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Digitale Bildgestaltung – Malen nach Zahlen

Digitale Bildgestaltung - Malen nach Zahlen

| Jan Pehrke |

Video ersetzt als Aufnahmeformat zunehmend das Zelluloid. Hollywood-Großproduktionen wie Zodiac oder Miami Vice nutzen die neue Technologie ebenso selbstverständlich wie die Autorenfilmer Jia Zhangke oder David Lynch. Aber was bedeutet es für das Verhältnis des Kinos zur Welt, wenn die „äußere Realität“ nur noch virtuell als Datenmenge vorliegt?

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Film ist tot, es lebe das Kino!“ – Dieses Fazit zog Francis Ford Coppola nach den Youth without Youth-Dreharbeiten mit einer High-Definition-Videokamera. Und tatsächlich stirbt das gute alte Zelluloid auf Raten, seit Lars von Trier und seine Dogmatiker begannen, die kleine DV-Kamera von Sony zu schwingen. Sahen Von Trier & Co Video gerade aufgrund seiner technischen Defizite als Mittel der Wahl an, um mit kleinen, schmutzigen Filmen „Authentizität“ auf die Leinwand zurückzuholen, so gilt das Medium inzwischen auch im visuell anspruchsvollen Hollywood als hoffähig. Heutzutage deckt das digitale Aufnahmeverfahren die ganze Produktpalette von Großproduktionen wie Zodiac, Miami Vice, Collateral, Star Wars III, Grindhouse und Déjà Vu bis hin zu Autorenfilmen wie Inland Empire, Still Life, The World, Waking Life, Ein perfektes Paar, Falscher Bekenner, The Brown Bunny, Sarabande und L’Esquive ab.

Selbst ein geübter Blick vermag manchmal die unterschiedlichen Formate nicht mehr zu unterscheiden. Trotzdem hat sich mit dem Siegeszug des Digitalen Entscheidendes verändert: der Status des Bildes. Eine HD-Kamera kann zwar einen ebensolchen Realitätseindruck vermitteln wie ein 35mm-Gerät, aber sie tut dies auf eine ganz andere Weise. Der französische Filmtheoretiker André Bazin, der die Nouvelle-Vague-Generation entscheidend geprägt hat, leitete einst aus dem Entstehungsprozess einer Aufnahme eine ganze Ontologie ab. Die ohne menschliches Zutun durch ein Objektiv aufgezeichnete und qua Lichteinwirkung auf Zelluloid gebannte Welt galt ihm als Garant für die Objektivität der siebten Kunst. Wie sich das Gesicht Jesu auf dem Grabtuch der Veronika abzeichnete, so erscheine das Gesicht des menschlichen Leidens auf dem Film, schrieb Bazin mit religiöser Emphase. „Diese Entwicklung zur Automatik hat die Psychologie des Bildes radikal erschüttert“, heißt es in der „Ontologie des fotografischen Bildes“ in seinem Standardwerk Was ist Film?, die „Objektivität der Fotografie verleiht ihr eine Stärke und Glaubhaftigkeit, die jedem anderen Werk der bildenden Künste fehlt. Welche kritischen Einwände wir auch immer haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des repräsentierten Objektes zu glauben“. In Zeiten, da sich die Wirklichkeit nicht mehr ganz materiell auf einer mit Silberkristallen beschichtete Emulsion einschreibt, sondern – von lichtempfindlichen Halbleitern in Farbinformationen zerlegt – nur noch virtuell in Form von Bits und Bytes vorliegt, die kein Bild mehr ergeben und beliebig manipulierbar sind, besteht dieser Zwang nicht mehr.

Virtuelle Sabotage

Die Adepten des Digitalen sind sich dessen bewusst und bas-teln an einer neuen Ontologie. „Je weiter die Entwicklung voranschreitet, desto mehr glaube ich, dass das Digitale unserer heutigen Zeit entspricht (…) Seine Textur passt perfekt zur Konsumgesellschaft, zu ihren Farben und Verpackungen, die man in Asien überall sieht“, sagt etwa der chinesische Regisseur Jia Zhangke. In The World hat er diese Materialästhetik umfassend umgesetzt: Der Film spielt in der unwirklichen Szenerie eines postmodernen Themenparks in der Nähe von Beijing, der den Eiffelturm, den schiefen Turm von Pisa, die Pyramiden und andere Highlights des Weltkulturerbes en miniature rekonstruiert hat. Orchestriert von Elektroklängen, bewegen sich die Angestellten  ebenso verloren wie kommunikationstechnisch per Handy und SMS auf dem neuesten Stand durch die Anlage. Bis in die Dramaturgie hinein hat Jia den binären Code getrieben. „Ich wollte eine netzartige Erzählstruktur“, erläuterte er den Cahiers du Cinéma. „Anstatt einer Person durch einen linear aufgebauten Plot zu folgen, wollte ich eine ganze Gruppe von Menschen zeigen und zwischen den Einzelnen hin- und hernavigieren (…), wie man es im Internet macht.“

Allzu konsequent verfolgt der Regisseur diese Philosophie jedoch nicht. „Es war schlicht einfacher, mit dieser Technik zu arbeiten. Auswirkungen auf meine Ästhetik hatte es keine“, bekannte er in einem neueren Interview. Sein letzter Film Still life verabschiedet sich dann auch von den künstlichen Welten des Vorgängers und wendet sich der real existierenden Megalomanie des Drei-Schluchten-Staudamm-Projektes zu, die bereits Millionen Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwang. Aber zurück in die Wirklichkeit gelangen seine Protagonisten damit nicht. Der Regisseur lässt Ufos durchs Bild schweben und Häuser sanft gen Himmel entschwinden, als wolle er mit diesen virtuellen Sabotageakten jeglichen Glauben an den Dokumentarismus alter Schule im Keim ersticken, der ein für alle Mal auf dem Müllhaufen der analogen Geschichte gelandet ist.

Welt ohne Halt

Die anderen auf Video gedrehten Filme haben kaum mehr Bodenhaftung. In David Lynchs Inland Empire verläuft sich Laura Dern in dem Labyrinth aus realen und fiktiven Welten, das vielleicht nur ein einziger großer Albtraum ist. Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner halluziniert sich bei Bedarf fort aus der Provinz in eine spannendere Parallelwelt, und Vincent Gallo begegnet in The Brown Bunny dem Geist seiner toten Freundin. Der Protagonist aus Richards Linklaters Waking Life hingegen kann zwischen Dämmer- und Wachzuständen gar nicht mehr unterscheiden und bekommt bis zum Schluss die Augen nicht mehr auf. Sogar der gute, alte André Bazin sucht ihn bei seinen Grenzgängen heim. Zwei Menschen nehmen sich vor, dessen „heiligen Moment“ zu erhaschen, was trotz andächtiger Bemühungen nicht recht gelingen mag. Deshalb einigen sie sich darauf, die „göttliche Aufnahme“ nur mehr als eine Schicht des filmischen Kunstwerks zu betrachten. Auf diese will der Regisseur in seiner „The Best of Both Worlds“ anstrebenden Arbeit, die aus im Cinéma-Verité-Stil mit Schauspielern aufgenommenen und später digital übermalten Szenen besteht, auch nicht verzichten. Aber daraus gleich eine Ontologie machen – das nicht einmal im Traum. Und selbst wenn der digitale Held sich mal nicht in der einen oder anderen Form als Gefangener einer Matrix erweist, steht er nicht gerade mit beiden Beinen auf der Erde. So hat etwa der in Michael Manns Miami Vice undercover im Drogen-milieu ermittelnde Crockett zunehmende Schwierigkeiten, seine Identität als Cop zu wahren.

Die Welt, wie sie die Digitalkamera sieht, kann auch nur schlecht Halt bieten, denn sie gibt ein recht unübersichtliches, inkohärentes Bild ab. Dank ihrer hohen Empfindlichkeit reagieren Geräte wie die Genesis oder die Viper nämlich auf die kleinsten Helligkeitsunterschiede, was für äußerst unhomogene Lichtverhältnisse sorgt. In Miami Vice etwa steht Crockett einmal im schönsten Abendlicht, während sein Kollege im Gegenschuss noch von einem weißen Himmel beleuchtet wird. Abgesehen von dem sehr topografisch arbeitenden Jia Zhangke haben es die meisten HD-Fans aber sowieso nicht besonders mit der Einheit des Ortes: David Fincher etwa genügen die aus TV-Soaps bekannten Establishing Shots, um Städtewechsel anzuzeigen. Sie fallen nur um einiges pompöser aus. Einmal nutzt er für ein San-Francisco-Panorama sogar die 3D-Technik. Dies verweist dann schon auf den Hyperrealismus, den einige digitale Werke an die Stelle des einfachen Realismus gesetzt haben. Die Tiefenschärfe, wie sie beispielsweise David Lynch in der Szene verwendet, die Laura Dern in der riesigen Eingangshalle ihrer Villa bei der Verabschiedung der gespenstischen Dame aus Osteuropa zeigt, vermittelt eine surreal anmutende Prägnanz. Und Vincent Gallo treibt den Hyperrealismus in seinem narzisstischen Home Movie auf die Spitze: eine echte Fellatio mit einem Geist! – mancherorts ein Fall für die Erotik-Ecke der Videothek.

Imitation of Film

So klar wie David Lynch oder Michael Mann in manchen Szenen wollen die meisten Regisseure aber gar nicht sehen. Darum bemüht sich die Industrie eifrig, den allzu exakten binären Code ein wenig herunterzurechnen. Bereits im Jahr 1989 forderte ein Bericht des französischen „Centre National de la Cinématographie“ die Entwicklung von Verfahren zur „Verschmutzung“ der digitalen Bilder ein, um sie „filmischer“ zu machen. Inzwischen haben sich die Techniker eine Menge solcher Kniffe ausgedacht, sogar eine Simulation des Filmkorns ist ihnen schon gelungen. Zudem sind heute spezielle Zusatzgeräte auf dem Markt, die sich der „leidigen“ Tiefenschärfe annehmen und den Durchblick verhindern. „Dieser Adapter ist ein ‚Muss‘, wenn Sie es mit dem Filmlook auf Videokameras wirklich ernst meinen“, preist ein Hersteller sein Produkt an, das der Präzision scharfer, kantiger Formen des  Videos entgegenarbeitet, weshalb ihm Kameraleute einen „speziellen weichen Look“ bescheinigen. Und wo es tatsächlich noch digitale Defizite gab, wie etwa beim Kontrastumfang, haben die Tüftler zur Abhilfe spezielle Tuning-Methoden erfunden. Papas Kino kann also weiterleben, aber als „special effect“, wie Thomas Elsaesser in seinem Beitrag zum Kompendium Zukunft Kino – The End of the Reel World (Schüren Verlag) bemerkt.

Die größte Spielwiese für derartige Operationen eröffnet allerdings die Post-Produktion. Hier lassen sich nachträglich kontinuierlichere Lichtverhältnisse schaffen, was Michael Manns Collateral offenbar sehr nötig hatte, oder spezielle visuelle Anmutungen designen, wie es etwa die Coen-Brüder mit der Extradosis Staub für ihre Südstaaten-Odyssee O Brother, Where Art Thou? taten. Und David Fincher rekonstruierte den Mord Zodiacs an dem Taxifahrer kurzerhand am Computer, nachdem es während der eigentlichen Filmaufnahmen „on location“ Schwierigkeiten mit den Anwohnern gegeben hatte. Aber auch für profanere Aufgaben bietet sich nach einem Bericht des Berliner Tagesspiegel die Digital-Technik an. Da Hollywoods Beauty Contest so leicht kein Mensch aus Fleisch und Blut besteht, mussten sich selbst Ikonen wie Pamela Anderson oder Jennifer Lopez virtuellen Schönheitsoperationen unterziehen. „Digital Cosmetic Enhancement“ heißt die Zauberformel, nach der die Firma „Lola VFX“ dabei arbeitet. „Lola gilt als bester Schönheitschirurg der Filmindustrie. Dank unserer Arbeit haben Stars jünger, dünner, muskulöser, älter, dicker, fitter, größer und kleiner gewirkt. Wir entfernen Narben, Gesichtshaare, Pickel, Falten, Grübchen und Muttermale. Wir machen Körper fester, Beine länger, Gesichter jünger, Brüste voller, Wangenknochen höher, Augen blauer und Haut glatter“, heißt es in der Eigenwerbung des Unternehmens.

Allmachtsfantasien

Dem Regisseur eröffnet die digitale Trickkiste ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. „Der Filmemacher nähert sich hier der Fähigkeit des Malers an, die feinen Einzelheiten der Farbe, Schattierung, Kontrastierung, Filterung und andere Attribute des Bildes zu beherrschen“, zitiert Susanne Weingarten in Zukunft Kino Stephen Prince. Der Vergleich zu bildenden Künstlern fällt immer wieder. „Painting by Numbers“ nennt Gavin Smith das Handwerk von George Lucas. Jacques

Comets sieht den digitalen Filmer als einen Bildhauer, und der Filmtheoretiker Lev Manovich fasst die Veränderungen in dem Satz „Film wird ein besonderer Zweig der Malerei – Malerei in der Zeit“ zusammen. Hatte Bazin einst geschrieben: „Alle Künste beruhen auf der Gegenwart des Menschen, nur die Fotografie zieht Nutzen aus seiner Abwesenheit“, so kann dank der digitalen Palette mittlerweile ungestört Allmachtsfantasien gefrönt werden: Kein Kameramann braucht heute mehr stundenlang auf das richtige Licht zu warten, und so bildet sich statt einer demütigen, respektvollen Haltung der Natur gegenüber eine instrumentelle Vernunft heraus, deren Vokabular verräterisch ist. Nicht von ungefähr spricht Prince im obigen Zitat von „beherrschen“, und das französische Wort „capteur“ (Fänger) für die lichtempfindlichen Halbleiter verweist Jean-Luc Godard zufolge auf dieselbe Mentalität. „Als die Fotografie erfunden wurde, ging es um einen technischen Vorgang, bei dem das Material Licht empfing (…). Heute wird nichts mehr empfangen, sondern nur noch eingefangen“, klagte er jüngst in einem Zeit-Interview. Und was immer da so ins Netz geht, die „Wirklichkeit“ dürfte es kaum sein – aber nach der sucht ohnehin kaum noch ein Digital-Filmer.

Allzu viele Leidensgenossen hat Jean-Luc Godard allerdings nicht. Kaum einer seiner Kollegen übt sich in Kulturpessimismus. Die Cahiers du Cinéma, die Ende der achtziger Jahre noch gegen die feindliche Übernahme des Films durch den aus dem Schoße des Fernsehens gekrochenen „audiovisuellen Komplex“ anschrieben, veranstalten heute Festivals des digitalen Kinos. Michael Mann, Jia Zhangke und ein paar andere, die mit dem neuen Medium kreativ umgehen, reichen ihnen aus, um „absolutement moderne“ sein zu wollen.Paradoxerweise kommt der traurigste Abgesang auf die Zelluloid-Ära von einer Künstlerin, der Britin Tacita Dean, die offenbar nichts von der neuen Wahlverwandtschaft zwischen Film und Kunst hält. Sie hat mit Kodak (2006) die letzten Tage von Kodaks 16- und 35mm-Fabrik im französischen Chalon-sur-Saône dokumentiert und mit Noir et Blanc (2006) buchstäblich ihr „Last Movie“ gedreht: Dean realisierte Noir et Blanc nämlich mit den letzten fünf 16mm-Schwarzweiß-Filmrollen, die sie für ihre alte Kamera noch auftreiben konnte. Mit Video möchte sie ihre Arbeit hingegen auf keinen Fall fortsetzen. „Eine Welt, wo es kein Negativ gibt, kein physisches Objekt, nur diese kleinen Chips – das ist teuflisch und so deprimierend.“