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Dossier : US Politik – Der überschätzte Schöpfer

Der überschätzte Schöpfer

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Jan Distelmeyers detaillierte Monografie zu Oliver Stone bietet gleichzeitig eine neue Form der Werkanalyse.

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Nicht wenige Kenner des umstrittenen Oeuvres von Oliver Stone hatten eine wesentlich andere 9/11-Verfilmung erwartet als jene oft als regierungsaffin bezeichnete, die mit World Trade Center entstanden ist.

Einerseits liegt das daran, dass viele unter der Regie Stones produzierte Filme, ob Kennedy-Mord oder Castro, ob Watergate oder Vietnam, die offizielle amerikanische Geschichtsschreibung empfindlich unterminierten und „für Stone bislang kein amerikanisches Trauma tabu war“, wie Sven von Reden im ersten Text dieses Dossiers schreibt.

Zum anderen aber liegt es daran: Oliver Stone gilt in weiten Teilen der Rezeption als Visionär mit ureigener Handschrift, als Aufrüttler, als Kreuzritter der historischen Wahrheit. Obwohl auch Stone nachweislich an der Vermarktungslogik Hollywoods hängt, gilt er nicht nur als Regiestar mit dem Recht am final cut, sondern als radikaler auteur, der die totale Kontrolle über seine Filme ausübt. Stone gilt als Missionar, Kamera und Crew sind seine Werkzeuge.

Pervertierter Autor-Begriff

Ein 2005 in der edition text + kritik erschienenes Buch relativiert diese Ansicht. Autor Macht Geschichte, die erweiterte Dissertation des Filmwissenschafters und Journalisten Jan Distelmeyer, untersucht an Hand von Oliver Stone, seinen Filmen und der Werkgeschichtsschreibung, theoretische Fragen der Filmautorschaft und ihrer Grenzen. Vorrangig geht es Distelmeyer darum, dem seit der Nouvelle Vague häufig anzutreffenden Bild des Regisseurs als ultimativem Schöpfer ein differenzierteres Gegenbild gegenüberzustellen. Er rekapituliert den Diskurs zur Autorschaft im Film, hinterfragt die Legende des „missionarischen auteurs“ Oliver Stone, und entwickelt daraus eine neue Form der Werkanalyse.

Im Jahr 2000 konstatierte Jean-Luc Godard: „Der Begriff des Autors … ist heute vollständig pervertiert.“ Die Bezeichnung Filmautor wird inflationär verwendet, Interpretationen von Filmen reduzieren sich oft auf das, „was uns der Regisseur sagen will“. Obwohl die filmtheoretischen Diskurse die auktoriale Analyse lange überholt haben, so Distelmeyer, besitze der auteur noch immer einen festen Platz in Wissenschaft, Kritik und im öffentlichen Denken und Reden über Film. Dieser Widerspruch ist der Ausgangspunkt seiner Argumentation.

Kontextorientierte Analyse

Die Disziplin der Werkmonografie wird zum Thema einer Werkmonografie; das Werk Stones wird untersucht, obwohl es als nicht sein Werk allein gesehen wird – die Schwierigkeit der Aufgabe ist evident. Distelmeyer stellt denn auch klar: Weder die Filmbedeutung noch das Publikum existieren für ihn als abschließend zu fixierende Größen. An mehreren Punkten streift seine Arbeit Janet Staigers leicht nachvollziehbare These, wonach Interpretationsarbeit keine endgültigen Wahrheiten zu produzieren imstande ist.

Kontextorientierte Analyse heißt Distelmeyers Methode, symptomatisch ist deren Doppelgesicht: Erstens muss der kulturelle, historische, ideologische Rahmen berücksichtigt werden, in dem Filme entstehen, müssen Bedeutungsangebote durch „dominante Fiktionen“ mitgedacht werden, oder anders: Sinn und Orientierung stiftende, Gemeinschaft erzeugende Repräsentationsmuster oder Stereotypen wahrgenommen werden. Zweitens aber ist Distelmeyer bewusst, dass auch eine Analyse selbst kontextbestimmt ist, und daher auch eine kontextorientierte Analyse keine letzte Gültigkeit für sich beanspruchen kann.

Mehrdeutig eindeutige Botschaft

Eines der besten Beispiele für einen stark polarisierenden „Stone-Film“, dessen ideologischer Rahmen für seine Beurteilung maßgebend war und der zu einem Medienereignis wurde, ist JFK (1991). Ende der 80er Jahre kamen Staatsstreich- und Verschwörungstheorien rund um die Ermordung Kennedys wieder auf. Das auf vielen Gerüchten und wenigen Sicherheiten basierende Drehbuch mündete bei Stone in eine ästhetisch eigenwillige Mischung aus Fakten und Fiktion.

Aufgenommen wurde JFK je nach Standpunkt. Konservative und Politiker wie Gerald Ford kritisierten, Intellektuelle und Autoren wie Norman Mailer verteidigten das Werk. Ob es nun Stones Gegenwahrheit zur offiziellen Wahrheit war (in seiner Rolle als crusader for his version of the truth), oder sein Gegenmythos zum offiziellen Mythos (so auch die damalige Werbelinie): Stones wakeup cinema, triumphierten die Verteidiger mit dem schon traditionellen Wirkungsargument, hatte die Nation wieder einmal aufgerüttelt.

Im Schlusspläydoyer des von Kevin Costner gespielten Staatsanwalts Jim Garrison gipfelt eine eindeutige rhetorische Auflösung als Kontrapunkt zur visuellen Vieldeutigkeit des komplex montierten Bildmaterials. „Mit dem Stellenwert des gesprochenen Wortes erfüllen sich in JFK zugleich zwei Versprechen, die (nicht nur) in der Geschichte des Hollywood-Kinos fest verankert sind“, schreibt Distelmeyer.

Zum einen wird das Gericht als Zentrum der Wahrheit (im Kino) bestätigt. Zum anderen zeigt die Inszenierung der Nebenfiguren, wie das traditionelle Verhältnis zwischen den mächtigen Vertretern eines „weißen“, heterosexuellen und patriarchal geführten Amerika zu anderen Stimmen gewahrt wird. Garrison, ein wohlhabender Mann mit geregelter Arbeit und Familie, verkörpert nicht nur die „weiße“ positive US-Identität – „seine Arbeit an der Aufdeckung des Attentats ist auch die Aufdeckung der Spaltung der Nation und verspricht zugleich die Überwindung der Spaltung“.

Von JFK zu WTC

Garrison will, so wie Oliver Stone fünf Jahre nach 9/11, sein Land zurückhaben. Will die Wunden seines Volks geheilt
wissen. World Trade Center entstand nach Autor Macht Geschichte, und doch belegt der Film eine These des Buchs: Ebenso leicht, wie JFK als logische Konsequenz des damaligen kulturellen Umfelds zu verstehen ist, lässt sich der jüngste Film „von Oliver Stone“ als Konsequenz des heutigen verstehen. Die vom Außenfeind beschädigte, traumatisierte Nation muss therapiert und ihrer selbst versichert werden; akute Verschwörungsängste bedienen in dieser Situation bloß verantwortungslose Internet-Hobbyfilmer.

Stone selbst bleibt in der Diktion besitzanzeigend, versteht er doch sein Kino mittlerweile als atmosphärisch antizyklisch (siehe Interview auf der vorigen Doppelseite): „In den 80er und 90er Jahren, als die Dinge noch hoffnungsvoller als heute erschienen, wirkte mein Kino düster. Jetzt, wo die Welt so viel düsterer geworden ist, wirken meine Filme hoffnungsvoll“.
Spricht so ein Kreuzritter?