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Malmkrog | Interview

Die Gedanken sind frei

| Pamela Jahn |
Der rumänische Filmemacher Cristi Puiu macht sich mit seinem mehr als dreistündigen „Malmkrog“ vielleicht nicht nur Freunde, hat aber großes Kino geschaffen. Ein Gespräch über das Mammut-Projekt, Ehrlichkeit und die Grenzen des rationalen Denkens.

Dieser Film ist ein großes Argument. Dafür, dass einander Wort und Kunst im Kino nicht widersprechen müssen. Dass auch ein intensiver Diskurs, klug gefilmt und geschnitten, spannend sein kann wie ein Thriller. Und dafür, dass ein gewagter ästhetischer Wurf oftmals Mut zum Extremen erfordert – und zum Verweilen. Dem großen rumänischen Auteur Cristi Puiu, der vor 15 Jahren mit The Death of Mr. Lazarescu die sogenannte rumänische Neue Welle mitinitiierte, gelingt in Malmkrog, seinem neuen und bisher ästhetisch mit Abstand anspruchsvollsten Werk, ein ganz besonderes Experiment: Basierend auf einem Essayband des russischen Philosophen Wladimir Solowjow gestaltet sich die Tafelrunde im aristokratischen Herrenhaus des Gutsbesitzers Nikolai auf der Leinwand zu einer wahren Tour de Force des Denkens: Ein Politiker, ein General mit seiner Frau, eine junge Dame und eine russische Gräfin begeben sich in gepflegter Gesellschaft auf eine gedankliche Reise durch die Historie, versuchen, ihre jeweiligen Standpunkte zu vertreten, diskutieren in kammerspielartiger Atmosphäre über Tod und Antichrist, Glaube und Atheismus, Fortschritt und Moral, Nationalbestrebungen und europäische Ideen.

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Malmkrog, benannt nach dem Ort des Geschehens, ist ein Film, der das Gesagte nicht lediglich in Szene setzt, sondern auf eine formal durchkomponierte und in seiner Raffiniertheit faszinierende Weise erfahrbar macht. Dass Puiu, dessen Werke sich bisher nie einem bestimmten System, Geschmack oder Genre unterworfen haben, auch diesmal nicht davor zurückschreckt, anzuecken oder gar in die Ungunst des Publikums zu fallen, ist ihm speziell bei diesem Kraftakt von einem Film hoch anzurechnen. Aber so ist der 1967 in Bukarest geborene Drehbuchautor und Regisseur: ein Querdenker und Einzelgänger, der auch im Gespräch seinen eigenen Standpunkt stets eloquent zu vertreten weiß.

 

Was beim Sichten Ihres neuen Films besonders auffällt, sind die Farben und das Licht und wie Sie beides einsetzen, um die Atmosphäre in den herrschaftlichen Räumlichkeiten zu verdichten, in denen sich die Gespräche dieser sonderbaren Tafelrunde abspielen. Sind Sie dabei einer bestimmten Methode gefolgt?
Sagen wir es einmal so: Bei jedem Film, den ich mache, habe ich bestimmte Referenzen im Kopf, die ich in Erwägung ziehe. Das geschieht völlig unterbewusst. Man verlässt sich auf seinen Instinkt. Und als ich die Filme drehte, die heute als rumänischer Realismus bezeichnet werden, hatte ich die Textur von Dokumentarfilmen im Hinterkopf. Bei Malmkrog wiederum ist es eher eine Empfindung, als würde ich mich in die Gedanken eines Künstlers oder Schriftstellers des 20. Jahrhunderts hineinversetzen. Der Bezug war eher die Malerei und gar nicht unbedingt das Kino. Darum spiele ich auch eher damit, was in den Gemälden geschieht, die im Film an den Wänden hängen. Jedes einzelne dieser Bilder hat eine bestimmte Wirkung, eine spezifische Bedeutung sowohl für mich persönlich als auch für den Film. Die Gemälde sind definitiv mehr als nur Dekoration, sie geben die Richtung vor. Und die Farben und das Licht, das spielt da alles mit hinein.

Sie kommen selbst von der Malerei, haben erst Kunst studiert, dann Regie. Was kann das Kino, was die Malerei nicht vermag?
Ein Gemälde ist mehr als nur ein optischer Gegenstand, so wie ein Film mehr ist als eine Abfolge von Bildern. Es kommt beim Kino nicht auf die Handlung an, auch nicht auf die Schauspielerei. Kino ist etwas anderes. Kino ist mehr. So wie auch bei einem Gemälde nicht die Figuren das Wichtigste sind, die darin abgebildet werden. Oder bei einem Gedicht nicht allein die sorgfältige Aneinanderreihung von Worten auf einem Blatt Papier zählt. Es geht im Grunde vielmehr um das, was der Film oder das Gemälde oder das Gedicht in ihrem Kern repräsentieren. Dafür eine allgemeine Definition finden zu wollen, was genau dahintersteckt oder worin der eigentliche Unterschied besteht, wäre extrem anmaßend und arrogant von mir. Es ist jedem selbst überlassen, wie er den Künsten und ihren Fähigkeiten gegenübersteht. Für mich scheint das Kino die geeignetere Ausdrucksform zu sein. Aber ich bin mir auch dessen bewusst, dass Malmkrog kein einfacher Film ist, ich bin auch nie davon ausgegangen, dass er es sein würde. Das Buch von Wladimir Solowjow ist auch nicht einfach. Aber das heißt noch lange nicht, dass es unverständlich ist. Wir vergessen heutzutage allzu oft, wie wichtig es ist, uns Fragen zu stellen zu dem, was wir sehen, hören oder lesen. Trotzdem ist es natürlich jedem selbst überlassen, das Kino zu verlassen, wann immer es einem beliebt. Wenn Sie meine anderen Filme kennen, wissen Sie bereits, dass mich das nicht stört.

Aber das heißt ja auch nur, dass Sie Ihr Publikum respektieren und nicht, dass Ihr Film schlecht nicht.
Ja. Ich glaube fest daran, dass nicht nur die Liebe, sondern jede Beziehung zwischen den Menschen auf Ehrlichkeit basiert. Und wenn ich aufrichtig sein will, muss ich die Geschichte so erzählen, wie ich sie mit meinen Augen sozusagen von meinem Fenster aus sehe. Ich werde nicht lügen. Nur weiß jedoch jeder, dass das Kino stets zu Propagandazwecken gebraucht werden kann und immer wieder dazu gebraucht wird. Wir wissen, dass Eisenstein Propaganda-Filme gedreht hat, so wie viele andere auch. Gleichzeitig gilt er als ein großer Filmemacher. Wie geht das zusammen? Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten im Kino: Wer kein Auteur ist, ist ein Propagandist. So einfach ist das. Demnach ist auch das kommerzielle Kino stets eine Form von Propaganda. Wenn man allerdings so wie ich einen Film macht, der nicht auf wirtschaftlichen oder sonstigen Erfolg ausgerichtet ist, dann tut man das aus der ehrlichen Intention heraus, dass das Ergebnis eine Repräsentation dessen ist, wer man in diesem Moment ist oder wie man sich fühlt. Wer weiß, in einem Jahr denke ich vielleicht auch, dass mein Film nichts taugt. Nullkommanichts. Aber das ist ein Risiko, das ich als Regisseur immer eingehen muss.

Hat die große Menge an Dialogen im Text Sie vor eine besondere Herausforderung gestellt?
Nicht nur mich, uns alle. Wer glaubt, dass man als Autor eines Films die Kontrolle über den Stoff hat, der irrt. Manches lässt sich steuern, aber am Ende kann man nicht mehr beeinflussen als ein Fischer das Meer. Man hat keine Gewalt darüber, wie viele Fische einem ins Netz gehen. Man kann nur früh aufstehen, das Netz auswerfen, abwarten und auf das Beste hoffen. Viel anders ist es beim Filmemachen auch nicht. Als Autor kontrolliert man nichts, man kann nur immer wieder auf die eigene Intention und Inspiration vertrauen. Ich kann es nicht erklären, es steckt etwas Geheimnisvolles darin. Ich kenne Solowjows Text. Ich habe ihn in den Neunzigern zum ersten Mal gelesen. Und ich habe ihn während der Arbeit an dem Film immer wieder und wieder gelesen. Ich habe den Text in Szene gesetzt, habe die Regie übernommen, habe ihn im Schnitt immer wieder gehört und während der Arbeit am Sound. Mit anderen Worten: Ich habe mich in jeder Phase und jeder Form mit dem Stoff auseinandergesetzt, von Anfang bis Ende, immer wieder. Und doch: Jedes Mal, wenn ich ihm erneut begegne, wird mir bewusst, wie einfach es ist, sich von seinen Gedanken auf eine falsche Fährte führen zu lassen. Wie oft man glaubt, etwas verstanden zu haben, um anschließend zu merken, dass man sich geirrt hat. Es gibt unendlich viel zu entdecken in diesem Text. Immer wieder hat man eine Offenbarung. Und ich dachte, wenn ich das so empfinde, dann spüren das die Zuschauer vielleicht auch. Eine Herausforderung, ja. Aber eine, auf die man sich immer wieder gerne einlässt, weil sie den eigenen Horizont erweitert.

Haben Sie einen Tipp, wie man Ihrem Film am besten begegnen sollte?
Offen. Es geht im Grunde nur darum, sich ohne Vorbehalte anzunähern. Aber ich weiß, dass das nicht einfach ist. So wie es nicht leicht ist, über den heiligen Geist zu reden. Ich komme aus einer Atheisten-Familie, aber meine Großmutter war streng- gläubig. Wir haben uns oft über sie lustig gemacht. Aber irgendwann kommt der Punkt, da wird einem klar, dass die Welt, in der man lebt, auch nicht das ist, was man sich immer vorgestellt hat. Ich bin ein rationaler Mensch, aber auch ich stoße immer wieder an die Grenzen des rationalen Denkens. Das ist ganz normal.

In welchen Momenten passiert Ihnen das?
In der Liebe, zum Beispiel. Wenn man sich überlegt, wie dumm man sich manchmal anstellt, wenn es darum geht, die eigenen Gefühle für einen anderen Menschen zu beschreiben. Man hört sich reden und weiß, dass Worte dem einfach nicht gerecht werden können, was man empfindet. Dann versucht man es vielleicht stattdessen mit Poesie und merkt, wie abstrakt das Ganze für einen Außenstehenden klingen muss. Es gibt Dinge, Erfahrungen, die jedem Menschen eigen sind, sie sich nicht teilen lassen. Darin liegt eine Grenze, und die bezieht sich auf unser Verhältnis zur Liebe wie zu Gott oder dem Urknall, was weiß ich – dazu steht jeder anders aus seiner eigenen Position heraus.

Glauben Sie, dass die Worte einen Teil Ihrer Intensität verlieren, wenn man sie im Film gesprochen hört und nicht wie im Buch beliebig oft nachlesen kann?
Darin lag die eigentliche Herausforderung. Ich musste mich überzeugen lassen. Aber auch das ist etwas, das man nicht erklären kann. Es ist, als würde man einen Musiker bitten, zu erklären, was er hört. Ich habe mit den Schauspielerinnen und Schauspielern gemeinsam am Text gearbeitet. Es war eine sehr singuläre Erfahrung für jeden einzelnen von uns. Der Film ist quasi am Set entstanden. Sie mussten ihre Dialoge lernen, aber keiner wusste genau, was am nächsten Tag gedreht würde. Auch ich nicht. So haben wir uns Schritt für Schritt voran gearbeitet. Und irgendwann kommt man an den Punkt, wo man merkt, das ist es jetzt. Stopp, halt, wir haben es.

Wie muss man sich Ihre Arbeit mit den Schauspielern konkret vorstellen?
Das Projekt begann mit der Zustimmung jedes Einzelnen, sich diesem Versuch anzunähern. Ich machte ihnen deutlich, dass eine unheimlich große Menge an Text vor uns liegen würde, und ich noch nicht genau wüsste, wer genau welchen Part spielen würde. Das heißt, sie mussten sich darauf einlassen, nach Rumänien zu kommen. Von dort aus fuhren wir nach Transsilvanien, um den Text zu lesen und über die Rollenverteilung zu entscheiden. Für sie alle war es schwierig, keine Frage, vielleicht sogar brutal. Auch ich kam an einen Punkt, an dem ich nicht mehr weitermachen wollte. Ich sprach mit meiner Frau Anca, die meine Filme produziert, und meinte, wir hätten nicht genügend Geld und ich vielleicht nicht die Kraft für so ein Mammut-Projekt. Ich sagte zur ihr, ich würde mir lieber „Die Dämonen“ vornehmen. Also begann ich, Dostojewski zu lesen. Aber weil die Schauspielerinnen und Schauspieler unsere schmalen Gagen akzeptierten und alle zustimmten, haben wir die Sache schließlich doch durchgezogen. Und auch das ist extrem wichtig, finde ich. Wenn man einen Film wie diesen anfängt, muss man wissen, dass man am Ende wenigstens den Cast bezahlen kann. Davon abgesehen gibt es noch ein paar offene Rechnungen, aber das sind Details. Was zählt, ist, dass es den Film gibt. Vielleicht ein Albtraum für so manchen Zuschauer. Vielleicht eine Bereicherung. Aber darüber zu urteilen, bleibt jedem selbst überlassen.