Ridley Scott hat sich als einer der großen Erzähler des Weltkinos etabliert – vermehrt greift er dabei Stoffe mit realem Hintergrund auf.
An einem kalten Dezembertag im Jahr 1386 stehen sich die beiden Edelleute Jean de Carrouges und Jacques Le Gris gegenüber, um einen erbitterten Streit mittels eines Zweikampfs zu entscheiden. Marguerite, Ehefrau von Jean de Carrouges hat nämlich Le Gris beschuldigt, sie missbraucht zu haben. Weil der jedoch die Vorwürfe bestreitet, bedient man sich einer eher archaischen Methode der Wahrheitsfindung: Vor den Augen des Königs, seines Hofstaats und einer großen Anzahl Schaulustiger kommt es vor den Toren von Paris zu besagtem Duell, das einem simplen Regulativ folgt: Der Sieger behält Recht, der getötete Widersacher ist schuldig. Und sollte Jacques Le Gris als Gewinner hervorgehen, hätte – der inneren Logik dieses Verfahrens folgend – Marguerite falsche Anschuldigungen erhoben und würde auf der Stelle den Tod am Scheiterhaufen erleiden.
Ridley Scott hat sich dieser auf tatsächlichen Begebenheiten beruhenden Geschichte um den letzten rechtlich sanktionierten Kampf – eine Art von „Gottesurteil“ – in Frankreich mittels The Last Duel angenommen. Nun macht schon die dramaturgische Form deutlich, dass es Scott bei seiner neuen Regiearbeit nicht primär um eine historisch akkurate Rekonstruktion der Ereignisse geht. Denn nach der Eröffnungssequenz mit dem eingangs beschriebenen Zweikampf blendet The Last Duel zurück und schildert – ähnlich wie Kurosawas Rashomon – die Ereignisse, die dorthin geführt haben – und zwar jeweils aus der Perspektive der drei Protagonisten, die differierende Betrachtungen des Geschehens haben. Auch wenn Ridley Scotts Fokus deutlich darauf liegt, welche Schwierigkeiten die Suche nach der „Wahrheit“ naturgemäß mit sich bringt, zählt eben auch The Last Duel zu jenen Filmen von Scott, die auf realen Ereignissen basieren. Dass der Regisseur, der einen guten Teil seiner Popularität Arbeiten aus dem Sci-Fi-Genre wie Alien, Blade Runner oder The Martian verdankt, des Öfteren auf „True Stories“ zurückgreift, mag überraschen, doch ein Blick auf Scotts Œuvre lässt an einer gewissen Affinität für reale Hintergründe keinen Zweifel aufkommen.
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Konzepte der Annäherung
In der Dokumentation Accused: Trial in the Outback, die den aufsehenerregenden Fall um ein Baby, das 1980 nahe des australischen Wahrzeichens Ayers Rock von einem Dingo verschleppt wurde, beleuchtet, kommt auch Fred Schepisi zu Wort, der 1988 dem Drama – die Behörden glaubten die Version von der Dingo-Attacke zunächst nicht, die Eltern des Babys wurden beschuldigt, für dessen Tod verantwortlich zu sein und fanden sich vor Gericht wieder – in dem Spielfilm A Cry in the Dark nachging. Schepisi musste dabei die grundsätzliche Entscheidung treffen, sich eng an die Fakten zu halten oder den Fokus mehr auf die emotionale, psychologische Verfasstheit der Protagonisten zu richten, um so – wie Schepisi es formulierte – einer größeren, universelleren Wahrheit näher zu kommen (Der Regisseur entschied sich für die erstgenannte Variante und setzte A Cry in the Dark, insbesondere was die Gerichtssaalsequenzen angeht, mit dokudramatischer, beinahe spröde anmutender Genauigkeit in Szene).
Nun zählt Ridley Scott nicht zu jenen, die sich ihren ausgewählten Sujets mit der von Schepisi angesprochenen nüchternen Sachlichkeit annähern. Scott ist zunächst einmal ein Filmemacher, der mit ausgeprägten visuellen Konzepten arbeitet. Ein gestalterischer Zugang, der auch in Scotts Ausbildung – er graduierte im Fach Design am West Hartlepool College of Art und studierte anschließend Grafikdesign am Royal College of Art in London – und seiner langjährigen Arbeit als höchst erfolgreicher Regisseur von Werbefilmen begründet sein dürfte. Erst im Alter von 40 Jahren drehte Scott mit The Duellists (1977) seinen ersten Spielfilm, der auch wegen seiner ausgeprägten visuellen Stilsicherheit reichlich Kritikerlob bekam und den Weg für weitere Projekte ebnete.
Scott hat sich im weiteren Verlauf seiner illustren Karriere als veritabler Geschichten-Erzähler im geradezu klassischen Sinn erwiesen, der es versteht, seinen Regiearbeiten ein spezifisches visuelles Erscheinungsbild zu geben, um so der jeweiligen Narration die höchstmögliche Effektivität zu verleihen. Ein konzeptioneller Zugang, der sich schon bei zuvor erwähnten Filmen wie Alien und Blade Runner – deren Bildgestaltung als durchaus stilbildend bezeichnet werden kann – zu kongenialen Ergebnissen geführt hat und Ridley Scotts Ruf als stilistisch elaborierter Regisseur begründete. Die visuelle Ebene spielt jedoch keineswegs nur bei der Kreation fantastischer Welten eine zentrale Rolle, sondern auch bei der Bearbeitung höchst realer Stoffe wie etwa in American Gangster (2007).
Im Mittelpunkt steht dabei der von Denzel Washington gespielten Frank Lucas und sein Aufstieg zu einem der größten Drogenhändler in den Vereinigten Staaten in den siebziger Jahren. Die furiose Mischung aus Biopic und Krimi stützt sich dabei auf eine klassische Konstellation, was seine Hauptfiguren angeht. Das von Steve Zaillian verfasste Drehbuch etabliert dabei als Gegenspieler von Lucas den Ermittler Richie Roberts (Russell Crowe), ein ebenfalls auf einer realen Person basierender Charakter. Um diese beiden Antagonisten – der ebenso gewiefte wie brutale Kingpin Lucas auf der einen Seite, der unbeirrbare, mit akribischer Zähigkeit agierende Cop Roberts auf der anderen – setzt Scott die Krimihandlung geradlinig in Szene. Darum herum generiert die Inszenierung auch ein höchst präzises, authentisch erscheinendes Porträt New Yorks – und der Vereinigten Staaten – der ausklingenden sechziger und siebziger Jahre. Auch die Kameraarbeit von Harris Savides, der das New York jener Tage in sepiafarben anmutende Bilder taucht, trägt entscheidend zur atmosphärischen Dichte bei, die wohl nicht zufällig auch Assoziationen mit stilbildenden Genrearbeiten wie The French Connection oder Across 110th Street – Bobby Womacks gleichnamiger Song findet auch bei American Gangster Verwendung – hervorruft. Über diese Form des „Period Piece“ verweist Scotts Inszenierung aber auch auf jenes Element in der Geschichte von Frank Lucas, das über die Biographie eines Verbrechers hinausreicht. Sein Aufstieg spiegelt nämlich auch das im Zuge der gesellschaftspolitischen Umwälzungen, die sich in den sechziger Jahren vollzogen, wachsende Selbstbewusstsein der African-Americans wider, die sich nicht mehr mit den ihnen von der – überwiegend weißen – Gesellschaft zugewiesenen Positionen zufrieden geben wollten. „You represent progress“, merkt Richie Roberts im Verlauf einer Vernehmung an, als er Lucas, der seine Rolle herunterzuspielen versucht, darauf verweist, warum er sich Feinde unterschiedlichster Provenienz gemacht hat. Nun mag der Aufstieg zum Drogenbaron nicht das sein, was der Bürgerrechtsbewegung als Karriereweg vorgeschwebt sein mag, doch Frank Lucas konsequent widersetzte sich – so diskutabel die Art und Weise, wie er dies tut, auch sein mag – jeder Form der Unterordnung. American Gangster setzt dann auch nicht zufällig an jenem Punkt im Leben von Frank Lucas ein, an dem sein steiler Aufstieg seinen Anfang nimmt. 1968, nach dem Tod des in Harlem agierenden Gangsterbosses Ellsworth „Bumpy“ Johnson, dem Lucas jahrelang als Fahrer und Handlanger zur Seite gestanden hatte, entschließt sich dieser sich, aus den hinteren Rängen hervorzutreten – und das im ganz großen Stil. Um seine eigene kriminelle Organisation zu etablieren, beschließt Lucas, die sonst üblichen Zwischenhändler zu umgehen, Heroin direkt in Südostasien einzukaufen und das Rauschgift in die Vereinigten Staaten zu schmuggeln – mit Hilfe korrupter, in Vietnam stationierter Soldaten der U.S.-Army. Der dadurch wachsende Erfolg seiner illegalen Aktivitäten bringt Frank
Lucas bald in eine Reihe von Konflikten mit so unterschiedlichen Parteien wie der Mafia und bestechlichen Gesetzesvertretern.
Ridley Scott und Drehbuchautor Zaillian mögen sich entlang der Biographie von Frank Lucas die eine oder andere narrative Freiheit genommen haben, doch in ihrer Version wird die Geschichte nicht nur eine höchst formidable Genrearbeit, American Gangster versteht es auch vortrefflich, auf politische und soziale Vorgänge in der US-amerikanischen Gesellschaft dieser Zeit zu verweisen. Neben den bereits angesprochenen gesellschaftlichen Umbrüchen zählen das in den siebziger Jahren evidente Problem der Korruption innerhalb der Polizei ebenso dazu wie das allgegenwärtigen Trauma des Vietnam-Kriegs. Aber auch die hemmungslose Gier materieller Natur, die in den achtziger Jahren zu einer Art Credo werden sollte, wirft bereits ihre Schatten voraus. Scotts American Gangster zeigt aber auch jene furchtbaren Auswirkungen der von Frank Lucas mit ausgelösten Drogenflut, die vor wenigen Jahren Dana Hathaway, jene Richterin, die der Berufungsverhandlung des als „White Boy Rick“ bekannt gewordenen Drogendealers Rick Wershe vorstand, ein ernüchterndes Fazit ziehen ließ: „We fought the war on drugs – and the drugs have won.“
Universelle Gültigkeit
Ridley Scott hat sich mit seinem Œuvre als einer der großen Erzähler des Weltkinos etabliert, seine Virtuosität stellt er anhand höchst unterschiedlicher Sujets unter Beweis: Der Bogen spannt sich dabei von Sci-Fi (Alien, Blade Runner, Prometheus), Historienfilm (The Duellists, Gladiator), Thriller (Someone to Watch Over Me, The Counselor), Kriminalfilm/Thriller (Black Rain) bis hin zur Komödie (A Good Year).
Auch bei auf wahren Begebenheiten basierenden Regiearbeiten dienen die realen Ereignisse manchmal bloß als Ausgangspunkt. Im Fall von zeitlich weit zurückliegenden Ereignissen wie der Entdeckung Amerikas (1492: Conquest of Paradise) oder den Kreuzzügen des 12. Jahrhunderts (Kingdom of Heaven) liegt es auf der Hand, dass der historische Kontext vor allem den Hintergrund für die von Ridley Scott entwickelte Narration bildet, die sich mehr auf universelle Schlussfolgerungen als akkurate Rekonstruktionen konzentriert. Aber auch White Squall (1996) nimmt die „True Story“ eines Schiffsuntergangs primär als Vorlage, um eine Dramaturgie zwischen Katastrophensituation und Coming-of-Age-Motiven effektvoll zu generieren.
Die Verfilmung eines Kriminalfalls, der großes Aufsehen erregte und im kollektiven Gedächtnis verankert ist, geriet hingegen erstaunlicherweise zu einer der wenigen nicht ganz so feinen Arbeiten von Ridley Scott. In All the Money in the World (2017) greift Scott die Entführung von John Paul Getty III, der 1973 in Italien von einer kriminellen Organisation gekidnapped wurde, auf. Die Verhandlungen um dessen Freilassung zogen sich auch deshalb in die Länge, weil J. Paul Getty, der Großvater des Entführten, wochenlang um die Höhe des Lösegelds – das der milliardenschwere Ölmagnat mühelos hätte bezahlen können – feilschte. Erst als die Entführer ihrem Opfer ein Ohr abschneiden, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, lässt sich Getty eine Zahlung abringen – die allerdings genau jene Summe nicht übersteigt, die steuerlich absetzbar ist. Dass All the Money in the World, der über die True-Crime-Geschichte hinaus Motive um Gier, Entfremdung und Macht behandelt, merkwürdig unfokussiert und streckenweise sogar erratisch erscheint, mag einem unerwarteten Hindernis, das im Verlauf der Dreharbeiten auftauchte, geschuldet sein. Kevin Spacey, der J. Paul Getty spielte, wurde nach dem Auftauchen mittlerweile hinlänglich bekannter Vorwürfe von der Produktion zurückgezogen, alle bislang mit ihm fertig gestellten Szenen mussten mit dem für Spacey einspringenden Christopher Plummer nachgedreht werden.
Ein wahre Geschichte, die ebenfalls in High-Society-Kreisen spielt, sich auch um Macht, Einfluss und Geld dreht und in einem Verbrechen mündet, steht übrigens auch im Zentrum von Ridley Scotts demnächst anlaufendem Biopic/Drama House of Gucci, das die Ermordung Maurizio Guccis im März 1995 im Blickpunkt hat.
Ein wunderbares Beispiel für die Strategie, mit der Ridley Scott die fiktionalisierte Umsetzung realer Begebenheiten in Angriff nimmt, findet sich mit Black Hawk Down (2001). Das von Ken Nolan verfasste Skript basiert auf dem Buch „Black Hawk Down: A Story of Modern War“, in dem der Journalist Mark Bowden die militärische Operation um den titelgebenden Absturz eines Black-Hawk-Helikopters nachzeichnet. Die im Rahmen einer UN-Mission, die die Ruhe im vom Bürgerkrieg zerrütteten Somalia sichern soll, stationierten US-Truppen planen im Oktober 1993 einen riskanten Einsatz. Mittels Informanten vermeint man, den Aufenthaltsort von Mohammed Farah Aidid zu kennen, mit einem überraschenden Zugriff durch Spezialeinheiten soll der berüchtigte Warlord mitten in der somalischen Hauptstadt Mogadischu gefangen genommen werden. Zunächst verläuft der Einsatz plangemäß, die Truppen können zwar einige Vertraute Aidids festsetzen, doch die eigentliche Zielperson ist nicht mehr zugegen. Beim Abzug geraten die Soldaten ins Visier somalischer Milizen, ein Black-Hawk-Hubschrauber wird abgeschossen und stürzt mitten in Mogadischu ab. Die daran anschließenden Versuche, die überlebenden Besatzungsmitglieder zu bergen, bilden den Nukleus von Black Hawk Down. Die Rettungsmission droht nämlich zu einem Desaster für die US-Truppen zu werden. Im Straßenlabyrinth von Mogadischu sehen sich die US-Truppen immer heftigeren Angriffen durch die Milizen ausgesetzt, anstatt ihren abgestürzten Kameraden Hilfe zu leisten, wird der Einsatz immer mehr auf einen Kampf um das eigene Überleben reduziert. Scotts Inszenierung zeichnet dies als furioses, rasant montiertes, nicht enden wollendes Gefechtsszenario, das kaum eine Atempause gewährt und den zunehmenden Druck, dem die Soldaten ausgesetzt sind, geradezu spürbar macht. Selbst ausgewiesene Spezialkräfte wie die legendäre Delta Force sind verloren im Dschungel der Großstadt Mogadischu, der von Sam Shepard gespielte General William F. Garrison muss sich in seiner hochtechnisierten Kommandozentrale beinahe hilflos vergegenwärtigen, dass er und seine Männer die Kontrolle verlieren. Die Kampfhandlungen in den verwinkelten Gassen und Straßen werden nach und nach zu einem gnadenlosen Schlachten – Ridley Scott macht das in drastischen Bildern deutlich –, das zu einem Sinnbild für das Scheitern militärischer Interventionen der Vereinigten Staaten wird. Der unlängst erfolgte ruhmlose Abzug aus Afghanistan erscheint da wie eine hochaktuelle Bestätigung. Auch wenn Black Hawk Down naturgemäß nicht die Komplexität der damaligen Situation in Somalia aufarbeitet – was auch gar nicht die Aufgabe eines fiktionalen Films sein kann – ist Scotts Auslegung der Wirklichkeit eine, die über ein immersives Filmerlebnis hinaus unter die Haut geht und im Gedächtnis bleibt. Fred Zinnemann kommentierte einmal seine Arbeit, die bekanntermaßen Klassiker wie High Noon, From Here to Eternity, The Nun’s Story, A Man for All Seasons und The Day of the Jackal beinhaltet, mit ein wenig Understatement: „Ich wollte immer nur Geschichten erzählen – und habe manchmal dabei ein Stückchen Wahrheit gefunden.“ Den Satz kann man auch bezüglich Ridley Scott stehen lassen.