkret fällt mir jetzt gar nichts ein. In den zwei Monaten, die wir mit Gunda verbracht haben, hatte ich das Gefühl, die Leute in meinem Team würden mit jeden Tag bessere Menschen werden. Ich habe es gespürt und gesehen. Sie waren fröhlicher, glücklicher. Und das kommt davon, wenn man auf längere Zeit in so engem Kontakt mit Tieren steht. Nicht spielerisch, einfach nur beobachtend. Und ich glaube, das ist meine größte Errungenschaft. Es geht vielleicht gar nicht darum, die Welt zu retten, sondern eher darum, dass man mit dem, was man tut, zu einem besseren Menschen wird. Es gibt zwei Möglichkeiten einen Film zu machen: Entweder man hat eine Botschaft und dreht einen Film, um diese Botschaft an das Publikum zu bringen. Oder man hat einfach ein Gefühl im Bauch und macht einen Film darüber. Und am Ende ist man ein Stück weit ein anderer Mensch.

Inwieweit haben Sie sich verändert?
Ich bin Veganer geworden, das ging gar nicht anders. Über 50 Jahre lang war ich Vegetarier, aber wenn man so viel Zeit mit den Tieren verbringt, dann ist das irgendwann nicht mehr genug. Allein schon, weil man sieht, wie klug und wie witzig sie sind. Und weil die Tiere spüren, wie man ihnen gegenübersteht. Die Natur hat uns gelehrt, zu sehen und Gefahren zu erkennen. Wenn wir einem fremden Menschen auf der Straße begegnen, sagt uns unser Instinkt sofort, wie wir die Person einschätzen, ob sie uns freundlich gesinnt ist oder nicht. Und genauso ist es bei den Tieren. Deshalb glaube ich auch, dass Sehen unser primärer sinnlicher Zugang zur Welt ist. Alle reden immer vom Hören, von der Musik. Aber Musik berührt lediglich unsere Emotionen.

Sie haben hier komplett auf Musik verzichtet. In „Aquarela“ dagegen kommt ihr dafür eine umso größere Bedeutung bei. Worin besteht der Unterschied?
Kennen Sie Godfrey Reggios Koyaanisqatsi? Was er Anfang der achtziger Jahre gemacht hat, war eine Fortentwicklung dessen, was es bereits in den zwanziger Jahren gab. Aber Reggio hat das Ganze auf eine neue Ebene gehoben, indem er Musik als Voice-over einsetzte, um die einzelnen Shots miteinander zu verbinden. Und in Aquarela wollte ich an diese Idee anknüpfen und sie erweitern, ein neues Level anstreben. Am Anfang hatte ich überhaupt keine Musik. Stattdessen gab es einen Soundtrack mit verschiedenen Geräuschen von den Menschen und dem Wasser. Aber ich war nicht stark genug, dafür zu kämpfen, weil ich Angst hatte, dass es zu abwegig wirken könnte. Daraufhin wollte ich mit einem fantastischen Komponisten arbeiten, aber leider konnte ich ihn nicht überzeugen. Ich fand nicht die richtigen Worte, um ihm zu erklären, wonach ich suchte. Es war mein Fehler. Um einen Kontrast zu erzeugen, um etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen, wollte ich eine brutale Musik haben, die eine andere Struktur hat und anderen Regeln unterliegt.

In Ihrem Dokumentarfilm „¡Vivan las Antipodas!“ wimmelt es nur so von Gegensätzen.  Die Bilder stehen auf dem Kopf oder liegen auf der Seite. Städtebilder und atemberaubende Landschaften stoßen sich voneinander ab und ziehen sich an. Der speziellen Dynamik, die daraus entsteht, ist ein feiner Sinn für Zweifel und Ambivalenzen eingeschrieben. Woher kommt der bei Ihnen?
In dem Film gibt es eine Episode mit einem Kondor. Und vielleicht haben Sie es bemerkt, aber ein Kondor bewegt immer nur die Spitzen seiner Flügel, ähnlich wie wir unsere Finger bewegen. Er fliegt, ohne sich dabei groß anzustrengen. Das heißt, er muss lernen, wie man den Wind einfängt. Und ich glaube, die Flügel eines Künstlers sind seine Zweifel. Meine Aufgabe besteht darin, den Wind einzufangen und meine Zweifel im Gleichgewicht zu halten. Es gibt so vieles, das wir noch nicht wissen, noch nicht begreifen können. Und das ist das Wunderbare daran. Filmemachen ist eine einzigartige Kunst, und mit jeden Film sehe und verstehe ich ein bisschen mehr. Dabei stehe ich erst am Anfang. Als ich mit der Arbeit an Aquarela begann, hatte ich nur ein Zitat von Isaac Newton in meinem Drehbuch: „Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean.“ Genauso geht es mir mit meiner Arbeit. Und man sieht ja immer beide Seiten von allem, das Gute und das Schlechte. Aber es kommt darauf an, wie man die Dinge betrachtet. Und die Fähigkeit, das Schöne in der Welt zu sehen, ist etwas ganz Besonderes. Dostojewski hat in „Der Idiot“ geschrieben: „Die Schönheit wird die Welt retten.“ Daran glaube ich fest.