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Eine Sekunde

| Marc Hairapetian |
Cinema Paradiso zur Zeit der Kulturrevolution: Zhang Yimous systemkritische Tragikomödie

„Wie ist die Filmrolle in ihre Hände gelangt?“, fragt der „Kino-Onkel“ (Fan Wei) den aus dem Arbeitslager geflüchteten Zhang Jiusheng (Zhang Yi). Dieser entgegnet eingeschüchtert: „War es falsch von mir, Ihnen die Rollen zurückzubringen?“ „Nein, natürlich nicht.“, pflichtet der Filmvorführer ihm bei, doch als waschechter Kommunist ermahnt er ihn auch: „Gute Genossen sollten gute Taten erklären.“ Das ist eine der Schlüsselszene in Zhang Yimous lang erwartetem Leinwandepos Eine Sekunde, bei dem der ehemalige Kameramann in der Reduzierung auf das Wesentliche zu seinen eigenen Anfängen wie Rotes Kornfeld (1987) zurückkehrt, aber auch dem analogen Kino zur Zeit der Kulturrevolution an sich und überhaupt eine Liebeserklärung erweist.

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In den sechziger Jahren begibt sich der oben zitierte entflohene Sträfling im abgeschiedenen Nordwesten Chinas auf die Suche nach einer Wochenschau-Filmrolle, die Aufnahmen seiner verschollenen Tochter enthält. Bei seiner Ankunft in einem nahe gelegenen Dorf trifft er auf das Waisenmädchen Liu (Liu Haocun), das ebenfalls verzweifelt nach der Rolle fahndet und sie mit allen Mitteln stehlen will. Die rätselhafte Filmkopie, die sie erst zu erbitterten Feinden macht, wird bald zur Quelle einer unerwarteten Freundschaft. Eine Sekunde ist eine Art Cinema Paradiso (1988), angesiedelt während der Kulturrevolution.

Seine Weltpremiere sollte Zhangs Film bereits 2020 bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin feiern, wurde dann aber kurzfristig zurückgezogen, wegen angeblicher technischer Schwierigkeiten in der Postproduktion. Technische Probleme? Wohl eher künstlerisch-politische, welche die Regierungsoberen der heutigen Volksrepublik China mit dem erstaunlich systemkritischen Blick zurück in ihre eigene Vergangenheit hatten. Die wenigen Dialoge der die meiste Zeit wie ein Stummfilm inszenierten Tragikomödie haben eingangs zitiert subversive Qualität. Nach der Novelle von Yan Gelang, die selbst in der Volksbefreiungsarmee diente, fertigte Zhang Yimou zusammen mit Zou Jingzhi und Beraterin Zhou Xiaofeng das Drehbuch an. Erst 2021 wurde die Abrechnung mit dem Maoismus schließlich wieder aus dem Giftschrank geholt und eröffnete, mittlerweile um eine Minute gekürzt, das Filmfestival von San Sebastian, lief anschließend in Toronto und Zürich und auch beim Berliner Arthouse Filmfestival “Around the World in 14 films”.

Mit atemberaubenden Aufnahmen aus der Wüste Gobi entlang der Seidenstraße in Westchina (Kamera: der 2004 durch House of Flying Daggers berühmt gewordene Zhao Xiaoding), die an Zhangs wohl größtes Meisterwerk, den philosophischen Wuxia-Action-Blockbuster Hero (2002) erinnern, ist eine herzerwärmende und humorvolle Hommage an die die Macht des Kinos, sowohl auf persönlicher als auch auf gemeinschaftlicher Ebene entstanden. Am beeindruckendsten ist die zehnminütige Sequenz, wenn der „Kino-Onkel“ genannte reisende Filmvorführer die Dorfbewohner anweist, die verschmutzte Filmrolle des Propagandastreifens Heroische Söhne und Töchter zu reinigen. Mühevoll tun dies die Leute der Dorf-Brigade, für die das Filmprogramm auf Tour ist, mit destilliertem Wasser, um die verschmutzten Zelluloid-Streifen, die durch eine Unachtsamkeit des Sohnes des Filmvorführers im Wüstensand gelandet und durcheinander geraten waren, wieder einsatzbereit zu machen. In diesen Szenen der Solidarität, bei denen der zuvor den „Kino-Onkel“ mit einem Messer bedrohenden Zhang Jiusheng tatkräftig mithilft, ist der real existierende Sozialismus kommunistischer Prägung doch kein leerer Wahn.

Am Ende wird der Vater, der alles dafür tut, seine 14-jährige Tochter, die nur eine winzige Sekunde in der Wochenschau zu sehen ist, auf der großen Leinwand zu bewundern, zusammengeschlagen und zurück ins Lager gebracht, wo er noch zwei Jahre in Haft bleibt. Vorher steckt ihm „Kino-Onkel“, der ihm zuvor bei der Dorf-Brigade denunziert hat, noch den Schnipsel Zelluloid mit zwei Einzelbildern seiner Tochter aus dem Film zu. Der Streifen geht aber seinem Abtransport verloren: Vom Winde verweht findet er ihn mit Liu, die er nach seiner Freilassung aufsucht, natürlich in der Wüste Gobi nicht mehr wieder…

Das ambivalente Verhältnis zwischen „Kino-Onkel“ und Sträfling wird von Fan Wei und Zhang Yi, dem Star aus Dante Lams Kriegsepos Operation Red Sea hervorragend herausgearbeitet. Bei allen Unterschieden sind sie doch beide Väter und haben Verständnis für die Situation des anderen. Die Entdeckung von Eine Sekunde ist allerdings Liu Haocun in der Rolle des Waisenmädchens mit der wuscheligen Momo-Frisur. Sie kümmert sich rührend um ihren kleinen Bruder und sehnt sich bei aller Wildheit nach einer Vaterfigur, die Zhang Yi am Ende für sie ist. Inzwischen hat Liu in zwei Jahren sechs weitere Filme in China gedreht.