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Dossier Landschaft – Im Garten des Bösen – Landschaftsgärten im Film

Im Garten des Bösen

| Michael Pekler |

Wer durch eine Parkanlage schlendern möchte, sollte sich diesen Ort der Erholung genau ansehen. Nina Gerlachs Buch über die Gartenkunst im Film zeigt, warum man sich vor manchen Hecken in Acht nehmen sollte.

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In Horace Walpoles Erzählung „The Castle of Otranto“, die der kapriziöse Brite im Jahr 1764 noch unter einem Pseudonym veröffentlichte, geht das Schicksal einer adeligen Dynastie mit jenem eines fiktiven Schlosses einher, hinter dessen Mauern die Familientragödie ihren Lauf nimmt. Heute als eines der ersten Werke der schauerromantischen Tradition gerühmt, gewinnt „The Castle of Otranto“ an zusätzlichem Reiz, wenn man weiß, dass der Schriftsteller, Zeichner, Politiker und Kunstsammler Walpole (1717–1797) für ein weiteres, später erschienenes Werk verantwortlich zeichnet: „On Modern Gardening“, erschienen 1780, beschreibt die Idee und das Ideal des Englischen Landschaftsgartens. Wer zwanzig Jahre lang sein Landhaus in ein verwinkeltes, pittoreskes Schloss umbaut und als Inspirationsquelle für seine Schauergeschichte verwendet, macht sich offensichtlich auch über den dazugehörigen Garten entsprechende Gedanken.

Für Walpole bedeutete der Englische Landschaftsgarten eine romantische Rückkehr zu einem Naturbild, dem in den barocken Schlossgärten der Garaus gemacht worden war. Der „malerische“ Garten wurde für ihn zum erstrebenswerten Ziel aller gärtnerischen Anstrengung, während ihm die geometrische Parkanlage mit ihren geraden Linien und symmetrisch angeordneten Wegnetzen nicht nur als überkommen, sondern als „unnatürlich“ erschien. Dass sich in der von Walpole maßgeblich beeinflussten Schauerliteratur das Böse ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt in den alten Gemäuern einnistete, als die Gärten zu unschuldigen Paradiesen verwandelt wurden, ist kein Widerspruch: Hier wie dort verschwand das rationale Erfassen zugunsten einer sinnlichen Erfahrung.

Während sich also das Böse in unübersichtlichen, labyrinthischen Gängen und Trakten fortan gut verstecken konnte, wurde der Garten zu jenem Refugium, als das er heute noch betrachtet wird. Wer dieser Tage durch einen Englischen Landschaftsgarten spaziert, ist bestenfalls nach wie vor angetan von einer lieblichen, aber scheinbar dennoch nicht domestizierten Natur, von der Vielfalt der Eindrücke durch Abwechslung, von den gewundenen Wegen, die hinter jeder Biegung eine neue, kleine Sensation versprechen. Doch es ist eine nach präzisem Plan gebändigte Natur: „Gott schuf die Welt, und der Mensch verschönert sie“, schreibt der deutsche Philosoph Cay Christian Lorenz Hirschfeld, ein Zeitgenosse Walpoles, am Ende seiner mehrbändigen Enzyklopädie „Theorie der Gartenkunst“, einer der für den deutschsprachigen Raum bedeutendsten Abhandlungen ihrer Art. Dass mit dem im 18. Jahrhundert eingeläuteten Paradigmenwechsel unser heutiges Bild vom Garten als „schöne Natur“ im Kleinformat festgelegt wurde, wird einem vor allem dann bewusst, wenn man diese Form der Naturutopie nicht als Konstante betrachtet, sondern als Konstruktion.

Die Kunsthistorikerin Nina Gerlach hat sich in ihrem Buch „Gartenkunst im Spielfilm“ den verschiedenen Formen von Landschaftsgärten gewidmet und dabei vor allem die Auswirkungen dieser „Gartenrevolution“ auf den Spielfilm nach 1945 untersucht. Denn die unterschiedlichen Gärten im Film sind selbstverständlich keineswegs eine beliebige „natürliche“ Kulisse, sondern als gestaltete Landschaft von besonderer Bedeutung – für die Erzählung, für die Figuren, und für das Verständnis des Films vom Einwirken der Geschichte auf die Gegenwart. So ist ein Park in einem Historienfilm wie etwa Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975) nicht aufgrund seiner historischen Authentizität von Interesse, sondern aufgrund einschlägiger Zuschreibungen, die er dem Film dadurch ermöglicht. Denn die Art und Weise, wie die Hecken geschnitten sind, kann mehr aussagen als ein minutenlanger Dialog. Und wenn die Menschen auch einander belügen und betrügen – der Garten zeigt immer sein wahres Gesicht.

Womit zunächst einmal die „guten“ und die „bösen“ Gärten definiert wären: Gut ist, was im Sinne dieses ethischen Naturalismus als vorzivilisatorisch und unberührt gilt; böse, was von Menschenhand zerstört und zugeschnitten wurde. Doch über diese jahrhundertealte Zuschreibung entscheidet nur der Mensch, der in ethischen und moralischen Kategorien denkt und damit festlegt, was „Natur“ sein darf und dementsprechend seine Gärten als Nachbildung derselben anlegt. Eine bemerkenswerte Form kultureller Selbstverleugnung: Je weniger eigene Spuren der Mensch in seiner künstlich angelegten, „natürlichen“ Welt erkennen lässt, desto vorgeblich authentischer die Nachbildung. Aber gilt das nicht auch für das Kino und seine Apparatur, die für den Zuschauer, auch er als Flaneur von einem Eindruck zum nächsten eilend, zum Verschwinden gebracht wird?

Unsichtbar war der Garten im Film jedenfalls nie, im Gegenteil war er von Anfang an da, auch wenn sich auf dem ältesten bekannten Fragment der Kinogeschichte aus dem Jahr 1888, so Gerlach, „kaum mehr erkennen lässt als die Bewegungen mehrerer Personen auf einer Rasenfläche“. Und L’Arroseur arrosé (1895) von den Brüdern Lumière, in dem ein Gärtner der Tücke seines Gartenschlauchs zum Opfer fällt, ist ohnehin längst ein Klassiker des frühen Kinos. Doch sobald sich die Gärten im Film in erkennbar gestaltete Landschaften verwandeln, kommen die alten Konnotationen in neuem Gewand zum Vorschein. „Die Geschichte der Gartenkunst ist die der Ikonografie positiv bewerteter glücklicher Zustände“, schreibt Gerlach. „Es erscheint demnach unmöglich, einen Protagonisten, der einen Garten besitzt, allein schon damit in Verruf zu bringen.“ Wer also im Film einen Garten besitzt, so könnte man annehmen, kann kein wirklich schlechter Mensch sein, doch die böse Saat keimt dort am besten, wo man sie nicht vermutet. Und auch wenn bereits vorher erste Sprossen zu erkennen sind, so wuchert das Böse im Garten erst so richtig nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges – und steht zum ersten Mal in Kubricks Paths of Glory (1957) in voller Blüte. Die drei unschuldig zum Tod verurteilten Soldaten, die unter Trommelwirbel zur Hinrichtung geführt werden, marschieren geradewegs durch den Barockgarten von Schleißheim bei München. Und immer wieder taucht der barocke Garten als Ort der Unsicherheit und des Zweifels auf, wie in L’Année dernière à Marienbad (1961) von Alain Resnais, oder gar als einer des Größenwahns wie in Moonraker (1979) von Lewis Gilbert, in dem der „Bond-Bösewicht“ in Schloss Vaux-le-Vicomte residiert.

Doch ausschließlich die Gartenrevolution der Aufklärung dafür verantwortlich zu machen, dass ein Rassenideologe wie Hugo Drax sich in barockem Ambiente besonders wohl fühlt, würde zu kurz greifen. So wie die Gärten und Parkanlagen zu unterschiedlichen Zeiten die unterschiedlichen Assoziationen hervorrufen, so sind auch Filme in ihrer jeweiligen Zeit „angelegt“, was beim postmodernen Gartenfilm par excellence, Peter Greenaways The Draughtman’s Contract (1982), besonders deutlich wird. Greenaway macht den barocken Park als Teil eines englischen Landsitzes selbst zum Protagonisten, indem er die Geschichte eines arroganten Künstlers erzählt, der den Auftrag erhält, den Garten eines despotischen Schlossherrn in zwölf Zeichnungen festzuhalten. Das Interessante an diesem Film ist in diesem Fall nicht unbedingt seine narrative Gewitztheit, also dass in ihm der Garten als Abbild ein Abbild erfährt, sondern die Frage, wie Greenaway seinen Whodunit dazu verwendet, die Überlegenheit des vorgeblich „natürlichen“ Gartens zu hinterfragen. Denn am Ende, mit der Ermordung des Zeichners, wird zwar der Wandel der Anlage zum „Naturgarten“ vollzogen, das Böse jedoch keineswegs aus ihr vertrieben. Im Gegenteil: Die versammelte Aristokratie, die nach dem Schlossherrn auch den Zeichner zur Strecke bringt, verwendet ausgerechnet die Neugestaltung des Parks als Mittel zur Verheimlichung des Verbrechens.

Greenaway bringt somit, wie auch Nina Gerlach herausarbeitet, die Pattstellung der Gartenkunst auf den Punkt – oder eben ins Bild. „Der Natur- kann dem Kulturbegriff nicht überlegen sein, da seine Überlegenheit kulturelle Konstruktion ist.“ Aus dieser Perspektive betrachtet wird jede moralische Zuschreibung hinfällig, packt Greenaway das Dilemma selbst wie ein Gärtner bei den Wurzeln. Ob man die Frage nach der adäquaten Inszenierung von Natur in Form von Gartenkunst so lösen kann, sei dahin gestellt. Gewiss ist aber, dass man nach der Lektüre dieses Buchs die unzähligen Filmgärten mit anderen Augen wahrnimmt. Vor allem jene, die ihr Geheimnis bewahren, indem sie vorgeben, alles zu zeigen.

Michael Pekler ist freier Filmpublizist („Falter“, „Filmbulletin“).

Nina Gerlach: Gartenkunst im Spielfilm.
Das Filmbild als Argument.

Wilhelm Fink Verlag, München 2012. 507 Seiten, € 64,80