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Jane Campion – The Power of the Dog / Netflix

Jane Campion | Literatur

Die, die zu wollen wagen

| Jakob Dibold |
Zum siebzigsten Geburtstag von Jane Campion: Betrachtungen ihres Werks und Einblicke in die kürzlich erschienene Monografie „Jane Campion & ihre Filme“ von Marisa Buovolo.

 

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Es gibt so viele Gründe, zu schreiben; dass Menschen das Geschriebene dann lesen, kann selbstredend genauso aus den verschiedensten Motivationen heraus geschehen. Eine ziemlich witzig zweckdienliche davon wird in Bright Star (2009) einem verdutzten Buchhändler von einem kleinen Mädchen eröffnet, die mit folgenden nachdrücklichen Worten erklärt, wieso sie und ihr Bruder den Gedichtband „Endymion“ von John Keats jetzt bitte einfach erwerben müssen: „My sister has met the author and she wants to read it for herself to see if he’s an idiot or not.“ Eine frühe Pointe in Jane Campions Film über eben diese ältere Schwester, Fanny Brawne, und deren Beziehung zum posthum berühmt gewordenen Dichter, in dem letztlich faktenbasiert die Tragik überwiegt. Die Literatur und das Schreiben spielen in der Arbeit der 1954 in Wellington geborenen Filmemacherin, die am 30. April 2024 siebzig Jahre alt wird, eine sehr große Rolle: Sei es als konkretes biografisches Sujet, wie außerdem in An Angel at My Table (1990), einer glänzenden Inszenierung des Lebens der Schriftstellerin Janet Frame, die mit teils kaum zu glaubenden Widrigkeiten zu kämpfen hatte, ehe sie für das, was sie wollte – und exzellent konnte –, gewürdigt wurde; natürlich in ihrer Funktion als Drehbuch-Verfasserin – Campions in The Piano resultierendes Original Screenplay wurde mit dem Oscar prämiert; schließlich in der Methode des Roman-Verfilmens, welche sich im Lauf ihrer Karriere als eine der wesentlichen Stärken Campions erwiesen hat. Zu The Piano schrieb sie mit Kate Pullinger zudem ein Buch zum Film, ein solches ebenfalls mit ihrer Schwester Anna zu Holy Smoke (1999; auch das Filmskript verfassten sie zu zweit), begleitend zu Bright Starlieferte sie ein Vorwort zu einer neuen John-Keats-Edition.

Nachzulesen gibt es Details zu all dem und mehr bereits in etlichen Büchern über das so einflussreiche Schaffen Jane Campions; deutschsprachige Publikationen, die der seit den achtziger Jahren primär in Sydney lebenden Neuseeländerin ausführliche Aufmerksamkeit widmen, sind dagegen rar. Mit „Jane Campion & ihre Filme“ ist nun der Kulturwissenschaftlerin Marisa Buovolo eine Monografie gelungen, die sowohl mit scharfer eigener Beobachtungsgabe das Werk Campions wie auch vorangehenden Diskurs über die Regisseurin vorstellt. Sachlich und dennoch aus der Perspektive jener intensiven Beeindruckung, die die Filme Campions auslösen – spürbar mitunter bei einigen der zitierten Forschenden selbst. Es geht hier tatsächlich, wie Buovolo belegt, um eine Filmemacherin, die von ihren Anfängen an derart stark diskutiert worden ist, dass ihren Arbeiten zugeschrieben werden kann, gleichsam die Geschichte der feministischen Filmtheorie in nicht zu vernachlässigendem Ausmaß mitgeschrieben zu haben. Und es geht um eine Filmemacherin, die Rekorde, Meilensteine des „Erste-Frau-bei-etwas-Seins“ personifiziert, deren Verdienst und Wirkung aber, Kat Sachs stellt dies in Mubis „Notebook“ schön fest, damit nur unzureichend erfasst sind: „More than just the first of anything, she’s one of the best working today.“

JAN, JANE, JANET … UND DIE ANDEREN

Ein Kapitel von „Jane Campion & ihre Filme“ behandelt, um beim Schreiben zu bleiben, explizit eine Frage, die im Filmkontext eine noch kompliziertere ist: Was ist überhaupt eine Autorin? Buovolo schlägt dabei ausgehend von Deb Verhoeven den Begriff der „Post-Autorin“ vor – also kollektives Erschaffen und Werden statt autoritärem Top-Down-Genie. Es ist unübersehbar, dass der Praxis Jane Campions Ko-Autorinnenschaft in diesem Sinne innewohnt, sie ist geprägt von jahre-, ja jahrzehntelangen Zusammenarbeiten. Die zentralsten Namen hier: Jan, Jane und Janet, rund um Campion die Produzentin und wichtige frühe Förderin Jan Chapman und die Ausstatterin Janet Patterson, die in vielen Filmen Campions das Kostüm- und Szenenbild verantwortete. Die bekleidungstechnischen Gesichtspunkte bei Campion untersucht Buchautorin Buovolo, Expertin für die Verstrickungen von Mode, Kostüm und Gender, gründlich und eindrücklich; es liegen dafür (wenngleich nicht nur) die sogenannten Kostüm-Filme nahe: Im im Nachhall des großen Erfolgs von The Piano von der Kritik vielleicht etwas überhörten The Portrait of a Lady (1996), einer Henry-James-Verfilmung (Drehbuch: Laura Jones, die auch schon Janet Frames autobiografische Schriften für An Angel at My Table adaptierte), bietet Patterson einerseits, so Buovolo, unterschiedliche Lesarten des Schleiers an, andererseits nehmen sie und Campion sich des Korsetts als Kleidungsstück Besitzanspruch erhebender männlicher Umklammerung an. Einmal metaphysisch in einer experimentellen Sequenz (die insgesamt auf die Gebrüder Lumière anspielt), einmal still anklagend: Während eines ausgelassenen Tanzabends werden reihenweise Frauen, die keine Luft mehr bekommen, wie beiläufig aus der Szene getragen, die Party pausiert nicht. Einen Sonnenschirm deutet Janet Patterson in diesem Period Drama mit reichem Subtext derweil zu einem verhängnisvollen Hypnoseobjekt um. Und in Bright Star ist die Selbstbestimmtheit der Protagonistin zur Abwechslung erfreulich in Textilien angelegt: Fanny Brawne näht Kleidung selbst, und vermag, wie sie in einer an Keats’ Dichterkollegen gerichteten Spitze klarstellt, im Gegensatz zu den Poeten mit ihrer Kunstfertigkeit sogar Geld zu verdienen. Der Film war Campions letzter mit Janet Patterson, die 2016 verstarb, sowie ihr (bislang) letzter von Jan Chapman produzierter. Für das gefeierte Comeback The Power of the Dog (2021) tat sich die Regisseurin nach An Angel at My Tableabermals mit Szenenbildner Grant Major zusammen, dem – so verfliegt die Zeit – inzwischen für seine Tätigkeit bei der Lord of the Rings-Trilogie Weltgeltung (Oscar für Teil drei) zuerkannt worden war. Für Campions Westerndrama wurde er wieder für einen Academy Award nominiert.

DISKURSBILDER

Den Production-Design-Oscar gewann diesmal jedoch Patrice Vermette für Dune – was wiederum Hinweis auf eine Querverbindung der (jüngeren) Filmhistorie ist, die so offensichtlich sicher nicht ist: Dune gewann in Person von Greig Fraser auch die Auszeichnung für die Beste Kamera, und wirklich sieht man Jahre davor in Jane Campions Bright Star – mit Ausnahme des stellaren Titels der Wüstenaction sonst maximal unähnlich – den Einfluss Frasers; mit präzise-narrativen Totalen hat kein Campion-Film davor derart dezidiert operiert. Obwohl bei der offiziell in Malerei studierten Filmemacherin außergewöhnliche Bildwelten bekanntermaßen ein essenzielles Merkmal ausmachen. Nimmt man nur den in Cannes preisgekrönten Kurzfilm Peel (1986) mit seinen eine Verkehrslage eskalierenden Orangenschalen oder den transgressiven Aufstand wider die Kernfamilie in Sweetie (1989) her – Kamerafrau Sally Bongers ist die erste kongeniale Kamera-Komplizin Campions –, wird schon evident: Seit Anbeginn sind aus dem Rahmen fallende Bilder, oft schwingend zwischen Opulenz und augenzwinkernder Finesse, ein Grundpfeiler im Kino Jane Campions.

Weil darin eigentlich immer das von Frauen ausgeübte – oft begehrende – Sehen und Schauen entscheidend ist, wurden und werden ihre Filme facettenreich und kontrovers u. a. daraufhin diskutiert, inwiefern sie feministische Geschichten bedeuten. Und weil Campion sich für das Uneindeutige, für Grenzverschiebungen interessiert, für die Realität von Frauen in Gesellschaften, die ihnen Sexualität zum einen absprechen, zum anderen gewaltvoll aufdrängen, sowie die daraus entstehenden konfrontativen Momente, brachten und bringen diese Debatten zahlreiche konträre Ansichten zutage. So hob etwa die Schwarze Feministin und antirassistische Aktivistin bell hooks hinsichtlich The Piano hervor, wie das sexuelle Erwachen der Hauptfigur Ada letztlich in einer Selbstaufgabe mündet, die jedoch romantisiert wird. Kritik an der Darstellung des im Film zentralen, problematischen Verhältnisses – Buovolo führt im Buch diverse Einschätzungen dazu an, die Einordnungen reichen bis zum Tatbestand der Vergewaltigung –, ist von hooks oder auch der Filmwissenschaftlerin Leonie Pihama um koloniale Aspekte erweitert worden. Tatsächlich scheint der Film dahingehend nicht sonderlich gut „gealtert“; Campion traf jedenfalls später in ihrer TV-Serie Top of the Lake (2013/2017) repräsentative Entscheidungen, die von einer verstärkten Sensibilität bezüglich der kolonialen Vergangenheit von Aotearoa/Neuseeland, die ins Heute nachwirkt, mehr denn nur alibihaft zeugen.

Was gibt Jane Campions Kino auch abseits des berühmtesten nicht alles zu sehen: Die normierte Familie unternimmt in Holy Smoke den nächsten Einengungsversuch. Kate Winslet ist Ruth, eine rebellierende junge Frau der Y2K-Ära; die konservativen Eltern locken sie de facto in den Outback-Hausarrest mit einem (vermeintlich) unverwüstlichen Macho. Hier soll Harvey Keitel als „Deprogrammer“ P.J. Ruths Treue zu einem indischen Guru brechen – es folgt allerseits die totale Verwirrung, die parodistisch überhöhte Dekonstruktion des Mannes ì Das gefiel vielen weitaus weniger als die Piano-Story. Der Wille, nicht gefallen zu müssen, nicht mit der Absicherung der „richtigen“ Standpunkte zu erzählen, sondern genau dort hinzugehen, wo Dinge zur Debatte stehen, ist in Jane Campions Werk stilprägend – ihre Filme befördern Diskurs eben deshalb, weil Campion stets darauf besteht, dass Frauen alles zu wollen und zu tun erlaubt sein muss, egal wie „falsch“ es anmuten mag. Radikal verfolgt Campion dies in In the Cut (2003), geschrieben und in Szene gesetzt nach dem gleichnamigen Roman von Susanne Moore, wo sich Meg Ryan auf eine ihrem Image zuwiderlaufende Charakterreise – auch dies eine Grenzverschiebung – in Form eines gialloinspirierten, mörderischen Großstadtalbtraums im noch frisch von 9/11 erschütterten New York City begibt. Die literarischen Aspekte sind bemerkenswert, so sollen die Englisch-Schüler der Hauptfigur Virginia Woolfs Klassiker „To the Lighthouse“ (1927) lesen und arbeitet die Story in Folge lose und fatal mit Motiven daraus.

WEGWEISEND

In the Cut ist ein brutaler, ein verstörender Film, und in Campions Filmografie sicher die extremste Zeichnung dessen, wozu Männer fähig sind. Natürlich sind es die Männerfiguren, beziehungsweise – wie Buovolo im letzten Abschnitt der Monografie gut darlegt – grundsätzliche Fragen von Männlichkeit(en), die dem in Campions Werk so präsenten Thema unterdrückter und ausbrechender Körper oft maßgeblich scheinen; gerade in der reell gegebenen Ausprägung eines Mannes als Aggressor. Nicht vergessen werden sollten aber auch Positionen wie Two Friends (1986), in dem – war das damals denn etwa nicht besonders? – die rückwärts beobachteten Entwicklungsstufen einer Freundinnenschaft „genügend“ Inhalt für den Debüt-Langfilm geben. Des Weiteren ist der Mann bei Campion mitnichten nur eine Bedrohung (wiewohl darin oft Attraktivität liegt, ähnlich den beiden Charakteren Harvey Keitels von Mark Ruffalo in In the Cutdemonstriert); als größter Gegenentwurf verkörpert Ben Wishaw mit seiner Version des John Keats einen Mann blumiger Zartheit und, noch fundamentaler, von physischer Ungefährlichkeit, währenddessen sein dichterischer Mitstreiter Charles Armitage Brown mehr als nur amikale, also verbotene, Gefühle für ihn hegen dürfte. Damit weist Bright Star durchaus auf Benedict Cumberbatchs an ihrer Selbst-Unterdrückung leidenden Figur Phil Burbank und den jungen, (vermeintlich) soften Peter Gordon in The Power of the Dog voraus.
Bewiesen gilt, dass sich Jane Campions Filme ausgezeichnet im filmanalytischen Hinblick darauf anschauen lassen, wie sie gängige Male-Gaze-Strukturen sowohl kompositorisch als auch erzählerisch unterlaufen, Basis ist meist die Grundpositionierung der Frau als autonom. Marisa Buovolo plädiert in „Jane Campion & ihre Filme“ darüber hinaus aber äußerst variantenreich und schlüssig dafür, dass sich dieses Œuvre vortrefflich auch ganz und gar visuell, mit Offenheit, sozusagen mit Entdeckungsfreude jenseits von zu fester theoretischer Ummauerung erfahren lässt. Ob und wann Jane Campion dieser Möglichkeit einen neuen Film hinzufügt, ist öffentlich nicht bekannt. Das jüngst, im Herbst 2023, zu Ende gegangene Projekt der Filmemacherin war das Betreiben einer Intensiv-Filmschule, die jungen Filmschaffenden die einmalige Chance bot, ihre eigene Arbeit im Austausch mit einer der renommiertesten Regisseurinnen der Welt weiterzuentwickeln. Hauptfinanziert wurde das Projekt, wie der letzte Spielfilm, von Netflix.

Als im Juni 2023 das Sydney Film Festival siebzigjähriges Bestehen feierte, war ein Jane-Campion-Schwerpunkt ein fixer Teil der Festivitäten, und man lud Campion zu einem ausgiebigen Bühnen-Publikumsgespräch ein. Ihr dort verlautbarter Rat an nächste Generationen: „Lead by inspiration, by what’s positive, what you love. Make that the biggest thing in your life and it will give you the strength to do what you want to do. Don’t bother with the rest. Try the lens of ‚I love this idea. I want to do it‘“. Hier zeigt sie sich wieder, die Frage nach Motivationen des Lesens und Schreibens, des Schauens und Machens, Schaffens, Erzählens. Womit sich final von den Bildwelten Jane Campions in die allerletzten Zeilen von Virginia Woolfs „To the Lighthouse“ schneiden lässt, zum schon schier ewig unfertigen Bild, auf das Lily Briscoe blickt: „Quickly, as if she were recalled by something over there, she turned to her canvas. There it was – her picture. Yes, with all its greens and blues, its lines running up and across, its attempt at something. It would be hung in the attics, she thought;Åit would be destroyed. But what did that matter? she asked herself, taking up her brush again. She looked at the steps; they were empty; she looked at her canvas; it was blurred. With a sudden intensity, as if she saw it clear for a second, she drew a line there, in the centre. It was done; it was finished. Yes, she thought, laying down her brush in extreme fatigue, I have had my vision.“