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Dossier : US Politik – Politik von unten

Politik von unten

| Holger Römers |

Es muss nicht immer 9/11 sein: Spike Lee widmet sich in seinem vierstündigen Dokumentarfilm „When The Levees Broke“ den Opfern des Hurrikans Katrina und der fragwürdigen Rolle der Behörden.

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Spike Lee war der erste Filmemacher, der die Schuttreste des World Trade Centers in einem Spielfilm ins Bild rückte. Als Drehort für eine Dialogszene in 25th Hour wählte er eine New Yorker Wohnung, deren Fenster den Blick auf Ground Zero freigaben, sodass die Kamera sich kurz über die Köpfe der Darsteller erheben und die dortigen Räumarbeiten einfangen konnte. Zwar bot die Filmhandlung für diesen Einschub keinen Grund. Doch weil Lee fest mit New York als privatem Wohn- und beinahe ausschließlichem Handlungsort seiner Filme assoziiert ist, mochte man ihm die persönliche Erschütterung angesichts der Katastrophe gern glauben.

Nun hat Lee mit When The Levees Broke (Als die Dämme brachen) auch den ersten Film zur zweiten nationalen amerikanischen Tragödie dieses Jahrtausends vorgelegt, und weil die Opfer mehrheitlich schwarz und arm waren und der Vorwurf des Rassismus die schlampigen staatlichen Hilfsaktionen begleitete, ist ebenso nachvollziehbar, warum sich der Regisseur und Ko-Produzent persönlich angesprochen fühlte.

Ein Vierteljahr, nachdem der Hurrikan „Katrina“ New Orleans heimgesucht hatte, begann Lee in der verwüsteten Stadt mit der Arbeit an einem Dokumentarfilm. Dabei wurde schnell klar, dass die anvisierte Filmlänge und das Budget auf vier Stunden und zwei Millionen Dollar verdoppelt werden
mussten, um der Fülle des Stoffes gerecht zu werden. Aus Anlass des ersten Jahrestags der Katastrophe wurde der Film Mitte August auf dem US-Kabelsender HBO, der die Produktion finanziert hatte, erstmals ausgestrahlt.

Vor dem Sturm

Lee lässt Wissenschafter und Journalisten, Aktivisten und Politiker zu Wort kommen. Vor allem aber sind es einfache Bewohner von New Orleans, die Gelegenheit erhalten, der Öffentlichkeit von ihren Erfahrungen zu berichten. In manchen Fällen wurden die Interviews in einem Hotel geführt, sodass Kameramann Cliff Charles die Gesprächspartner als typische Talking Heads vor dem neutralen Hintergrund pastellfarbener Tapeten ins Bild setzt. In anderen Fällen sind die Menschen dagegen in ihrer ehemals häuslichen Umgebung zu sehen, vor Schuttbergen im Hof oder auf leeren Grundstücken, wo von Einfamilienhäusern nur noch die Grundmauern übrig blieben.

Eine Gliederung in vier Akte sowie Einblendungen, die markieren, wie viele Tage jeweils seit dem Hurrikan verstrichen sind, verleihen dem Film eine grobe Struktur und lassen die Fülle des Materials etwas überschaubarer erscheinen. Allerdings wird die Handlung nicht so stringent erzählt, dass sich die Chronologie der Ereignisse präzise nachvollziehen ließe. Stattdessen lässt Lee den Handlungsfluss mäandern, wobei er gelegentlich subtil den Rhythmus moduliert.

Leises Understatement

Beispielhaft geschieht das in der ersten halben Stunde. Nachdem im Vorspann schon erste Impressionen der Flut eingestreut wurden, erzeugt Lee zunächst Verständnis für die abwartende Haltung, mit der Teile der Bevölkerung dem nahenden Unwetter entgegen blickten. Während Nachrichtenausschnitte das sich zuspitzende Bedrohungsszenario nachzeichnen, rekapitulieren Lees Interviewpartner ihre jeweiligen Reaktionen. Die Älteren hatten zum Teil schon 1965 den Jahrhundertsturm „Betsy“ überstanden und mochten nicht glauben, dass es noch schlimmer kommen könnte. Gelegentliche Evakuierungsaufforderungen seither hatten sich stets als falscher Alarm erwiesen, weshalb weniger Wohlhabende Grund hatten, die Kosten für eine Unterkunft außerhalb der Stadt mit dem eventuellen Risiko gegenzurechnen. Die ersten Bilder des Sturms, der durch die Straßen der Stadt fegt, vermitteln denn auch den Eindruck einer zwar spektakulären, aber womöglich kalkulierbaren Naturgewalt. Umso nachdrücklicher wirkt deshalb das leise Understatement, mit dem Lee den Eintritt der eigentlichen Katastrophe markiert.

Als die Dämme brachen

In einem harmlos anmutenden Ausschnitt, der offenbar dem Material eines TV-Reporters entnommen ist, sehen wir einen Mann durch knöcheltiefes Wasser auf die Kamera zutorkeln. Angesichts des prasselnden Regens scheint dieses Verhalten unvernünftig, doch der Zuruf des unsichtbar bleibenden Kameramannes gibt Entwarnung: Ob er schon gehört habe, dass der Sturm an der Stadt vorbeigezogen sei, wird der Mann, der wie ein begossener Pudel aussieht, gefragt. Dessen verstörte Gegenfrage kündigt freilich das Unheil an: „Wissen Sie, ob Wasser über die Deiche tritt?“, will er vom Reporter wissen. Er habe jedenfalls sein zweistöckiges Haus verlassen müssen, weil plötzlich überall Wasser eingedrungen sei.

Tatsächlich wurde das Desaster nicht durch den Hurrikan ausgelöst, der die Stadt bloß streifte, sondern durch das Brechen der Deiche, auf das der Filmtitel verweist. Und bezeichnenderweise verweilt Lee an diesem entscheidenden Punkt seiner Chronik bei einem vergleichsweise unbekannten Aspekt: Mehrere Interviewpartner berichten nämlich, dass sie Explosionen gehört oder sogar am eigenen Leib gespürt hätten – was darauf schließen ließe, dass die Deiche absichtlich gesprengt worden wären. Lee kontrastiert solche Aussagen einfacher Bürger, allesamt Afroamerikaner, mit Expertenmeinungen, die die Explosionsthese anzweifeln. Obwohl sich für die Geräusche offenbar andere Erklärungen finden lassen, wird zugleich deutlich, dass Verschwörungstheorien nicht der Grundlage entbehren.

Die Rolle der Politik

Ein ehemaliger Bürgermeister ruft in Erinnerung, dass bereits nach „Betsy“ 1965 in überfluteten afroamerikanischen Vierteln der Verdacht aufkam, dass man Deiche gesprengt habe, um ökonomisch wertvollere – sprich: „weiße“ – Gegenden vor den Wassermassen zu schützen. Während jene Gerüchte nie offiziell untersucht wurden, gilt als unumstrittene historische Tatsache, dass bei einer früheren Sturmflut 1927 eine Million armer (mehrheitlich weißer) Bewohner des Mississippi Deltas wegen der Sprengung von Deichen heimatlos wurden. Damals war es das Umland, das dem Interesse der politisch mächtigeren Stadt New Orleans geopfert wurde.

Lee scheint hinsichtlich der Explosionsgeräusche die Erklärungen der befragten Wissenschafter und Publizisten zu favorisieren, denn sie erhalten gewissermaßen das letzte Wort in der Angelegenheit. In anderen Fragen lässt sich die Lesart, der der Filmemacher selbst zuneigt, dagegen allenfalls vage aus der Orchestrierung widersprüchlicher Stimmen ableiten. So bleibt es dem Publikum überlassen, vergleichsweise unbeschränkt eigene Schlüsse zu ziehen. Das gilt zum Beispiel für die Rolle von Bürgermeister Ray Nagin, der von manchen Interviewpartnern gelobt, von anderen kritisiert wird. Und wenn Nagin von seinem Eigensinn im persönlichen Umgang mit Bush berichtet, mag man daraus einen Sinn fürs Praktische ableiten, oder auch nur übertriebene Eitelkeit.

Für eine positive Rolle der Bundesregierung findet sich freilich im ganzen Film kein Fürsprecher. Populistische Bürgerrechtsaktivisten wie Al Sharpton und Harry Belafonte kommentieren spöttisch das Verhalten des Präsidenten, der sich in mehreren Originalaufnahmen selbst diskreditiert. Lee spielt jenes intern aufgezeichnete Video ein, das dokumentiert, wie George W. Bush frühzeitig über die Gefahrenlage unterrichtet wurde, und mithin anderslautende Behauptungen des Präsidenten widerlegt. Das berüchtigte Lob, das Bush vor laufenden Kameras seinem tölpelhaften Bundesbeauftragten für Katastrophenschutz zollte, wird gleich mehrfach wiederholt. Und um Condoleeza Rices mangelnde Sensibilität anzuprangern, greift der Filmemacher ausnahmsweise zu einer offensichtlich manipulativen Bildauswahl, indem er das Foto eines anonymen Damenbeins zur Illustration jenes Einkaufsbummels verwendet, der die Außenministerin ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Katastrophe in ein New Yorker Luxus-Schuhgeschäft führte.

Dummdreiste First Mum

Die beste Ahnung davon, wie im Umfeld des Präsidenten wohl wirklich über die Opfer von „Katrina“ gedacht wurde, liefert allerdings ein Tonbandmitschnitt, der in Europa vergleichsweise wenig bekannt ist. Barbara Bush, die Mutter des Präsidenten und ehemalige First Lady, entblödete sich nicht, beim Besuch einer Turnhalle in Texas zu verkünden, dass viele der in jenem Notaufnahmelager gestrandeten Hurrikan-Opfer besser dran seien als zuvor – schließlich seien sie in der Mehrzahl ohnehin „unterprivilegiert“ gewesen.

Das ist natürlich dummdreist. Und es gibt keinen Zweifel, dass Lee das ebenso sieht. Bezeichnenderweise unterminiert er aber die entlarvende Wirkung der O-Ton-Einspielung, indem er sich kurz darauf dem Beispiel einer Frau widmet, die dem unfreiwilligen Zufluchtsort in der Ferne tatsächlich den Vorzug vor einer Heimkehr gibt, weil sich in Utah plötzlich bessere Perspektiven eröffnen als Zuhause.

Kein Agitprop

Im Gegensatz etwa zu den Filmen Michael Moores verfolgt When The Levees Broke also keine These und entwickelt keine Argumentationslinie. Obwohl Lee den Betroffenen reichlich Gelegenheit gibt, ihrem Unmut über das Versagen der Bundesregierung und des für Deichbau zuständigen Ingenieurskorps der Armee Luft zu machen und obwohl er bei seiner Montage kritischer Stimmen gelegentlich Polemik aufblitzen lässt, ist sein Film weit davon entfernt, Agitprop zu sein. Das ist nicht überraschend, denn aus seinem Kino ließen sich nie klare Positionen destillieren; es produzierte vielmehr Widersprüche zuhauf. Bezeichnenderweise endete Do the Right Thing, Lees bedeutendster und immer noch bester Film, mit der Einblendung zweier unvereinbarer Zitate der historischen Gegenspieler Martin Luther King und Malcolm X.

Gerade weil die Narration mäandert und die Flut der Bilder und Stimmen in keinen stringenten Handlungsfluss mündet, vermittelt When The Levees Broke aber eine Ahnung des eigentlich unfassbaren Ereignisses. Daran, dass sich dieser Eindruck im besten Sinn beiläufig einstellt, ändert auch nichts, dass Lee manchmal zu melodramatischen Mitteln greift. Wenn seine Gesprächspartner besonders Trauriges zur Sprache bringen oder den Tränen nahe sind, wird gezoomt. Und wenn Lees bevorzugter Filmkomponist Terence Blanchard seine Mutter bei der Rückkehr ins verwüstete Heim begleitet, besitzen die zu erwartenden Tränen der alten Frau natürlich keinen Informationswert.

Die Bilder der Toten

In entscheidender Hinsicht erweist sich Lees Nachdruck in puncto Bildauswahl indes als wohlbegründet. Wir werden auf die ersten Leichenbilder vorbereitet, in dem der Filmemacher ein älteres weißes Ehepaar zu Wort kommen lässt, das unter den anderen Interviewpartnern wegen seines augenscheinlichen Wohlstands deutlich auffällt. Die beiden berichten, wie sie ausgerechnet beim Besuch Pompejis von der Tragödie daheim erfuhren. Lee blendet daraufhin Bilder versteinerter Opfer des antiken Vulkanausbruchs ein, bevor er uns die ersten in den Hurrikanfluten treibenden Leichen zeigt. Bis weitere folgen, vergeht viel Zeit in When The Levees Broke.

Schließlich kommt eine Sequenz, in der ein Bild eines aufgedunsenen Körpers auf das andere folgt. Nicht sensationsheischend, aber indiskret und beharrlich insistierend. Doch erst wenn man diese Bilder gesehen hat, gewinnt man eine Ahnung der schier unvorstellbaren Zustände, die in New Orleans geherrscht haben müssen, als die Dämme brachen.