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Kathryn Bigelow

Gendergerechtigkeit

Diversität als Überlebensfrage

| Melina Scheuermann |
50/50. Der Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen in der Filmindustrie ist – neben der ökologischen Nachhaltigkeit – das Thema der Stunde. Ein Situationsbericht (mit Zukunftsperspektiven) aus Schweden, Deutschland und Österreich.

This Changes Everything – der Titel von Tom Donahues Dokumentarfilm, der voriges Jahr Premiere feierte, versprach Großes. Der Film legt die Missstände der amerikanischen Filmindustrie in Sachen Gendergerechtigkeit dar und kritisiert den Mangel an starken Frauenrepräsentationen im Mainstreamkino. Produziert wurde der Dokumentarfilm unter anderem von Geena Davis, die sich bereits seit 15 Jahren mit ihrem Institute on Gender in Media für die Interessen der Frauen in der Filmbranche einsetzt. Erfolgreiche Schauspielerinnen, Regisseurinnen und Produzentinnen aus Hollywood kommen hier zusammen, um Aufmerksamkeit auf die Genderfrage zu lenken.

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Um die Benachteiligungen der männerdominierten Filmszene zu erfahren, muss man freilich nicht bis nach Hollywood gehen. Der im Mai 2018 veröffentlichte Film Gender Report, der im Auftrag des Österreichischen Bundeskanzleramts und des Österreichischen Filminstituts erstellt wurde, macht die Ungleichheiten der Filmindustrie in Österreich in Zahlen deutlich.

Zwischen 2012 und 2016 wurden drei Viertel aller österreichischen Kinofilme von Regisseuren realisiert. Nur in 21 Prozent der Fälle führten Frauen Regie. Ähnlich sieht es bei der Vergabe der Fördergelder aus: 80 Prozent der Produktionsförderungen wurden Projekten mit Männern in Regie, Produktion oder Drehbuch zugesprochen, nur 20 Prozent der Fördermittel gingen an Projekte mit Frauen in diesen Schlüsselpositionen. Damit nicht genug: Frauen werden zudem noch schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Laut dem Film Gender Report besonders gravierend ist
der „Gender Pay Gap“ bei der Honorierung von Regie und Produktionsleitung.

Ähnlich ist es in Deutschland: Laut der Genderverteilungsstatistik der Deutschen Filmförderungsanstalt sind nur elf Prozent der Fördergelder 2018 an Produzentinnen gegangen. Nach einem Tiefpunkt im Jahr 2017 sieht es für Autorinnen und Regisseurinnen da schon etwas besser aus. Sie erhielten immerhin 41 Prozent bzw. 43 Prozent der gesamten Fördermittel in Deutschland. Doch wie kann man diese Genderbenachteiligung in der Filmindustrie effektiv bekämpfen?

DAS SCHWEDISCHE MODELL
Das schwedische 50/50-Modell zur gleichmäßigen Verteilung von Filmfördergeldern an Frauen und Männer ist zum Vorreiter in dieser Sache geworden, und Regisseurinnen, Produzentinnen und Verbände fordern ähnliche Regulierungen für Deutschland und Österreich.

Anna Serner ist Geschäftsführerin des Schwedischen Filminstituts (SFI) und Begründerin der gendergerechten Filmförderungsinitiative, die 2016 unter dem Kampagnen-Hashtag 5050×2020 im Rahmen des Cannes Filmfestivals international lanciert wurde. Bereits seit 2013 hatte sich Serner für die Gleichberechtigungen von Frauen im Film eingesetzt und schließlich einen Handlungsplan erstellt. Dieser basiert auf vier Grundsäulen: mehr Frauen in der Filmindustrie beschäftigen, die Sichtbarkeit von Frauen erhöhen, Statistiken rund um Gendergerechtigkeit erfassen sowie Gender verstärkt in den Fokus von Bildung und Wissenschaft rücken: „50/50 ist eine Vision, und wir brauchen unterschiedliche Strategien, um unser Ziel zu erreichen. Politische Initiativen sind genauso gefragt wie Engagement an der gesellschaftlichen Basis“, so Serner. Doch wie steht es 2020 um die Umsetzung der Vision von 50/50?

Der Gleichberechtigungsreport für Schwedens Filmindustrie von 2018 umfasst die Jahre von 2013-2017; aktuelle Zahlen für den Zeitraum seit 2017 könnten noch nicht veröffentlicht werden, so Serner. Der Bericht zeigt sowohl positive als auch negative Entwicklungen. Im Durchschnitt wurde bei 38 Prozent der geförderten Langspielfilme zwischen 2013 und 2017 von einer Frau Regie geführt, 34 Prozent wurden von einer Autorin verfasst, und 52 Prozent hatten eine Frau in der Funktion der Produzentin. Immerhin in einer Kategorie also wurde 50/50 erreicht. Auf der strukturellen Ebene zeigen die Statistiken des Schwedischen Filminstituts jedoch eindeutig, dass Frauen und Männer unabhängig von ihrer Schlüsselposition keinen Zugang zu den gleichen Finanzmitteln haben. Die größten Budgetunterschiede sieht man bei den Hauptrollen. Dort erhalten Filme mit einer männlichen Hauptrolle neun Millionen Schwedische Kronen mehr als im Durchschnitt, das sind umgerechnet ca. 900.000 Euro. „Es lässt sich bisher nur ein Teilerfolg festhalten. Außerdem muss Gleichberechtigung ein langfristiges Ziel sein”, sagt Serner im Interview. Das Erfassen von Statistiken zum Genderthema sei wichtig, denn, so Serner: „Wenn wir konkrete Zahlen erheben, wird die Ungleichheit sichtbar.“

Somit ist es problematisch, dass der Deutsche Filmförderfonds (DFFF) das Jahr 2019 als großen Erfolg für die heimische Filmförderung feiert, in dem die Mittel in Höhe von 140 Millionen Euro nahezu vollständig ausgeschöpft wurden – ohne zu erfassen, wie viele dieser Gelder an Projekte mit Frauen in Schlüsselpositionen geflossen sind.

Weiterhin sei es auch wichtig, die Zahlen separiert zu betrachten, betont die Leiterin des Schwedischen Filminstituts. Viele Länder melden die Anzahl von Frauen gemeinsam für Kurzfilme, Dokumentarfilme und Spielfilme. Diese zusammengeführten Zahlen können das Gesamtergebnis jedoch stark verzerren, da Frauen stärker in den finanziell schwächeren Bereichen Kurz- und Dokumentarfilm vertreten sind. Der Gleichstellungsbericht des SFI zeigt dies ganz deutlich: 2017 gingen 88 Prozent der Fördergelder für kurze Dokumentarfilme an Filmemacherinnen. „In Europa haben wir es endlich mit der EFAD (European Film Agency Directors association) geschafft, dass das European Audiovisual Observatory ab 2020 getrennte Zahlen in ihren Statistiken aufführen wird – je nach Position, Regie/Autor/Produktion und Format, Kurzfilm/Dokumentar/Spielfilm“, berichtet Anna Serner und betont, dass dies ein wichtiger Schritt sei.

MIT BESTEHENDEN STRUKTUREN ARBEITEN
Genderungleichheit ist ein strukturelles und gesamtgesellschaftliches Problem. „Da, wo es um viel Geld und viel Anerkennung geht – wie in der Filmbranche –, sind die Unterschiede meist besonders hoch“, sagt Katharina Mückstein, und weiter: „Anscheinend ist die Gesellschaft noch nicht bereit für mächtige Frauen in Film, Politik oder Wissenschaft. Damit verzichten wir auf ein riesiges Potenzial.“ Mückstein ist Regisseurin (L’Animale, 2018), Produzentin und setzt sich als Vorstandsmitglied des Vereins FC Gloria für die Gleichberechtigung von Frauen in der Filmindustrie ein. Sie sieht die größte Hürde in Österreich derzeit in der Aufstellung der Produktionsfirmen, welche fast ausschließlich von Männern geführt werden. „Es muss da angesetzt werden, wo Filmemacherinnen Produktionsfirmen benötigen, die sie besonders unterstützen, um ihre Projekte zu verwirklichen. Produzenten müssen gezielt Frauen ansprechen.“ Mehr Frauen in die Filmproduktion zu bekommen, sei natürlich erstrebenswert. „Aber Firmen aufzubauen und sich als Produzentin zu etablieren, das ist ein langwieriger Prozess“, das weiß Mückstein aus eigener Erfahrung. Somit seien Initiativen gefragt, die die Zusammenarbeit mit Frauen in den bestehenden Strukturen attraktiver machen.

Das Österreichische Filminstitut hat im Jahr 2016 das Gender-Incentives-Programm entwickelt. Produktionsfirmen, die Förderungen für Projekte erhalten, die einen signifikanten Anteil an weiblichen Beschäftigten in Stabsstellen aufweisen, erhalten, basierend auf einem Punktesystem, automatische zusätzliche Fördermittel in Höhe von 30.000 Euro. Diese müssen für die Stoff- und Projektentwicklung von neuen Projekten mit weiblicher Besetzung in zumindest zwei der drei Abteilungen Produktion, Regie, Drehbuch verwendet werden. Die Evaluierung der Projektjahre 2017/18 zeigte, dass in nahezu allen Stabspositionen, die Gender-Incentive-Punkte brachten, der Anteil von Frauen gestiegen ist.

WANDEL IN DER AUSBILDUNG
Ein weiterer Fokus von Gleichberechtigungsinitiativen in Europa ist Bildung und Forschung. Frauen in der Filmgeschichte sollen mehr in den Vordergrund gerückt werden, ebenso wie Genderthemen auf der Leinwand. Doch auch die Personalpolitik der Hochschulen muss einen Wandel erfahren. In Österreich gibt es nur eine staatliche Filmausbildungsinstitution, die Filmakademie Wien. Bereits im Jahr 2009 wurde die Besetzung der Professur „Schnitt“ diskutiert, denn – so wie alle anderen Professuren für künstlerische Fächer – wurden nur Männer als qualifizierte Kandidaten von der Berufungskommission erachtet. Bis heute hat sich die Situation nicht verändert und alle Professuren sind von Männern besetzt. Eine Initiative deutscher Filmhochschulen unterzeichnete im Februar 2018 ein Positionspapier, in dem sie sich selbst verpflichten, den Genderverhältnissen in den Hochschulstrukturen den Kampf anzusagen und die Forschung und Lehre stärker nach der tatsächlichen Diversität der Gesellschaft auszurichten. Mentoring-Programme sowie Gleichstellungskonzepte sollen entwickelt werden. Auch die „internationale filmschule köln“ ist Teil dieses Bündnisses. Der Gleichstellungsplan der ifs köln ist umfassend und fordert neben der gezielten Förderung von weiblichen Studierenden auch die genderparitätische Besetzung von Berufungskommissionen und ähnlichen Gremien sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ulrike Hanstein, Gleichstellungsbeauftragte der ifs köln, sieht den Dialog mit Studierenden und Hochschulmitarbeiterinnen und -mitarbeitern als besonders wichtig an, um passende Angebote zu erstellen. So war die Nachfrage nach einer angedachten Kinderbetreuungseinrichtung an der Kölner Filmhochschule kaum vorhanden, dafür wurden aber Konzepte wie Mobile Arbeit und vertrauensbasierte Arbeitszeiten umgesetzt, die den Menschen mit Familien mehr Flexibilität im Arbeits- und Studienalltag erlauben.

VEREINBARKEIT VON FAMILIE UND KARRIERE
Solch eine Hochschulinitiative wäre auch in Österreich wünschenswert, denn hier ist das Familienthema brandaktuell. Unter den Gründen für die geringe Anzahl an österreichischen Filmproduzentinnen nennt eine Studie des European Women’s Audiovisual Network von 2016 vor allem die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Filmemacherin Elisabeth Scharang zum Beispiel stellt fest: „Ich habe keine Kinder. Ich wüsste auch nicht, wie das gehen soll.“

Weitere Maßnahmen werden bezüglich der Verwendung von bewilligten Fördergeldern benötigt. Nach einer Richtlinienänderung der Deutschen Filmförderungsanstalt Anfang 2019 können bis zu 30.000 Euro für Kinderbetreuung am Set in die Kalkulation für förderfähige Budgets mit einbezogen werden. Solche Regelungen begrüßt auch Katharina Mückstein für Österreich.

Wenn man also über strukturellen Wandel spricht, geht dieser – zum Beispiel in Sachen Karenzzeit und Wiedereinstieg in den Beruf für beide Elternteile – auch über die Filmbranche und dessen Akteure bis auf staatliche Ebene hinaus. Mückstein stellt klar, dass eine Verbesserung der Strukturen von oben kommen müsse, durch politische Initiativen, die mit Willen umgesetzt würden. Denn erzwungene Maßnahmen in Sachen Gleichstellung seien ihrer Meinung nach nie sehr wirkungsvoll. Dies entbinde die Filmindustrie jedoch keineswegs von ihren Verpflichtungen. So fordert auch Anna Serner alle Organisationen, Verbände und Unternehmen zum Umdenken auf: „Mütter und Väter müssen gleichberechtigt behandelt werden.“

GESCHLECHTERSTEREOTYPE UND VERNETZUNG
Laut Gender Report 2018 war die geschlechtsspezifische Arbeitssegregation in Österreich besonders im Vergleich zweier Arbeitsbereiche deutlich: Von den Stabsstellen im Bereich Licht war keine einzige von einer Frau besetzt, dafür dominieren Frauen den Bereich des Castings mit 91 Prozent. „Ein Wandel muss auch gesellschaftlich stattfinden. Stereotype Rollenbilder, die noch immer tief in unserer Gesellschaft verankert sind, müssen verändert werden, neue Narrative erschaffen und angeboten werden“, sagt Ulrike Hanstein. So legt die ifs köln zum Beispiel großen Wert darauf, mit ihren Informationsveranstaltungen konkret Frauen für die männerdominierten technischen Berufszweige wie Kamera, VFX und Animation zu interessieren.

Das Projekt „See it, be it!“ des FC Gloria verfolgt ebenfalls das Ziel, neue weibliche Rollenbilder und Vorbilder zu erschaffen. Frauen, die in den verschiedensten Berufen rund um Film arbeiten, besuchen Schulen und berichten von ihrer Arbeit. „Die Nachfrage ist enorm“, sagt Katharina Mückstein. Auch in Schweden sieht Serner das momentan größte Problem der heimischen Filmindustrie in den gesellschaftlich verankerten Geschlechterstereotypen und darin, dass noch immer die Idee vorzuherrschen scheint, dass Frauen keine kommerziell ausgerichteten Filme machen wollen oder können.

Feministische Filmfestivals sind wichtige Plattformen zur Vernetzung und ermöglichen Sichtbarkeit für das künstlerische Schaffen von Frauen. Dennoch gibt es auch mögliche Nachteile, die mit der Etablierung solcher „Gegenöffentlichkeiten“ oder „Gegenplattformen“ einhergehen. Das Risiko besteht, dass die Filmarbeit von Frauen in der Peripherie verbleibt, ein Nischenprodukt, dem es nicht gelingt, die großen Festivals wie Berlin, Cannes und Venedig für sich einzunehmen. Denn internationale Filmfestivals haben ein Diversitätsproblem, das wird deutlich, wenn man sich die Nominierungen und Auszeichnungen anschaut. In Cannes waren in 2019 mit Céline Sciamma und Justine Triet nur zwei Regisseurinnen nominiert und bei den Oscars 2020 konkurrierte wieder keine einzige Frau in der Kategorie Beste Regie. Auch bei den BAFTAs war keine Regisseurin nominiert – das siebente Jahr in Folge. Frauen stärker auf internationalen, prestigeträchtigen Festivals zu repräsentieren und feministische Filmfestivals als Gegenplattformen zu nutzen, diese beiden Bestrebungen schließen einander in den Augen von Katharina Mückstein nicht aus. Viel eher seien sie miteinander verschränkt und gemeinsam darauf aus, Frauen zu stärken, sagt sie.

Eine 50/50-Regelung für Jurybesetzungen bei Festivals sieht Anna Serner als sinnvoll an. Selbst bei gleicher Anzahl von Männern und Frauen müsse jedes Jurymitglied die eigene Voreingenommenheit und eigene Vorurteile erkennen und aktiv gegensteuern, meint sie. Wer schließlich Preise mit nach Hause nehme, sei solch eine subjektive Entscheidung, die auf Geschmack basiere. Anstatt Quoten einzuführen, sei es wichtig, die Entscheidungen, zum Beispiel bei den Oscars oder BAFTAs, zu hinterfragen, fügt Serner hinzu. Kathryn Bigelow ist mit ihrem Oscar für The Hurt Locker immer noch die einzige Frau, die in 92 Jahren Academy-Awards-Geschichte einen Preis in der Kategorie Beste Regie gewann.

„Früher oder später werden sie so viele Filme von Frauen gesehen haben, dass sogar sie deren Qualität erkennen werden“, stellt Serner kämpferisch fest und setzt fort: „Und die Verantwortlichen werden müde sein von den Twitter-Shitstorms und ihren schwachsinnigen Antworten auf die unerlässlichen und dringenden Fragen nach Gleichberechtigung und Diversität.“

Obwohl die Jury der Berlinale 2020 aus drei Frauen und drei Männern bestand, hatte die Besetzung des Juryvorsitzenden mit Jeremy Irons für Kritik gesorgt. Der britische Schauspieler hatte sich in der Vergangenheit frauenfeindlich sowie ablehnend gegenüber der gleichgeschlechtlichen Ehe und zu Abtreibungen geäußert. Bei der Eröffnungspressekonferenz der Berlinale bezog Irons schließlich Stellung zu den Vorwürfen gegen ihn. Er sprach Frauenbewegungen seinen Zuspruch aus und nahm auch wiederholt seine kritischen Äußerungen bezüglich der gleichgeschlechtlichen Ehe und Abtreibungen zurück.

Struktureller und subtiler Sexismus sei schwerer zu kritisieren, da er sich häufig indirekt auswirkt und unsichtbar bleibt, sagt Mückstein „Da sollten wir uns doch wenigstens einig sein, dass offen ausgesprochener Sexismus sanktioniert werden muss“, fordert sie ein grundsätzliches Übereinkommen. Die Filmlandschaft solle niemals konservativer sein als die Gesellschaft, die sie abzubilden versucht. Daher sei die Diversitätsfrage auch eine Überlebensfrage für die Kunstform Kino, so Mückstein.