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The Zone of Interest

The Zone of Interest

Der gepflegte Vorhof zur Hölle

| Jörg Schiffauer |
Jonathan Glazer zeichnet mit „The Zone of Interest“ die Banalität des Bösen.

 

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Es ist eine Szene, die sich im Leben zahlloser Familien immer wieder abspielt, wenn die liebe Verwandtschaft zu Besuch kommt. Im gegenständlichen Fall handelt es sich dabei um die Aufwartung, die Linna Hensel (Imogen Kogge) ihrer Tochter Hedwig (Sandra Hüller), die mit ihrer Familie am Dienstort ihres Ehemanns lebt, macht. Nachdem Hedwig ihre Mutter durch das schmucke Haus geführt hat, zeigt sie ihr den dazugehörigen Garten, der sichtlich ihr ganzer Stolz ist. Neben den liebevoll angelegten Blumenbeeten und dem gepflegten Rasen finden sich dort auch ein kleiner Teich sowie ein eigenes Gewächshaus. Mit dem Satz „Vor drei Jahren war das alles noch ein Feld“ unterstreicht Hedwig noch die Bemühungen beim Anlegen ihres geliebten Gärtchens. Soweit wirkt das alles noch wie die gewohnte (klein-)bürgerliche Idylle. Doch Hedwig ist nicht einfach nur die Tochter von Frau Hensel, die ihrer Mutter eben zeigen möchte, wie weit sie es gebracht hat. Denn welche grauenhafte Chimäre das gepflegte Haus mit Garten eigentlich darstellt, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Hedwig nun mit Nachnamen Höß heißt und ihr Ehemann Rudolf Höß ist, SS-Obersturmbannführer und Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz. An jenem Ort, der zu einem Synonym für das furchtbarste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, den Holocaust, geworden ist, an dem Rudolf Höß als einer von Hitlers Helfern bei dem Völkermord, dem mehr als sechs Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen, fungierte, befindet sich besagtes Anwesen, das zum Zentrum von The Zone of Interest wird.

ABSURDE NORMALITÄT

Regisseur und Drehbuchautor Jonathan Glazer hat sich dabei für einen Ansatz entschieden, der in seiner konsequenten Umsetzung ein hohes Maß an Verstörung auszulösen imstande ist. Sein Fokus richtet sich auf jenes private Idyll, das Rudolf Höß, einer der schlimmsten Täter, seiner Familie eingerichtet hatte. Das befand sich jedoch nicht in einiger räumlicher Distanz, sondern unmittelbar neben dem Konzentrationslager Auschwitz, lediglich eine Betonmauer trennt das Heim vom Lager. Ein durchaus bekanntes historisches Faktum, das jedoch – und insbesondere wenn dies wie in The Zone of Interest wiederholt ins Bild gerückt wird –, immer noch fassungslos macht.

Eine Reaktion, die Glazer evoziert, indem er den Alltag von Familie Höß in einer Normalität – zwischen Bratwurst am Mittagstisch und einem exklusiven Geburtstagsgeschenk für Papa Rudolf – zeigt, die sich als erschreckend banal bis hin zur Spießigkeit erweist. Es scheint unumgänglich, dass man angesichts dieses Blickwinkels, dessen sich The Zone of Interest bedient, an die viel zitierte „Banalität des Bösen“ erinnert wird, ein Begriff, den die Publizistin Hannah Arendt prägte. Arendt verfolgte 1961 in Jerusalem den Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann, der als Organisator der Deportation von Juden in Ghettos und Konzentrationslager einen maßgeblichen Anteil am Holocaust hatte. In ihrem 1963 veröffentlichten Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ verwendet Arendt besagten Begriff, um Eichmanns Auftreten vor Gericht zu charakterisieren. Eichmann – übrigens wie Höß bei der SS ebenfalls im Rang eines Obersturmbannführers – gab sich im Verlauf des Prozesses betont bieder und versuchte, seine Rolle auf die eines kleinen Rädchens in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis herunterzuspielen. Wenn man Aufnahmen des Gerichtsverfahrens gegen Eichmann – etwa in Eyal Sivans Dokumentarfilm Ein Spezialist (1999), der ausschließlich Archivmaterial verwendet – betrachtet, lässt sich nachvollziehen, warum es Hannah Arendt von Bedeutung erschien, auf den Gegensatz zwischen Eichmanns unscheinbarem Gehabe und der Monstrosität seiner Verbrechen zu verweisen. Und ähnlich wie Eichmann berief sich Höß darauf, doch nur Befehle ausgeführt zu haben. So schrieb Höß etwa in einem autobiografischen Text, den er verfasste, als er in Krakau inhaftiert auf seinen Prozess wartete: „Ob diese Massenvernichtung der Juden notwendig war oder nicht, darüber konnte ich mir kein Urteil erlauben. Wenn der Führer selbst die Endlösung der Judenfrage befohlen hatte, gab es für einen alten Nationalsozialisten keine Überlegungen, noch weniger für einen SS-Führer.“

Zuvor hatte Rudolf Höß, der nach Kriegsende untergetaucht war und erst 1946 nahe Flensburg von einer britischen Einheit aufgespürt wurde, im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Zeuge ausgesagt. Zwischen seinen Auftritten vor Gericht wurde er von dem US-amerikanischen Psychologen Dr. Gustave M. Gilbert befragt, dem er nüchtern und sachlich über Auschwitz als ein Zentrum des Holocaust Auskunft gab: „Das Töten selbst nahm die wenigste Zeit in Anspruch. Man konnte 2.000 Menschen in einer halben Stunde erledigen, aber das Verbrennen kostete so viel Zeit. Das Töten war leicht; man brauchte nicht einmal Wachmannschaften, um sie in die Kammern zu treiben. Sie gingen einfach hinein, weil sie annahmen, sie würden dort duschen, und statt des Wassers stellten wir Giftgas an.“ Gilbert, der sich im Umfeld des Nürnberger Tribunals mit der Psychologie bekannter Nazis auseinandersetzte, konstatierte, wie „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe 49 im Jahr 1958 festhielt: „Höß, der nach eigenem Geständnis dreieinhalb Jahre lang die größte Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten befehligte, habe eine Art verspätetes Interesse an der Ungeheuerlichkeit seines Verbrechens gezeigt. Dieses Interesse sei eher sachlicher als moralischer Natur gewesen.“ Soweit also die historisch belegte Rolle, die Rudolf Höß bei den ungeheuerlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit spielte.

Die Konzentration auf die private Seite von Rudolf Höß, die Jonathan Glazer in The Zone of Interest vornimmt, erweist sich als scharfer Kontrast. Der sich noch dadurch verstärkt, dass Glazers Inszenierung eine strikte Beobachterrolle einnimmt, um das Alltagsleben von Familie Höß in seiner geradezu biederen und banalen Normalität zu zeigen. Dass dieser Normalität eine furchtbare Absurdität anhaftet, sickert jedoch immer wieder durch. Die Mauer, mit der sich das Höß-Anwesen vom Konzentrationslager abgrenzt, dient zwar als eine Art Sichtschutz, doch das Grauen lässt sich nicht einfach aussperren. Besonders auf der Tonebene macht Glazer das deutlich. Die ständig gebrüllten Kommandos der Wachmannschaften, Schreie und immer wieder auch Schüsse bilden in The Zone of Interest jenen permanent vorhandenen akustischen Hintergrund, der aus dem Lager herüberschwappt und zum Begleiter des Alltags von Familie Höß wird, die sich aber augenscheinlich in ihrem privaten Eden dadurch nicht stören lässt. Diese Fähigkeit, furchtbare Untaten, die in unmittelbarer Nachbarschaft geschehen, einfach auszublenden, erscheint auch wie eine Analogie zum Umgang der Menschen in Nazi-Deutschland mit dem unmenschlichen Charakter des Regimes. Die Grenze zwischen dem nach Kriegsende in weiten Teilen der Bevölkerung postulierten Nicht-Wissen bezüglich der Verbrechen der Nazis und dem Nicht-wissen-Wollen verlief oft reichlich diffus.

Was im Fall von Rudolf Höß keine Frage des Wissens war, sondern vielmehr die Fähigkeit, sich gleichsam in zwei Persönlichkeiten aufzuspalten. Dem Kommandanten von Auschwitz als einem der schlimmsten Täter stand der fürsorgliche Familienvater gegenüber. Auch eine von Höß’ Töchtern spricht in einem Interview mit dem „Stern“ aus dem Jahr 2015 diesen Gegensatz an, wenn sie an den liebevollen Umgang ihres Vaters mit den Kindern denkt: „Vati war zwei Personen. Wie kann man so gut sein und gleichzeitig das andere machen?“ Und sie zitiert aus einem Brief, den Rudolf Höß knapp vor seiner Hinrichtung an seine Frau Hedwig geschrieben hatte: „Ich, der ich von Natur aus weich, gutmütig und stets hilfsbereit war, wurde zum größten Menschenvernichter, der kalt und bis zur letzten Consequenz jeden Vernichtungsbefehl ausführte.“

Christian Friedel macht in seiner Verkörperung von Rudolf Höß diesen Gegensatz mit einem Sprachduktus, der in seiner melodiösen Sanftheit so überhaupt nicht mit einem massenmörderischen SS-Schergen in Einklang zu bringen scheint, auf irritierende Weise deutlich. Hedwig Höß wiederum erscheint in Sandra Hüllers Darstellung als zuvorderst um ihr perfektes Heim bemühte Frau, hinter deren beinahe hektisch anmutenden Geschäftigkeit jedoch Gefühlskälte stets präsent ist.

ANNÄHERUNG AN DAS UNNENNBARE

Die filmische Darstellung des Holocaust und vor allem die damit verknüpfte Frage, wie man einem Verbrechen von so ungeheurer Dimension überhaupt gerecht werden kann, hat sich naturgemäß als diffizile Angelegenheit erwiesen, die oftmals für auch heftigen Diskurs gesorgt hat. „Das Unnennbare benennen!“, wie Claude Lanzmann, dem mit dem neunstündigen Dokumentarfilm Shoah (1985) eine einzigartige Auseinandersetzung gelungen ist, diese Herausforderung nannte. Lanzmann begegnete ihr, indem er in Shoah – wie auch in seinen darauf folgenden filmischen Arbeiten, die sich mit dem Holocaust befassen –, auf Archivaufnahmen verzichtet und ausschließlich Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen lässt. Claude Lanzmanns grandioses Œuvre nimmt zweifellos eine herausragende Stellung im dokumentarischen Fach ein, doch der strikte Zugang, was die Gestaltung angeht, macht in dieser Konsequenz seine Filme auch zu singulären Größen. Alain Resnais, der sich 1955 in Nuit et brouillard (Nacht und Nebel) in einer der ersten Dokumentationen nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem System der Konzentrationslager befasste – und die ebenfalls als eine der maßgeblichen Arbeiten gilt –, entschied sich dabei für einen essayistischen Ansatz, bei dem er Archivbilder, eigens gedrehtes Material von den Orten, an dem sich die Lager befanden, einen Off-Kommentar des Schriftstellers und Mitgliedes der Résistance Jean Cayrol sowie die von Hans Eisler komponierte, kontrapunktische Filmmusik einsetzte. Dass das Annähern an das Unnennbare mit Mitteln des fiktionalen Films eine noch heiklere Aufgabe ist, die noch mehr geeignet ist, Kritik bezüglich der Methodik nach sich zu ziehen, liegt auf der Hand und hat sich durch die Filmgeschichte gezogen.

Jonathan Glazer hat sich auf jeden Fall für einen Zugang entschieden, der in seiner Radikalität verstörend erscheint. The Zone of Interest beruht auf dem gleichnamigen Roman von Martin Amis, wobei Glazers Skript wirklich nur lose an die Buchvorlage anknüpft. Amis verwendet etwa drei Erzählperspektiven – die eines SS-Offiziers, die des Lagerkommandanten und die eines jüdischen Lagerinsassen, der einem der Sonderkommandos angehört –, zudem kommt einem Handlungsstrang um den Offizier, der sich in die Frau des Kommandanten (der im Roman nicht Höß, sondern Paul Doll heißt) Bedeutung bei. Auf derartige narrative Stränge verzichtet Glazer und konzentriert sich, wie bereits erwähnt, auf eine Erzählperspektive, die das „normale“ Leben von Familie Höß beobachtet. Dazu baute Szenenbildner Chris Oddy in Auschwitz nur wenige hundert Meter von jenem Ort entfernt, an dem sich das Anwesen befunden hatte, das Haus von Familie Höß originalgetreu nach. Um den Beobachterstatus auch visuell entsprechend zu etablieren, installierten Glazer und Kameramann Lukasz Z˙al in den Räumlichkeiten der Villa ein Netzwerk an Kameras, womit auch gleichzeitig in verschiedenen Räumen stattfindende Abläufe aufgenommen werden konnten. Eine Konzeption, die Regisseur Glazer bewusst überspitzt als „Big Brother in der Nazi-Villa“ bezeichnet und die auf den ersten Blick Irritationen hervorrufen mag.

Doch genau aus dem Kontrast zwischen der scheinbar neutralen Beobachtung des (vermeintlichen) Familienidylls und dem Grauen des Holocaust bezieht The Zone of Interest seine höchst beklemmende, aber intensive Wirkung. Denn obwohl das massenhafte Morden nicht ins Bild gerückt wird, ist das Grauen latent vorhanden. Das kleine, private Glück, das sich Herr und Frau Höß aufgebaut haben, indem sie mit entsprechender Gefühlskälte das allgegenwärtige Grauen ignorieren, erscheint bald schon wie ein eisiges Trugbild. Und möglicherweise ist ein aufwühlender und damit Diskurs generierender Ansatz wie jener in The Zone of Interest genau passend, um die historische Dimension des Holocaust in seiner unmenschlichen und verbrecherischen Einzigartigkeit wieder bewusst zu machen. Das erscheint angesichts von Relativierungsversuchen, die man vor nicht allzu langer Zeit in dieser Form nicht für möglich gehalten hätte, dringend notwendig. So hatte doch Alexander Gauland 2018 – zu diesem Zeitpunkt Partei- und Fraktionsvorsitzender der AfD –, gemeint: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“

Rudolf Höß sollte nach Kriegsende übrigens an den Ort zurückkehren, den er und seine Frau als Wohnsitz so geschätzt hatten. Am 16. April 1947 wurde der für seine Verbrechen zum Tod verurteilte Höß auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz hingerichtet. Der Galgen befand sich nur 100 Meter von seiner Dienstvilla entfernt.