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Die Wütenden – Les Misérables

Filmkritik

Die Wütenden – Les Misérables

| Manuel Simbürger |
Das Oscar-nominierte Erstlingswerk von Ladj Ly zeichnet mit furchtloser Authentizität, gnadenlosem Nihilismus und rasantem Tempo ein verstörendes Sittenbild des aktuellen Frankreich.

Als der Polizist Stéphane sich nach Paris versetzen lässt, ahnt er noch nicht, was sein Einsatzort im Pariser Vorort Montfermeil für ihn bedeutet. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern der engen Sozialbauten und der Polizei. Doch auch innerhalb der multikulturellen Gemeinschaft sind die Konflikte zahlreich. Zunächst ist Stephane noch irritiert von der zynischen und diskriminierenden Haltung, mit der seine korrupten Kollegen Gwada und Chris in Montfermeil ihren Job verrichten. Doch bereits während seiner ersten Streife bekommt Stéphane den Hass und das Misstrauen, mit dem der Alltag hier aufgeladen ist, zu spüren. Als die Polizisten bei einem Einsatz einen kleinen Jungen schwer verletzen, kocht die Wut der Einwohner hoch und die Situation im Viertel droht zu eskalieren

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Die Wütenden ist keine Neuverfilmung von Victor Hugos Roman, im Gegenteil: Statt pathosgeschwängerten Musical-Songs präsentiert uns das Langfilmdebüt des französischen Filmemachers Ladj Ly einen knallharten Cop-Thriller mit dokumentarischem Hintergrund, der dank schnellen, harten Schnitten, Laienschauspielern und wackeliger Handkamera gnadenlose Authentizität in den Fokus stellt. Eine Authentizität, die wachrütteln soll und jene Veränderung (im Zuschauer) herbeiführen will, die dem Pariser Vorort Montfermeil seit Jahrzehnten, gar Jahrhunderten verwehrt bleibt: Montfermeil hat nämlich seinen schreckensbesetzten Platz in der französischen Geschichte, war der verwahrloste Vorort doch nicht nur Ausgangspunkt der Frankreich-weiten Vorstadtunruhen 2006, sondern ist auch der Schauplatz von Hugos Roman – womit der Kreis zum Romantik-Werk geschlossen wäre. Als Chris in einer Szene hasserfüllt, ironisch grinsend und einen arabischen Akzent imitierend zu Stéphane meint, dass Gavroche heutzutage wohl Gavarache heißen würde, spielt Ly nicht nur auf den überproportional großen Anteil der ausländischen Bewohner Montfermeil an, sondern vor allem darauf, dass sich seit Hugos literarischem Sittenbild im Grunde so gut wie nichts verändert habe. Und seit den Unruhen vor 14 Jahren ohnehin nicht.

Dass in Frankreich (bzw. dessen Vororten) zwar die Umstände dieselben geblieben sind, aber nicht die Menschen darin, auch das will Ly betont wissen – und zwar bereits in der Eröffnungsszene des Films: Frankreich feiert den Sieg beim World Cup 2018, die Straßen sind voll von Fußballfans. Fans aus unterschiedlichen Kulturen, mit unterschiedlicher Hautfarbe, allesamt eingehüllt in die französische Flagge. Schon in den ersten Minuten zeigt Ly, dass es ihm in Die Wütenden um Politik geht, um die Beschreibung eines aktuellen Zustandes, um das komplexe Verhältnis zwischen Idealisierung und Realität. Auf all die Forderungen rechter französischer Politiker, Frankreich müsse aufgrund der „Migrationswelle“ erneut „mehr französisch“ werden, gibt Ly nur eine Antwort: Diese Menschen SIND französisch.

Die größte Wucht und beinahe körperliche Sogwirkung entfaltet Die Wütenden ohnehin immer dann, wenn Ly nicht versucht, einer erzwungenen Dramaturgie zu folgen, sondern sich hemmungslos einem Nihilismus hingibt, der in seiner Grundtendenz „zugleich eine tiefe Bemühung um sozialen Realismus erkennen lässt“, wie die FBW, die dem Film das Prädikat „besonders wertvoll“ verlieh, treffend analysiert. Ly vermeidet erfolgreich das Malen eines Schwarz-Weiß-Bildes: Die Bewohner des Viertels werden in ihrer ausweglosen Situation zwischen Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und kriminellen Vergehen ebenso ernstgenommen wie die Polizisten, die zwischen all der Härte inzwischen selbst abstumpfen und glauben, nur noch mit Gegengewalt agieren zu können. Der Film verurteilt keine Seite und zeigt deutlich die Gräben, die ein Miteinander erschweren. Dadurch ergibt sich ein komplexes Bild des gegenwärtigen Frankreichs; Die Wütenden wird, ähnlich wie Hugos Les Misérables, zu einer kraftvollen, atemlosen Milieustudie, die keine Angst hat, genau dann den Blick draufzulassen, wenn wir eigentlich gerne wegschauen würden. Das gewalttätige Aufeinandertreffen zwischen Polizei und Einwohner ist zwar eine logische Folge, aber deshalb nicht weniger schockierend.

Die Nähe zu seinen Protagonisten liegt allen voran in der Biografie Lys begründet, der sich schon 2007 in einem Dokumentarfilm mit den Problemen Montfermeils beschäftigte, wo er selbst aufwuchs. Zudem basiert Die Wütenden auf Bildern eines brutalen Polizeieinsatzes aus 2008, die Ly eher zufällig aufnahm und die ausschlaggebend für die Verurteilung der Polizisten war. Auch der Filmemacher selbst wurde in seiner Jugend bereits zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Lys persönliche Erfahrungen sowie das ausschließliche Arbeiten mit (Profi- und Laien-)Schauspielern aus Montfermeil ergeben eine im Kino viel zu seltene authentische Binnenperspektive, die auch lange nach Ende des Films nachwirkt.

Vollkommen zurecht also wurde Die Wütenden bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jury-Preis beim Festival in Cannes. Bei den diesjährigen Academy Awards darf er auf den Preis als bester fremdsprachiger Film hoffen. Die Chance zu gewinnen stehen gut.