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Dossier : US Politik – Die Lücke zwischen Patriotismus und Paranoia

Heilsbringer und Idioten

| Sven von Reden |

Zwischen patriotischen Heroisierungsfilmen wie Oliver Stones „World Trade Center“ und fragwürdigen Verschwörungsmontagen aus dem Internet klafft ein Loch: eine politisch relevante filmische Aufarbeitung von 9/11.

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Vor hunderttausenden von Jahren landeten Außerirdische auf der Erde und schufen die Menschen als ihre Sklavenrasse. Die Aliens gaben ihre überlegenen Kenntnisse nur an eine Elite unter ihren Geschöpfen weiter, die dieses Wissen über die Jahrtausende für sich behalten hat. Heute arbeitet diese Elite hinter den Kulissen an der Etablierung einer Weltregierung.

Was sich anhört, wie die Zusammenfassung einer frühen Drehbuchversion von Matrix, wird ernsthaft vertreten von Jim Marrs, einem der führenden Verschwörungstheoretiker Amerikas. Ein Spinner, den niemand ernst nimmt? Marrs Buch Crossfire: The Plot That Killed Kennedy war eine der beiden Hauptquellen für JFK, Oliver Stones mit drei Oscars ausgezeichnetes Dreistundenepos über die Hintergründe des Attentats auf den ehemaligen US-Präsidenten.

Seit Jahrzehnten ist Stone einer der umstrittensten Filmemacher Hollywoods, die Ermordung Kennedys, Watergate, Castro und immer wieder Vietnam – für Stone war bislang kein amerikanisches Trauma tabu, keine offizielle Geschichtsversion unantastbar. Daher überrascht es nicht, dass er nun den ersten großen Hollywoodfilm vorlegt, der sich mit den Anschlägen auf das World Trade Center beschäftigt. Kurz nach dem 11. September 2001 hatte er bereits auf einer Podiumsdiskussion einen Thriller zum Thema angekündigt. Als Vorbild wollte er sich den furiosen Politfilm-Klassiker Die Schlacht um Algier nehmen. Es sollte ein Film ohne Helden sein, der zeigen würde, wie Terrorismus funktioniert – von beiden Seiten: der amerikanischen und der arabischen. Was auch immer aus diesem Plan geworden ist, World Trade Center ist das genaue Gegenteil davon geworden: Der Film präsentiert eine einfache Heldengeschichte, in der Politik, Terrorismus und die Hintergründe des Anschlags keine Rolle spielen.

Nah an den Fakten

World Trade Center erzählt eine wahre Begebenheit: Eine kleine Gruppe Polizisten folgt am 11. September freiwillig ihrem Sergeanten John McLoughlin in das World Trade Center, um Überlebende aus den oberen Stockwerken zu bergen. Doch die Retter müssen bald selbst gerettet werden: Als sie dabei sind, in der Lobby Atemgeräte einzusammeln, sackt der erste Tower in sich zusammen. Nur McLoughlin und der Polizist Will Jimeno überleben, schwer verletzt eingeklemmt zwischen tausenden Tonnen Stahl und Beton. World Trade Center zeigt die bangenden Angehörigen, vorzugsweise mit Babys auf dem Arm, mutige Rettungstrupps und immer wieder die dreckverkrusteten Gesichter der Verschütteten, die am Ende als Nr. 18 und 19 von insgesamt nur 20 Überlebenden aus den Trümmern geborgen werden.

Stone bemüht sich, möglichst nah an den gesicherten Fakten zu bleiben. Ähnlich realistisch präsentierte bereits im Frühjahr United 93 (Flug 93, Regie: Paul Greengrass) den Amerikanern eine durch Quellen so weit wie möglich abgesicherte Version der Ereignisse in dem am 11. September entführten Flugzeug, das vor Washington zum Absturz gebracht wurde. Es scheint, als müsse die amerikanische Nation das Trauma noch einmal filmisch durchleben, mit einem Fokus auf Geschichten über den Mut und die Solidarität Einzelner, um ihm einen gemeinschaftsstiftenden Sinn abzuringen. Die Filmemacher achten dabei peinlich genau darauf, sich politisch nicht zu positionieren. Sie präsentieren Versionen der Ereignisse, der alle Fraktionen der gespaltenen amerikanischen Nation zustimmen können. „World Trade Center feiert, was uns verbindet“, schließt David Ansen seine Titelgeschichte über den Film in Newsweek. „Vielleicht wird, in der Zukunft, die Zeit reif sein für herausforderndere oder polemischere oder subversivere Visionen. Im Moment ist es aber der Film über den 11. September, den wir brauchen.“

Fern der Fakten

David Ansen scheint nicht viel im Internet zu surfen. In Hollywood mag die Zeit noch nicht reif sein, doch das World Wide Web bietet längst herausfordernde und polemische Visionen zum Thema 9/11 – und offenbar bedienen diese ein weit verbreitetes Bedürfnis. Die gratis im Web kursierenden Filme heißen Painful Deceptions, Confronting the Evidence, 911 in Plane Site oder 9-11 Eyewitness. Die meisten dieser Dokumentationen sind mit handelsüblicher Software auf dem Heimcomputer zusammengeschnitten und präsentieren mehr oder minder abseitige alternative Theorien zu den Ereignissen des 11. Septembers. Der erfolgreichste dieser Filme hat den Titel Loose Change. Über zehn Millionen Menschen sollen ihn, seit er im April vorigen Jahres ins Netz gestellt wurde, gesehen haben.

Am 11. September dieses Jahres wollte Regisseur Dylan Avery einen Final Cut präsentieren (es wurde aber nur eine weitere vorläufige Version), Loose Change 2nd Edition soll später auch den Sprung in die Kinos schaffen. Die Anreize für kommerzielle Verleiher dürften groß sein, immerhin hatte Loose Change bei einem Budget von ein paar tausend Dollar schon weit mehr Zuschauer als der 15 Millionen Dollar teure United 93 – und das Zuschauerpotenzial ist noch längst nicht ausgeschöpft: Nach einer Umfrage vom Mai dieses Jahres glauben 42 Prozent der Amerikaner, dass die wahren Hintergründe der Anschläge von der Regierung und der offiziellen Untersuchungskommission verschleiert wurden.

Loose Change liefert Spekulationen genügend Futter. Der Film versucht eine abgeschwächte Version der unter Verschwörungstheoretikern beliebten „No Plane Theory“ zu belegen, nach der das Pentagon von einer Cruise Missile getroffen wurde, Flug 93 in Wahrheit sicher gelandet sei und die beiden Flugzeuge, die in das World Trade Center geflogen sind, nicht der Grund für den Einsturz der Twin Towers waren. Was absurd klingt, lässt die Dokumentation – zumindest bei flüchtiger Betrachtung – plötzlich gar nicht mehr als völlig abwegig erscheinen. Das liegt in erster Linie daran, dass sich der 22-jährige Autodidakt Dylan Avery als geschickter Monteur seines Materials erweist und als rhetorisch versierter Autor des fast durchgehenden Off-Kommentars.

Stimmen-Morphing-Software

Von filmischer Ethik versteht Avery dagegen wenig. Wenn er immer wieder in Zeitlupe den Einsturz der Türme zeigt und darunter funky Hip-Hop-Beats legt und einen Rapper über „party people“ und „real hip hoppers“ sprechsingen lässt, merkt man, dass sich der Regisseur nicht viele Gedanken über den Respekt vor Opfern und Angehörigen gemacht hat, da hilft auch die Behauptung des Gegenteils im Abspann wenig. Ganz abgesehen davon, dass man Avery nur wünschen kann, niemals einem der Angehörigen der Opfer von Flug 93 und Flug 77 persönlich zu begegnen, die es nach Loose Change ja gar nicht gibt.

Natürlich beantwortet Avery in seinem Film nicht die Frage, warum eine Verschwörergruppe skrupellos tausende New Yorker ermordet, dann aber unglaubliche Anstrengungen unternimmt, die Abstürze zweier Flugzeuge nur vorzutäuschen. Die Anrufe von Bord von Flug 93 wurden übrigens angeblich alle mit Hilfe modernster Stimmen-Morphing-Software gefälscht. Wie bei allen Verschwörungstheorien sind in Loose Change die Verschwörer – an ihrer Spitze macht Avery Vizepräsident Richard Cheney aus – zugleich allmächtig und dumm. Ständig hinterlassen sie Spuren, denen jeder Amateur folgen kann.

„Nehmt nichts in diesem Film unhinterfragt hin“, schreibt Avery auf seiner Homepage, in Loose Change blendet er dann aber sämtliche Selbstkritik aus, um definitive Wahrheiten zu verbreiten: „Es wird Zeit für Amerika, den 11. September als das zu nehmen, was er war“, spricht er am Ende aus dem Off. „Eine Lüge, die tausende Menschen getötet hat, um in der Folge hunderttausende mehr zu töten, nur um Abermilliarden von Dollar zu machen.“ Abermilliarden Dollar? Avery klärt uns auf, dass unter dem World Trade Center Gold im Wert von über 160 Milliarden Dollar lag, das verschwunden ist. So wird 9/11 zum größten Bankraub der Geschichte.

Netz in der Falle

Loose Change ist ein Paradebeispiel für die Chancen und Gefahren des Internets als interaktivem Massenmedium: So revolutionär basisdemokratisch es ist, dass ein Talent wie Avery hier die Chance bekommt, seine Ambitionen als Filmemacher auszuleben und dafür ein Publikum zu finden, so gefährlich ist das Ergebnis. Fast stolz verweist der Regisseur auf seiner Internetseite darauf, dass er für seinen Film eigentlich nur die Ergebnisse der Recherchen anderer verwendet habe. Die Glaubwürdigkeit seiner Quellen hat er dabei nicht geprüft, alle haben bei ihm den gleichen Wert: Ausschnitte aus BBC-Dokumentationen, Informationen der offenen Internet-Enzyklopädie Wikipedia, Artikel der als rechtsradikal und antisemitisch eingestuften American Free Press, längst korrigierte Falschmeldungen aus Fernsehnachrichten – allen Informationen wird vertraut, so lange sie in das Weltbild des Regisseurs passen. Und Averys Fans wiederum vertrauen ihm grenzenlos, wie tausende Kommentare zum Film und Postings im Internet beweisen.

Als Quelle diente Avery übrigens auch ein Buch mit dem Titel Inside Job. Autor dieses Machwerks ist Jim Marrs, der den 11. September als einen Schritt auf dem Weg zu seiner von Aliens unterwanderten Weltregierung sieht. Oliver Stone hingegen hat mit Marrs für World Trade Center nicht mehr zusammengearbeitet. Was nicht verwundert: Jede Art von Infragestellung der offiziellen Darstellung der Ereignisse am Ground Zero würde die Botschaft seines patriotischen Films schwächen. Dennoch wollen bereits einige selbst ernannte „Wahrheitsaktivisten“ in Stones Film Hinweise entdeckt haben, dass er auf ihrer Seite steht. Natürlich haben sie auch schon eine neue Verschwörungstheorie parat, warum er nicht deutlicher werden konnte: Mächtige finanzielle und politische Interessen im Hintergrund hätten ihn daran gehindert.