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A Streetcar Named Desire

Marlon Brando

Ein Schauspieler namens Sehnsucht

| Marc Hairapetian |
Zum 100. Geburtstag von Marlon Brando.

 

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In den fünfziger Jahren zeigte sich Hollywood lernfähig. Aufgrund der neuen Konkurrenz durch das Fernsehen wollte man dem Publikum nicht nur formal mehr bieten, sondern griff auch die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen auf. Eine dieser Entwicklungen der „Traumfabrik“ betraf die Sichtweise auf die ehemaligen Gegner aus dem Zweiten Weltkrieg, vor allem die Japaner und die Deutschen. Ein Musterbeispiel für eine solche differenzierte Durchleuchtung alter Feindbilder ist Edward Dmytryks 1958 entstandene, epische Adaption von Irwin Shaws Roman „The Young Lions“ (1948). Seine Hauptfiguren sind zwei amerikanische Soldaten, ein Christ und ein Jude, sowie ein deutscher Offizier. In der literarischen Vorlage entsprach Letzterer dem Typus eines vom „Übermenschen“-Rausch der Nazis völlig überwältigten jungen Mannes, der mit geradezu brutaler Anmaßung durch die Handlung stürmt. Bei Dmytryk, der in der berüchtigten McCarthy-Ära zu den so genannten „Hollywood Ten“ gehörte und sich zunächst weigerte, vor dem „Ausschuss für unamerikanische Umtriebe“ Fragen über die bei ihm vermutete Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei zu beantworten (bis er dann doch noch einknickte), ist Leutnant Christian Diestl ein ursprünglich etwas weltunkundiger Naturbursche aus den bayerischen Bergen, der, von den nationalsozialistischen Parolen trunken, zum begeisterten Soldaten avanciert. Durch seine Begegnungen im Grauen der Kämpfe und Konzentrationslager kommt er allmählich zur Erkenntnis von dem Wahnsinn des Dritten Reichs und der Sinnlosigkeit des Krieges.

DER IDEALIST

The Young Lions ist der einzige Film, in welchem Montgomery Clift und Marlon Brando gemeinsam vor der Kamera stehen, wenngleich sie erst in der Schlusssequenz aufeinandertreffen. Brando legt Diestl als Träumer an, der in genau jenem Moment, als er – die Wahrheit begreifend – sein Maschinengewehr in hilfloser Wut zerschmettert, von einer feindlichen Kugel niedergestreckt wird. Die beiden Amerikaner, die ihn erschießen, sind keineswegs als Siegerfiguren dargestellt. Der eine, Michael Whiteacre (Dean Martin), ist ein Broadway-Schauspieler, der zuerst auf hundert Umwegen dem Militärdienst auszuweichen sucht, der andere, Noah Ackerman (Montgomery Clift), ist Jude, der sich im Trainingslager nur mit Aufbietung seiner letzten Kräfte gegen antisemitische Mobber in den eigenen Reihen durchsetzen kann.

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Der Film, mit in seinem denunzierenden Marsch-Rhythmus wohl einem der unerbittlichsten Scores, die jemals für ein Kriegsdrama geschrieben wurden (Komponist war Hugo Friedhofer), springt von Land zu Land, von Schlacht zu Schlacht, von Berlin nach Paris, von New York nach El Alamein. Es ist ein Film mehr über Menschen denn über Nationen, darin liegt seine besondere Qualität. The Young Lions verharmlost den Krieg nicht, hat keine Helden und kennt im Detail keine Kompromisse. Er zeigt, wie Männer in den Krieg hineingezogen werden, wie sie agieren und reagieren, sich verändern beziehungsweise wie sie zerbrechen. Mit der Rolle des Christian Diestl, für die er den Laurel Award erhielt, wollte der dafür hellblond gefärbte Marlon Brando der Welt im Allgemeinen und seiner amerikanischen Heimat im Besonderen zeigen, „dass nicht alle Deutschen im Krieg Monster waren“. Sein von der Identifikation mit dem Protagonisten geprägtes Method Acting ist von einem darstellerischen Niveau, das seine phänomenalen Leistungen als Stanley Kowalski in A Streetcar Named Desire (1951) und als Terry Malloy in On the Waterfront (1954), beide von Elia Kazan inszeniert, sogar noch übertrifft. Subtil unterspielt er große Gefühle und erzeugt damit maximale Wirkung.Man sieht Brando seine Nachdenklichkeit förmlich an, wenn er den Kopf leicht zur Seite legt, um den Schmähungen einer stolzen Französin (Liliane Montevecchi) zu lauschen, die die deutschen „Kriegsgötter“ verachtet, weil ihr Mann, der in der Résistance war, von ihnen hingerichtet wurde. Bereits im bloßen Zuhören wird hierbei der Funken einer Grenzen und Nationen überschreitenden Leidenschaft zweier junger Menschen füreinander entfacht. Die Frau entdeckt hinter Diestls auf Haltung bedachter Fassade einen weichen, zutiefst humanen Kern. Er wiederum begreift, dass er als arrogant auftrumpfender Besatzer bei ihr keine Chancen hat. Es ist eine Szene voll unterdrückter, aber auch anrührender Anziehung. Umso brutal-sinnloser erscheint Diestls Ende: Konfrontiert mit der Realität eines Konzentrationslagers, scheint er geläutert, stirbt jedoch wenig später einsam im Graben, weil er es versäumt, auf die Rufe eines US-Spähtrupps zu reagieren.Eigentlich wollte Brando den Filmtod mit ausgebreiteten Armen wie eine Christus-Figur am Kreuz erleiden, zur Vorbereitung ließ er sich etliche Male Oskar Werners Sterbeszene als gegen Hitler aufbegehrender Ritterkreuzträger in G. W. Pabsts Der letzte Akt (1955) vorführen. Doch Regisseur Dmytryk brachte ihn davon ab. Werner, der schon in Anatole Litvaks in deutschen Kriegstrümmern gedrehtem Film Decision Before Dawn (1951) als ehrbarer Verräter überzeugt hatte, war für die Figur Brandos übrigens die erste Wahl gewesen, musste allerdings absagen. Der gegenseitigen Wertschätzung der beiden unbeugsamen Genies tat diese Episode jedoch keinen Abbruch.

Bei der Pressekonferenz 1958 der Centfox zu The Young Lions in Berlin verblüffte der für seine Allüren bekannte US-Star die anwesenden Journalisten mit ausgesuchter Höflichkeit und „berlinerte“, als er nach seinen Deutschkenntnissen gefragt wurde, zu großem Gelächter eine Redewendung, die er zuvor im Hotel aufgeschnappt hatte. Kurz darauf wurde er ernster: „Ich muss Sie darauf hinweisen, dass unser Film sich im Wesentlichen vom Roman unterscheidet. Das Buch erschien in der ersten Nachkriegszeit, als die Karikatur des kaltblütigen, roboterhaften und hackenknallenden Heil-Hitler-Junkers noch in aller Welt in frischer Erinnerung war. In diesem Sinn ist die Tendenz der Story nicht mehr annehmbar. Wir änderten sie erheblich. Im Roman ist Christian ein Nazi. Im Film ist er es nicht. Er ist ein Idealist, ein Mensch mit sehr klaren und geraden moralischen Vorstellungen. Er glaubt, dass die alte Welt in immer neue Kriege gestürzt wird, wenn Europa sich nicht endlich zusammenschließt.“

DER REBELL

Auch 20 Jahre nach seinem Tod nennt man Marlon Brando (jr.) den Mann, der es liebt(e), Hollywood zu hassen. Der am 3. April 1924 in Omaha, Nebraska geborene und am 1. Juli 2004 in Los Angeles gestorbene Sohn eines Farmers und einer als dominant beschriebenen ehemaligen Schauspielerin bleibt ein einziges Paradoxon. Normal an ihm war nur, dass er sich nie „normal“ gab. Die Filmemetropole bezeichnete er als „Affenkotze in Aspik“, seine Exzesse sind legendär. „Warum soll ich mein Benehmen verteidigen?“, fragte Brando einmal hitzig zurück. „Die Menschen verstehen einen sowieso nicht. Die Fügsamkeit ist der Brutkasten der Mittelmäßigkeit. Warum soll ich mein Privatleben einem Protokoll unterordnen?“

Nach seinem Filmdebüt als querschnittgelähmter Veteran in Fred Zinnemanns The Men (1950) avancierte der ehemalige Erwin-Piscator-Schüler mit A Streetcar Named Desire und The Wild One (1953, wie The Men vom später auch als Regisseur stets politisch heiße Eisen anfassenden Stanley Kramer produziert), als gutaussehender Kotzbrocken zum „eversexed guy“ im engen T-Shirt, der ohne präzisen Grund alles und jeden verachtet und gerade dadurch unwiderstehlich wird. Außerdem war da noch sein Stammeln und Nuscheln (in den deutschen Fassungen von The Wild One und On the Waterfront über Sayonara, The Young Lions und Morituri bis zu The Chase und Reflections in a Golden Eye kongenial von Harald Juhnke synchronisiert), womit er den Regeln der klassischen Sprechausbildung zuwiderhandelte. In Arthur Penns lange unterschätztem Meisterwerk The Chase (1965) versucht er als texanischer Sheriff, die rassistische, weiße Kleinstadt-Meute davon abzuhalten, den jungen Robert Redford als fälschlicherweise des Mordes verdächtigten, entflohenen Sträfling sowie einen mit ihm befreundeten Schwarzen zu lynchen, und muss schwere Prügel einstecken. Die Szene, in der er von Wutbürgern zusammengeschlagen wird, gehört zu den eindringlichsten, aber auch entlarvendsten der Filmgeschichte.

Später verlieh Brando gebrochenen, dämonischen Charakteren Profil, wie dem größenwahnsinnigen Dschungel-Despoten Colonel Kurtz in Francis Ford Coppolas frei auf Joseph Conrads Novelle „Heart of Darkness“ (1899) basierendem Vietnamdrama Apocalypse Now (1979). Unvergesslich auch sein Paul in Bernardo Bertoluccis Ultimo tango a Parigi (1973), der sich nach dem Tod seiner Gattin mit einer jungen Frau (Maria Schneider) auf eine vorerst rein sexuelle Affäre einlässt. Nachdem er nicht akzeptieren kann, dass sie die Liaison beenden will, fühlt sie sich von ihm bedroht und zieht eine Pistole. Er fragt sie nach ihrem Namen. Doch noch während sie „Jeanne“ sagt, schießt sie auf ihn. Tödlich getroffen nimmt er mit einem unnachahmlich gequälten Grinsen ein Kaugummi aus dem Mund, klebt es unter das Balkongeländer und bricht zusammen.

Der Prototyp des amerikanischen Rebellen brachte dutzendweise Regisseure zur Verzweiflung: Stanley Kubrick stieg 1959 nach einjähriger Vorbereitung beim Western One-Eyed Jacks aus, so dass Brando diesen selbst vollenden musste. Mit Bernhard Wicki wäre es bei Morituri (1965) beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen. Und bei seiner Sterbeszene im gefloppten, darstellerisch wie auch optisch und musikalisch allerdings überragenden, im extremen Breitfilm-Format Ultra Panavision 70 gedrehten Remake von Mutiny on the Bounty (1962) bestand er gegenüber Regisseur Lewis Milestone darauf, auf einem Bett aus Eisblöcken zu liegen, weil er nur so glaubhaft zittern könnte. Später avancierte Brando zum liebenswert-besonnenen Kollegen, der Partys für die Crew gab, Rolex-Armbanduhren verschenkte und die Anwesenden am Set mit kleinen Zaubertricks unterhielt.

DIE INSEL

In seinen letzten Jahren ließ sich der Tierfreund und Familienvater, der neun leibliche Kinder zeugte und zwei weitere adoptierte, nur noch selten in der Öffentlichkeit blicken. Entweder lebte er auf dem von ihm 1963 gepachteten Pazifik-Atoll Tetiaroa, das zu den Gesellschaftsinseln von Französisch-Polynesien gehört, oder in einer von der Außenwelt abgeriegelten Zwölf-Zimmer-Villa am Mulholland Drive. Es war dies die Folge einer ganzen Kette von Tragödien in seinem Leben, an denen ihn wohl auch ein nicht unerheblicher Teil der Schuld traf. Seine Tochter Cheyenne beging Selbstmord. Eine Ex-Frau versuchte ebenfalls, sich das Leben zu nehmen. Eine Schwiegertochter fand bei einem Verkehrsunfall den Tod. Sohn Christian, der aus der Verbindung mit Anna Kashfi stammte, verbüßte wegen Ermordung von Dag Drollet – des Freundes seiner Halbschwester Cheyenne – eine fünfjährige Haftstrafe. 2008 starb er 49-jährig an einer doppelten Lungenentzündung, dreieinhalb Jahre nach seinem berühmten Vater. „Was passiert ist, hat nicht nur Dag das Leben gekostet, sondern auch Christians Leben ruiniert und meinen Vater erschüttert“, sagte Miko Brando, der mittlerweile 63-jährige Sohn aus der Ehe von Marlon Brando mit seiner Kollegin Movita Castaneda (1916–2015) in einem Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen: „Ich war für meinen Vater da, weil er mich brauchte, um stark zu sein, als er es nicht konnte.“

Mit wenigen Ausnahmen hielt der im zunehmenden Alter im Wortsinn immer schwergewichtigere Akteur (zwischen 120 und 190 Kilogramm brachte er bei 175 Zentimeter Körpergröße in Zeiten ungezügelter Fressorgien auf die Waage) selbst nicht viel vom Beruf Filmschauspieler: „Rembrandt, Beethoven, Shakespeare und Rodin waren Künstler; Schauspieler sind die Arbeiterameisen in einem Business, und sie rackern sich für Geld ab. Der größte Schauspieler der Welt ist mein Hund. Wenn er Hunger hat, tut er so, als ob er mich liebt.“ Er mochte sich selbst als gewöhnliche Ameise betrachten – für unzählige Kollegen und Kritiker ist er auch über seinen Tod hinaus immer noch der „Herr der Ameisen“. 1995 wurde Brando vom Magazin „Time Out“ als „bester männlicher Darsteller in der 100-jährigen Geschichte des Films“ ausgezeichnet. Seine eigene Abneigung gegen seinen Beruf mag sich darin erklären, dass er sich des Gefühls nicht erwehren konnte, es wäre eines erwachsenen Menschen unwürdig, ständig in die Haut anderer zu schlüpfen: „Es ist ein Zeichen von Reife, wenn man diesen Beruf aufgibt.“ Deswegen stand er immer seltener vor der Kamera.

Mut zur Selbstironie bewies er als Psychiater in Don Juan DeMarco (1995) oder als alternder Einbrecherkönig an der Seite von Edward Norton und Robert de Niro in The Score (2001). Großteile seiner enormen Gagen – für seinen Miniauftritt als Vater von Superman erhielt er 1978 sage und schreibe 1,85 Millionen Dollar pro gefilmter Minute – ließ er wohltätigen Stiftungen, Menschenrechts-Bewegungen und antirassistischen Aktionen zukommen. Seinen zweiten Oscar (den ersten erhielt er 1955 für die Rolle des Terry Malloy in On the Waterfront), jenen für das von ihm „wie eine Bulldogge“ – Brando trug zu diesem Zweck während des Drehs ein von einem Zahntechniker individuell angefertigtes, seine Wangen vergrößerndes Mundstück – verkörperte Familien- und Mafia-Oberhaupt Don Vito Corleone in Coppolas The Godfather (1972), nahm er 1973 aus Protest gegen die klischeehafte Darstellung von amerikanischen Ureinwohnern in Hollywood-Filmen sowie als Solidaritätsgeste mit den Protestierenden der Wounded Knee Occupation in South Dakota nicht an.

Auf seinem Inselparadies im Südpazifik finanzierte Brando mit Millionen von Dollar die Erforschung neuer Energiegewinnung. Mit Unterwasserkulturen versuchte er, der Ernährungsmisere beizukommen. Es war sein Rückzugsgefecht mit der Welt. Doch wer war Marlon Brando wirklich? Vielleicht ein Schauspieler namens Sehnsucht. Für Miko Brando, der den einstigen Wohnsitz auf dem Tetiaroa-Atoll in das Urlaubs-Resort „The Brando“ mit umgewandelt hat, dagegen in erster Linie ein fürsorglicher Vater: „Er liebte es, Spaß zu haben, liebte es zu lachen, liebte es, Witze zu erzählen. Er hat nie etwas Schlechtes über meine Mutter gesagt, obwohl sie sich trennten, als ich noch ein Baby war.“ Marlon Brando sah seinen Beruf stets kritisch: „Ich weiß bis heute nicht, ob ich Schauspieler werden will“. Bei aller Bewunderung und Liebe für ihn möchte man postum dagegenhalten: Es ist auch gar nicht entscheidend, ob er es wusste oder nicht.