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Eastern Promises

Eastern Promises

Ans Messer liefern

| Roman Scheiber |
David Cronenbergs weihnachtlicher Mafiathriller Eastern Promises löst seine Versprechen punktgenau ein.

Eine Zeit lang pflegte David Cronenberg seine Filme mit einem Vorspann zu beginnen, der den Tonfall der Erzählung voraushallen ließ und bildmotivische Details vorwegnahm. In Eastern Promises lässt eine solche Sequenz den Film ausklingen. Unterlegt von einem schönen Thema Howard Shores (Cronenbergs Hauskomponist kombiniert dafür Violine und Oboe), lüften sich in schwarzweißen Einzelbildern am Ende noch einmal jene kaum decodierbaren Zeichen, die von der gewalttätigen Vergangenheit der Verbrecher zeugen, in deren Haut sie eingeritzt wurden. Tätowierungen, von denen sich des Kanadiers neues Werk den Stempel aufdrücken ließ: vielzackige Sterne mit Relief-Effekt, ein janusköpfiger Vogel, geheime Wappen und Schriftzüge, verzierte Totenschädel. Und nicht zuletzt christliche Symbole, ihrem Bedeutungszusammenhang entrissen.

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Eastern Promises beginnt, nicht weniger schockierend als sein Vorgänger A History of Violence (2005), mit einem Akt physischer Gewalt. Einem Mann mit starkem russischen Akzent (wie sich später herausstellt, ein ranghohes Mitglied der Mafia) wird in einem türkischen Friseursalon die Kehle durchschnitten. Wir befinden uns in London, es ist kurz vor Weihnachten. Gleich in der nächsten Sequenz bricht in einer Apotheke ein hochschwangeres Mädchen blutend zusammen. Sie wird sofort ins Spital eingeliefert, stirbt aber, als sie von dem Kind entbunden wird. Zwei Erzählstränge setzen ein, die später lose verbunden werden.

Mord, Geburt und Tod

Zum zweiten Mal in Folge beschäftigt sich Cronenberg, der Meister des „neuen Fleisches“, als Experte für körperliche Transformation Liebling der Horrorvideo-Raubritter und weithin adorierter Melodramatiker des Phantastischen, mit dem Genre des Gangsterfilms. Die „Dead Zone“ dieser zwei Filme, A History of Violence und nun Eastern Promises, hat sich von der Ebene phantastischen Körperkinos wie noch in eXistenZ (1999) auf die Ebene einer – obgleich stark stilisierten – „Realität“ verlagert, die durch vergangene, im Film nicht zu sehende Erlebnisse und Handlungen der Figuren wesentlich bestimmt wird. In der Graphic-Novel-Verfilmung A History of Violence wird ein Mann von seiner kriminellen Vergangenheit eingeholt, in Eastern Promises kommen durch ein neugeborenes Mädchen und die Geschichte ihrer verstorbenen Mutter zwei Familien aus konträren Soziotopen miteinander in Berührung.

Die Identität der Toten bliebe unbekannt, wäre da nicht die Geburtshelferin Anna (Naomi Watts), die – um dem verwaisten Kind das Heim zu ersparen – nach dem Fund eines in russisch abgefassten Tagebuchs und einer Visitenkarte des Restaurants „Trans-Siberian“ ebendort nach Angehörigen sucht. Sie begegnet dem freundlichen Lokalbesitzer und Patriarchen Semyon (Armin Mueller-Stahl), der seine Enkelinnen das Violinspiel lehrt, Anna von seinem selbstgekochten Borschtsch kosten lässt und ihr zusichert, das Tagebuch für sie zu übersetzen. Anfangs wähnt Anna, die selbst russische Wurzeln hat, die geruhsamen Weihnachtsfeiertage mit ihrer Mutte­r Helen (Sinéad Cusack) und ihrem störrischen Onkel Stepan (Jerzy Skolimowski) nicht gefährdet. Doch indes die Stimme der Verstorbenen aus dem Off in Tagebuchträumen schwelgt, ihre karge Existenz in einem Bergarbeiterdorf in Russland gegen ein Leben als gutbezahlte Barsängerin in London zu tauschen, enthüllt der parallel erzählte Fortgang der Story, wie diese Träume auf den Boden der Realität einer Mädchenhändlerbande zurückgestutzt wurden – Semyon und sein launisch-verspielter Sohn Kirill (Vincent Cassel) sind Mitglieder einer kriminellen Bruderschaft archaischer Prägung, in der weibliche Wesen nur als kleine Kinder, Huren und Greisinnen vorkommen. Der coole Chauffeur des Clans namens Nikolai (genial: Viggo Mortensen) spielt das „Mädchen für alles“. Es dauert nicht lange, bis er sich, undurchsichtig, lakonisch, als Puffer zwischen der hartnäckigen Anna und seinen mörderisch machoiden Herren in Stellung bringt. Cronenberg nutzt einen Thrillerplot, um vom Clash of Families zu erzählen: Vom Magnetismus zwischen Anna und Nikolai gelenkt, schieben sich zwei Figurendreiecke kalkuliert ineinander, und auf den Schnittflächen entsteht fast physikalisch messbare Reibung, die trotz einer im Vergleich zu früheren Arbeiten konventionelleren Erzählhaltung für Cronenbergs Kino charakteristisch ist.

Entkernte Fusion

Eines der vorrangigen Themen, an denen David Cronenberg sich die längste Zeit seines Schaffens abgearbeitet hat, ist die Fusion verschiedener (lebendiger) Arten und (filmischer) Gattungen. Was die Genres betrifft, ist sein Interesse ungebrochen, nach wie vor verschmelzen bei ihm Genrekino und Autorenfilm. Eastern Promises mischt Mafiathriller, Familienaufstellung, ein starkes Queer-Element und – wie so oft – Melodrama. Doch sind Cronenbergs „übernatürliche“ (anfangs bloß dem H­­orror-Genre zugeschlagenen) Szenenanordnungen in den letzten Jahren einem strengeren, wenngleich nicht weniger eigenwilligen „Realitäts“-Konzept gewichen. Verschmelzung, das hieß bei Cronenberg in den 80er Jahren etwas Radikales: Sei es die Fusion unzertrennlicher Erbinformationen von Zwillingen (in Dead Ringers, 1988), die Verschmelzung von Mensch und Tier (in The Fly, 1986), und jene von Mensch und Maschine (in Scanners, 1980, oder im einflussreichen Videodrome, 1982). Das Phantastische hat er bis vor kurzem wörtlich genommen. Noch in dem mit Videodrome verwandten eXistenZ kreuzt er via „Game Pod“ Mensch mit (sexuell konnotiertem) Modul, vermischt er die „reale“ Erzählebene mit den virtuellen Levels eines bionischen Computerspiels. Doch schon in Crash (1996) findet die Fusion von Mensch und Auto, von Prothese und Mensch nicht mehr metaphorisch in dem Sinn statt, als eine verbildlichte sprachliche Vorstellung in die Erzählhandlung integriert würde.

Und das Wort ist Fleisch geworden ist der Titel einer 1992 erschienenen, verdienstvollen Textsammlung über Cronenbergs Kino. Seit Spider (2002) findet sich der das Buch inspirierende „organische Horror“ Cronenbergs nur noch in Spurenelementen, haben seine gern auch als filmisches Pendant zur Struktur des Alptraums gelesenen Mutationsphantasien an Einfluss verloren. Ein Blick auf die veränderte Erscheinungsform von Faustfeuerwaffen in seinen Filmen veranschaulicht das im Detail: In der berühmtesten Szene von Videodrome verschmilzt eine Pistole im Bauch von Max Renn mit dessen Hand, wird also zum buchstäblich verlängerten Arm. In eXistenZ bastelt der Videogamer bloß noch aus Essensresten eine organische Schusswaffe. A History of Violence bringt gewöhnliche Pistolen zum Einsatz, und in Eastern Promises kommen gar keine Schusswaffen mehr vor. Mutationen des menschlichen Körpers wiederum, lange eine gut gezüchtete Obsession im Kino Cronenbergs, werden hier mit Tinte und Tattoonadel erledigt – also seinem derzeitigen Realitätskonzept entsprechend nicht einmal mehr subkutan.

Ein Christuskind

Versehrungen des Körpers fügt man in Eastern Promises einander mit dem Messer zu. Das passt zur Vorstellung eines alten Ehrenkodexes, der jedenfalls durch die Tätowierungen der ehemaligen Sträflinge manifest wird, und eignet sich als unmittelbare Form der Gewalt für Cronenberg trefflich: Sein Filmtext wird wie gewohnt auf den Ausgangspunkt der verwundbaren Physis zurückgeführt. Höhepunkt des Films in dieser Hinsicht ist eine sozusagen bestechend durchchoreografierte Kampfszenenfolge in einem Türkischen Dampfbad, wo der eben erst in der Hierarchie aufgestiegene Nikolai splitternackt zwei Häschern mit Krummdolchen ans Messer geliefert wird (insofern doch wieder buchstäblich). Fleisch klatscht auf Kacheln, Körper verkeilen sich, Tattoos tauchen in Blut – an der Wucht des Kampfes lässt sich der Grad aufgestauter Gewalt bestimmen. Die Messer der Angreifer versagen natürlich in ihrer Funktion als verlängerte Arme: Nikolai tötet den einen mit dem Dolch des jeweils anderen. Wie Tom in A History of Violence handelt er in Notwehr, in einem der Drastik der Bilder zuarbeitenden Notwehr-„Exzess“. Dass Nikolai den Nachnamen Lushin trägt, wie der tragische Titelheld aus Nabokovs Schachroman Lushins Verteidigung, ist ein Treppenwitz. Zum Bauernopfer taugt er nicht, eher bezwingt er den eigenen König.

Nach einem veritablen Storyturn kommt – in der Silvesternacht – das von Anna auf den Namen Christine getaufte Kindlein in den Fokus des Finales. Kann es sein, dass ausgerechnet an einer dunklen Uferecke der Themse der winzige, unschuldige Engelsleib Christines Kratzer erleiden muss? Cronenberg erzählt, das gilt für den kompakten Film insgesamt, in wenigen Sequenzen viel. In seiner typischen Melange aus narrativer Ökonomie und kühler Raffinesse (die Kamera führte erneut Peter Suschitzky) wird aus schwarzer Vergangenheit vielleicht lichte Zukunft. „Slaves give birth to slaves“, sagt Nikolai einmal. Das Melodrama des David Cronenberg steht dem entgegen.